"Unsere Zukunft hängt davon ab, dass wir nicht in Unkenntnis der Vergangenheit die Zukunft versuchen."

Ludwig Freiherr von Hammerstein

„Unsere Zukunft hängt davon ab, dass wir nicht in Unkenntnis der Vergangenheit die Zukunft versuchen.“

Vortrag von Ludwig Freiherr von Hammerstein am 18. Juli 1993 in der Kirche zu Bornstedt, Potsdam

Herr Pfarrer Kunzendorf, Herr Bürgermeister, Herr Gemeindevorsteher, ich darf Ihnen sehr danken, dass ich hierher eingeladen worden bin.

Ich bin voller Bewunderung, dass eine solche Veranstaltung bereits seit zehn Jahren hier stattfindet, also längst vor der Wende. Ich darf den Dank auch im Namen der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“ aussprechen. Wir haben immer davon gehört, vor ’89, aber insbesondere ich selber konnte damals noch nicht ohne weiteres hierher kommen. Als alten Intendanten des „Rias Berlin“ hätte man mich hier von gewisser Seite nicht so gern gesehen.

Nun bin ich als Zeitzeuge geladen und bin kein Historiker, aber möchte mit dem Zitat eines Historikers beginnen, das ich vor ein paar Tagen, anlässlich des 70. Geburtstages dieses Historikers (Karl Ottmar von Aretin), in der Zeitung fand: „Unsere Zukunft hängt davon ab, daß wir nicht in Unkenntnis der Vergangenheit die Zukunft versuchen“. Wie ich es las, dachte ich gleich, das musst du hier an diesem Platz sagen, und ich freue mich, dass Frau von Aretin hier ist.

Nun zu den Ereignissen:

Ich darf beginnen mit einem Tag vor über fünfzig Jahren. Am 25. Februar 1943 kam ich von Berlin nach Potsdam. Ich war ein junger Leutnant, im Feldzug in Russland schon so verwundet, dass ich nicht mehr felddienstfähig war, und deswegen hatte ich das Glück, zum Studium kommandiert zu sein. Aber ich wurde immer von dem Ersatzbataillon 9 Potsdam – ich war ja ausgebildet und eingetreten im Januar 1940 – eingeladen zu den Casinoabenden. Und diese Treffen im Casino waren in jeder Beziehung für die Anwesenden nützlich, um nicht zu sagen wertvoll. Es wurden sehr gute, auch kritische Vorträge gehalten, und man traf alte und neue Kameraden. An diesem Tage traf ich Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg, der auch regelmäßig kam, weil er auch in Berlin beschäftigt war, ich glaube, im Reichsinnenministerium Reserveoffizier des Regiments 9 war. Er nahm mich im Verlauf des Abends einmal beiseite und sagte: „Hammerstein, sind Sie bereit, an einer Aktion gegen den Führer teilzunehmen?“ Ich war etwas erstaunt, er machte das kurzbündig, erläuterte gar nichts dabei, und ich sagte ebenso kurz: „Natürlich mach ich“. Er sagte dann: „Dann sorgen Sie dafür, dass Sie noch mehr junge Offiziere, die die gleiche Haltung wie Sie haben, zusammenbringen, denn wir haben zu wenig.“ Das war alles.

Ich überlegte mir dann, wie kommt dieser Fritzi Schulenburg – wie wir ihn nannten – dazu, mir so knapp und kurz eine solche Frage zu stellen. Aber ich erinnerte mich daran, dass ich ja schließlich den Namen Hammerstein trüge und er natürlich wusste, dass ich der Sohn des Generals und früheren Chefs der Heeresleitung war, und dieser galt in allen Kreisen der damaligen Opposition als einer der entschlossensten Gegner des Naziregimes und Hitlers. Deswegen war es also gar nicht überraschend, und ich selber, ich war damals 23 Jahre alt, hatte aber schon mit offenen Augen und offenen Ohren die Jahre der Nazizeit miterlebt, die Erschießung des Generals von Schleicher hier in Babelsberg, des Generals von Bredow, die Anstrengung meines Vaters, die Heeresführung und den Reichskriegsminister von Blomberg dazu zu bewegen, einzuschreiten, sich das nicht gefallen zu lassen. Dann die Ereignisse im Jahre 1938. Ich war damals im Herbst im Reichsarbeitsdienst und kriegte keinen Urlaub, durfte nicht zum 60. Geburtstag meines Vaters fahren, aber ich bekam einen Brief meiner Mutter, der mir diesen Tag beschrieb und sagte, wer alles da gewesen ist: General Halder, der damals die Geschäfte des Generalstabs führte, Beck war ja schon zurückgetreten, General von Stülpnagel, Oberquartiermeister Eins, der hier auch in Potsdam mit seiner Familie wohnte. Seine Familie ist dann nach dem 20. Juli hier verhaftet worden und hat eine Zeit lang hier im Stadtgefängnis gesessen. Ich sagte dazu, die Herren denken so wie wir, sie werden nicht marschieren, wenn es soweit ist.

Nun, wir wissen alle, es kam nicht dazu, weil Großbritannien und Frankreich einlenkten, weil sie Hitler entgegenkamen. Es kam zum Münchner Abkommen, damit war diese Chance verpasst. Ich erwähne das hier, weil damals die Bevölkerung ganz allgemein gegen einen neuen Krieg eingestellt war. Der Erste Weltkrieg war allen noch im vollen Gedächtnis, und man wollte nicht schon wieder einen neuen haben. Es wäre die Gelegenheit gewesen, Hitler, bevor er einen Zweiten Weltkrieg begann und dabei auch noch – zu Anfang wenigstens – einigen Ruhm erlangte, zu stoppen. Es wäre uns allen und der Welt viel erspart geblieben.

Ich erinnere mich dann weiter, ich habe Gespräche gehört, die stattgefunden haben zwischen meinem Vater, General Beck und General Wilhelm Adam, alle drei zu Beginn des Krieges herausgeschmissene Generalobersten.

Das hat mich wohl veranlasst, am 5. September 1939 in mein Notizbuch zu schreiben: Dieser Krieg ist als ein Verbrechen zu bezeichnen, in dem wir alle untergehen werden. Das war also das Ergebnis des Zuhörens, denn als ganz junger Mann kann man ein eigenes Urteil in diesen schwierigen Dingen ja wohl noch nicht ganz haben.

Nun zurück zum Jahre 1943. Ich hatte mich Ende Januar schon mit einem alten Bataillonsführer aus meinem Reserveregiment 178, Herrn von Willisen, unterhalten. Die Katastrophe von Stalingrad stand uns allen vor Augen, und er hatte mir schon gesagt, hier bleibt nur ein Handeln der Soldaten. Aber wir wissen ja alle, im Felde wurde nicht gehandelt. Weder Feldmarschall von Manstein handelte noch Feldmarschall Paulus. Es wurde bis zum Letzten gekämpft, obwohl es militärisch alsbald sinnlos wurde. All dies führte dann eben zu konkreten Planungen. Die Leute des zivilen Widerstandes hatten immer gesagt, wir können alleine nicht handeln, wir brauchen die Generale, wir brauchen die Armee, sonst ist es nicht zu machen. Denn man darf sich auch nicht der trügerischen Auffassung hingeben, dass die Masse des deutschen Volkes damals schon begriffen hatte, wie die Lage tatsächlich ist.

Die Propaganda von Goebbels, die Reden von Hitler waren doch sehr geschickt. Die Zeitungen durften ja nur das schreiben, was diese verkündeten. Andere Informationen, wenn man nicht gute Bekannte hatte, die mehr wussten, gab es nicht, und das Weitergeben von Informationen war, wie wir alle wissen, gefährlich. Ich habe damals schon immer Radio London und die BBC gehört, habe vom Schweizer Sender Beromünster gute Kommentare gehört und wusste eben durch Gespräche der Gegner und durch diese Informationen mehr als viele andere.

Schulenburg hatte mir gesagt, ich sollte mich dann mal umsehen, wo wir noch mehr junge Offiziere herkriegen. Ich bin zu einem gegangen, den er mir namentlich genannt hatte, und der sagte: „Ist ja völlig richtig, aber die Nazis sollen sich alleine zum Ende begeben, man soll da nicht eingreifen.“ Er war also nicht bereit, mitzumachen.

Ich traf einen anderen guten Freund, mit dem ich viele Feste gefeiert hatte, und noch einen Potsdamer Leutnant, ein Herr Ulrich von Wiese und Kaiserswaldau, der später leider gefallen ist. Den beiden sagte ich: „Wir müssen da etwas tun, seid Ihr denn dazu bereit?“ Ich habe ihnen die militärische Lage und die Aussichten geschildert. Die Antwort meines Freundes war: „Also weißt du, du bist ja eigentlich ein Vaterlandsverräter, eigentlich müsste ich dich anzeigen“. Aber dieses war unter Kameraden, die sich menschlich mochten, nicht üblich. Er ließ es. Mein Freund Ulli Wiese sagte nichts. Ich habe ihn dann in den nächsten Monaten immer wieder mal gesprochen. Dann meldete er sich wieder freiwillig an die Front obwohl er auch so verwundet war, dass er das gar nicht mehr brauchte, und ich war nicht in der Lage, es ihm auszureden. Er wollte einfach. Das muss man auch verstehen. Wir jungen Leutnants, wir waren mit der Truppe, mit unserer Kompanie, mit unseren Kameraden so verbunden, dass man immer glaubte, man müsse wieder draußen sein, man müsse wieder diesen Kameraden helfen, vernünftig helfen, unnötige Verluste vermeiden, sie davor bewahren, durch wild gewordene Vorgesetzte in sinnlose Situationen geschickt zu werden. Ein Zweiter, der ähnlich dachte, dem habe ich auch versucht, es auszureden. Es ist mir auch nicht gelungen. Nun, es ging weiter. Schon im März traf ich Fritzi Schulenburg wieder. Er sagte mir, es wird vorläufig nichts. Der Versuch, Hitler in seinem Flugzeug in die Luft zu sprengen, durch die als Präsent deklarierte Bombe von Fabian von Schlabrendorff und Henning von Tresckow, war ja fehlgeschlagen. Und so ging es weiter, es passierte eigentlich bis zum 20. Juli oder bis zum 11. Juli 1944 nichts, was uns junge Leute irgendwie direkt betroffen hätte. Wir taten unseren Dienst oder ich mein Studium in Berlin. Wir trafen uns. Wir sprachen mit vielen Leuten, nicht über eine Aktion, das tat man nicht, denn dazu war das viel zu gefährlich, auch untereinander nicht. Wir sprachen über die militärische Lage und was es Neues gäbe, drinnen und draußen. All das wurde aber dann Anfang Juli durch Hinweise „Passt auf, seid bereit!“ wieder unterbrochen. Wir jungen Leute gingen daraufhin unsere Pistolen einschießen, denn die haben wir natürlich nicht benutzt. Wir trainierten uns, um fit zu sein. Der erste Termin, der festgelegt wurde, war der 11. Juli. Ich bin davon verschont geblieben, weil der Zettel, der an mich gerichtet war, Georg Sigismund von Oppen bei mir zu Hause abgegeben hatte. Er ging an meinen Bruder, der auch – genauso wie ich – in der Zeit Oberleutnant war, und der von diesen Dingen auch etwas wusste. Er arbeitete für Goerdeler, studierte in Leipzig. Er ging zu dem vereinbarten Termin, nicht in die Bendlerstraße direkt, sondern in die Umgebung. Sie warteten dort zwei Stunden, dann kriegten sie die Nachricht, es ist nichts passiert. Hitler war nicht lange genug anwesend, vor allem seine beiden Hauptmitarbeiter Göring und Himmler nicht. Man hat es verschoben.

Am 15. Juli war es dann wieder soweit. Wir saßen im Hotel Esplanade und warteten mehrere Stunden. Es war nervenaufreibend, aber dann kam die Nachricht unseres Verbindungsmannes. Es war in diesem Falle Ewald Heinrich von Kleist: „Ihr könnt nach Hause gehen, es wird wieder nichts!“ Wir gingen, wir schossen weiter Pistole und warteten auf den nächsten Termin. Und als ich am 18. Juli hier in Potsdam war, zu einem sehr schönen Mittagessen bei einer alten Dame, das sie für ihre Freunde gab, trafen wir dann am Abend, Kleist und ich, den Grafen Schwerin, Hauptmann seines Zeichens, den Vater des jetzigen Polizeipräsidenten. Er winkte von Kleist zu sich: „Pass auf, am 20. ist es wieder so weit!“ Das bestätigte sich.

Am 19. kriegten wir die volle Nachricht, und am 20. saßen wir am Mittag wieder im Hotel Esplanade und warteten, denn vor dem Nachmittag war es nicht angesagt. Dann wurden wir per Telefon abgerufen: „Sofort kommen!“ Wir gingen hin, und mein Freund Georg Sigismund von Oppen sagte mir auf dem Wege noch: „Merk dir den Weg da geradeaus, da ist die schwedische Gesandtschaft, die bringen Leute raus, wenn es notwendig ist.“ Ich wusste gar nichts davon. Dann trafen wir in der Bendlerstaße ein, wir wurden eingeteilt, und wir trafen Fritzi Schulenburg, Schwerin und andere. Die Aktion begann. Darüber ist viel geschrieben worden, ich sollte es, glaube ich, hier im Einzelnen nicht beschreiben. Doch soviel, dass wir davon völlig überzeugt waren:

1. Hitler ist tot,

2. die Sache läuft an.

Und wenn Hitler tot ist, dann machen die Herren Feldmarschälle auch mit. Denn das hatten sie wiederholt zugesagt. Insbesondere Herr von Kluge und andere. Aber es erwies sich ja dann, dass Hitler nicht tot war. Es sprach sich sehr rasch herum. Die hohen Militärs waren nicht mehr bereit, mitzumachen.

In der Bendlerstraße allerdings, General Olbricht, Stauffenberg und die anderen, wussten natürlich: Hier muss jetzt weiter gehandelt werden. Es nutzt gar nichts, nochmals Schluss zu machen. Im Sinne des Tresckowschen Wortes: „Es muss gehandelt werden, egal, was es bringt. Die Welt muss wissen, dass es in Deutschland eine Opposition und Kräfte gab, die diese Verbrechen nicht mehr mitmachen wollten. Es muss gehandelt werden!“

Wir taten es, und wir verhinderten einiges, was im Stabe vor sich ging. Ich habe den stellvertretenden kommandierenden General Berlins verhaftet. Mein Freund Oppen hatte ihn schon das erste Mal verhaftet. Er versuchte, immer wieder auszureißen und fragte einen auf den Kopf zu: „Wem haben Sie eigentlich den Fahneneid geschworen?“ Ich habe darauf keine Antwort gegeben, weil ich mir sagte: „Hat keinen Zweck, wenn einer so denkt, dann kann man ihm nicht helfen. Wir sind jetzt nicht zum Überreden hier, sondern zum Handeln“. Dann schickte mich aber dieser gleiche General am späten Abend so zwischen 22 und 23 Uhr zum Generaloberst Beck mit der Weisung, ich möchte doch feststellen, wo er über Nacht bleiben soll. Da er inzwischen friedlich geworden war und ein Ordonnanzoffizier von ihm erschienen war, der ihm berichtet hatte, was im stellvertretenden Generalkommando vor sich gegangen war, ging ich und ließ ihn allein. Ich traf Schwerin auf dem Flur. Der spottete nur über den Ausbruch. Dann traf ich per Zufall Beck, den ich ja von Hause aus kannte. Ich sollte später mal sein Ordonnanzoffizier werden, dem sagte ich das auch mit leisem Lächeln. Er sagte: „Der Kerl soll bleiben, wo er ist. Ein weiteres Gespräch mit ihm lohnt sich nicht.“

Ich ging zurück. Vor mir ging Stauffenberg, begleitet von seinem Ordonnanzoffizier Haeften, und verschwand im Vorzimmer von Olbricht. Ich blieb davor stehen. Es waren auf einmal lauter Offiziere dort zu sehen, die gut bewaffnet waren, mit Maschinenpistolen und Handgranaten. Ich traf meinen Freund Dr. Hans Fritsche, der mit uns aus Potsdam dorthin gekommen war. Der sagte mir: „Es stimmt, Hitler lebt, das Wachbataillon macht nicht mit, und die ganze Sache wird schwieriger.“ Dann versuchten mich die bewaffneten Offiziere in den Vorzimmerraum von Olbricht hineinzudrängen. Ich ging aber nicht, weil ich zu dem stellvertretenden kommandierenden General zurück wollte. Als ich auf halben Weg war, fielen auf einmal mehrere Schüsse. Ich ging, wie man das als Soldat tut, hinter einem Schrank in volle Deckung, zog meine Pistole. Neben mir stand ein Oberstleutnant im Generalstab, der mir schon aufgefallen war, weil er ungewöhnlich aussah. Ich wusste nicht, wer er war oder wie er hieß. Er sagte: „Lassen Sie stecken, es hat doch keinen Zweck!“. Ich ließ also meine Pistole stecken und überlegte mir: „Wo ist der Mann einzuordnen?“ Ich schaute auf diesen dunklen Flur, den es heute noch gibt, und sah, wie Stauffenberg sich einmal um sich selber drehte und wie auch ein oder zwei Schüsse von dem Ordonnanzoffizier abgegeben wurden. Jedenfalls bildete ich mir ein, dass es so gewesen ist. Dann verschwand Stauffenberg, es wurde still. Auf einmal ging mir gegenüber die Tür auf. Der Oberstleutnant von der Lancken, auch ein alter Potsdamer Mitbürger, ein Reserveoffizier, der der Adjudant Olbrichts war, und den ich vorher gesehen hatte, weil ich mich eine Zeit lang in Olbrichts Zimmer aufgehalten hatte, wollte heraus. Sofort hatten nun meine beiden Nachbaroffiziere ihre Pistolen in der Hand, darunter auch dieser kleine Oberstleutnant. Herr von der Lancken sah das aber sofort, machte die Tür wieder zu. Daraufhin war mir klar: Aha, die sind von der Gegenseite! Dann sagte auch schon dieser Oberstleutnant: „Los, jetzt alle an das Ende des Ganges“. Dort hatte er die Pistole in der Hand und sagte: „Hier ist ein Putsch gegen den Führer im Gange, der ist mit dem Fahneneid nicht zu vereinbaren, Sie stehen mir zur Verfügung“. Und dann fragte er den Ordonnanzoffizier des stellvertretenden kommandierenden Generals: „Wie kommen den Sie hier überhaupt her?“ Er sagte: „Ich bin der Ordonnanzoffizier des Generals!“ Daraufhin war er salviert. Ich kriegte in dem Moment einen furchtbaren Schreck, denn ich dachte, jetzt werde ich gefragt, denn mich kannte er ja auch nicht. Ich hatte mir auf Rat meines Freundes Ewald Heinrich Kleist noch die 9 von der Schulter abgemacht, weil er mir sagte: „Wenn Du die 9 drauf hast, weiß jeder, wo du stehst. Das ist zu gefährlich, mach die ab“. Also war sie nicht drauf, und erstaunlicherweise fragte er mich nicht, sondern ich wurde eingeteilt: „Sie sperren das ab, der Rest hier die Treppe rauf“.

Ich hatte mir in diesen paar Sekunden überlegt: „Was machst du?“ Es war klar, dass die Sache nicht zu retten war. Entweder man schoss auch um sich, ich hätte diesen Oberstleutnant totschießen können, aber ich dachte dann: „Wer weiß, vielleicht ist es doch besser, man geht nach der alten Devise eines Soldaten vor: Es ist wichtig, im richtigen Moment auszureißen.“ Und dieses tat ich, weil ich die Örtlichkeiten genau kannte. Es waren die Wohnung und die Dienstgebäude, wo wir während der Zeit, in der mein Vater Chef der Heeresleitung war, wohnten.

Ich kam auch glücklich raus, fuhr nach Hause und weckte meine Mutter und meinen jüngeren Bruder und sagte, die Sache ist schief gegangen, ich muss jetzt sofort untertauchen. Ich hatte, und das war auch mein Glück, eine Tasche mit einer zweiten Pistole, aber auch mit meinem Namen drin, im Vorzimmer des Generals Olbricht zurücklassen müssen. Es war also klar, dass die Gestapo mich alsbald suchen würde.

Ich hatte mir überlegt: „Wohin gehst du? Und hatte dann an eine junge Dame gedacht, die in Berlin Medizin studierte, Fräulein von Steinrück. Mit ihr hatten wir in den Tagen davor uns amüsiert. Sie war nicht von den Nazis befangen. Es war durchaus möglich, dass sie sagte: „Du kannst hier bei mir unterkommen.“ Ich weckte sie mit Mühen, es gelang aber, und ich sagte: „Da ist etwas passiert, ich muss untertauchen. Zu Hause werden sie mich morgen suchen“ (am nächsten Morgen um neun versuchten sie es auch sehr höflich zu Hause) „Kann ich bei dir ein, zwei Nächte bleiben?“ Sie sagte sofort ja. Ich hatte also mein erstes Quartier.

Dann begannen die neun Monate als Untergetauchter, als Fahnenflüchtiger, als Gesuchter in Berlin zu leben. Und ich darf sagen, dass mir das im Gegensatz zu anderen gut gelungen ist durch die große Hilfe von verschiedenen Leuten, die ich zum Teil vorher kannte, zum Teil aber auch überhaupt nicht. Durch meinen älteren Bruder, der an dem Tag nicht in Berlin gewesen war, kriegte ich mein erstes Quartier.

Ein Kriegsschulkamerad von ihm wohnte in der Oranienstraße 36 in Berlin SO 36, über einer Drogerie. Er war verheiratet, hatte eine katholische Frau aus Oberschlesien, und die war gut befreundet mit der Tochter dieser Drogerie. Sie kam auch aus einer katholischen Familie. Der Vater stammte aus Bonn, die Mutter aus Berlin. Die beiden Damen gingen immer zusammen am Sonntag in die Kirche. Die Dame des Offiziers wusste, sie nimmt ab und zu auch eine jüdische Dame auf, wenn sie in Gefahr war. Sie fragte also: „Kannst du so einen Kerl nehmen, der da beteiligt war vorgestern?“ Und sie sagte sofort ja. Sie war Kriegerwitwe und sagte aus Überzeugung: „Dem muss geholfen werden.“ Eine der beiden Damen, Frau Witte, holte mich dann am nächsten Tag bei Bärbel Steinrück ab, und ich gelangte dorthin. Ich hatte Zivil schon eingepackt, trug keine Uniform mehr. Die Uniform hatte ich in einen Koffer verpackt und gebeten, dass sie verborgen wird, so kam ich in mein erstes Hauptquartier.

Ein weiterer aktiver Offizier, Friedel Augustin, mit dem ich auch an der technischen Hochschule schon zusammengetroffen war, und der auch zu den Gegnern Hitlers zählte, hatte mir auch sofort angeboten, er habe eine Cousine, die erstklassig sei, und deren Eltern seien nicht in Berlin. Sie hätte eine Wohnung, da könnte ich auch jederzeit absteigen, wenn ich wollte. Auch das habe ich dann getan.

Diese wiederum hatte eine Freundin, mit der sie im Lettehaus in Berlin zusammen war, Eva Wittgenstein, sie lebt noch. Ihr Vater saß schon als Jude in Theresienstadt, im KZ in Böhmen, und sie war zwangsverpflichtet zur Arbeit in Berlin. Sie sagte auch sofort: „Dem Kerl muss geholfen werden!“ Sie hatten noch eine Laube auf der Köpenseite zu Köpenick. Auch dort konnte ich untertauchen, es ging vorzüglich.

Und so wurde ich immer weiter empfohlen an Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Unter anderem auch an einen jungen Herrn, der in der Kantstraße eine Wohnung hatte, wo ich auch untertauchte. Dann wiederum sollte ich mir ein Quartier ansehen bei einer Dame in der Motzstraße Nr. 10, ich habe dann davon keinen Gebrauch gemacht. Es war eine Schauspielerin, die große Liebe zu allem Russischen hatte. Bei ihr machte ich Besuch am Abend: „So sehe ich aus. Wenn ich also mal überraschend komme, wissen Sie, wer kommt.“ Da traf ich eine jüdische Dame, Miss Rose hieß sie, eine Amerikanerin. Sie war noch nach Berlin gekommen, um einer jüdischen Freundin, die Deutsche war, zu helfen, vor der Kriegserklärung der USA nach Amerika zu kommen. So war sie im Moment der Kriegserklärung in Berlin gewesen und konnte nicht mehr zurück. Nun tauchte ich bei dieser Frau unter. Sie war eine sehr reizende Dame. Ich fragte sie einmal nach ihrem Alter; daraufhin sagte sie mir nur, ich sei kein Kavalier, eine Dame frage man nicht nach ihrem Alter. Aber ich nahm Englischstunden bei ihr; sie hat auch diesen Krieg überlebt.

Aber die Suche nach mir und meinem Bruder, der auch untertauchen musste – die Gestapo hatte zuerst zwar nicht gemerkt, dass wir zwei Brüder waren, aber dann merkte sie es doch – er war im Rheinland untergetaucht, wurde schärfer. Die drei Kameraden, mit denen ich in der Bendlerstraße war, waren ja eingesperrt worden, sie wurden vernommen. Sie haben sehr geschickt gelogen, man konnte ihnen nichts Direktes beweisen. Der Kommandeur, Dr. Herbert Meyer, der das Ersatzbataillon 9 führte, hatte ihnen auch den guten Rat gegeben und hatte zwei von ihnen sofort zu einem Kriegsgerichtsrat geschickt, der sie vernommen hatte. Da hatten sie die Lügen schon festgemacht und so kamen sie durch, aber der Termin für die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof war schon angesagt. Sie wurden Ende November plötzlich entlassen. Keiner wusste, warum.

Es gibt noch die Entlassungsvorschrift des Generalreichsanwalts in der Sache, die ganz erstaunlich ist. Ewald Heinrich von Kleist zum Beispiel, dessen Vater auch verhaftet war und zum Tode verurteilt wurde, kam frei.

Der Zusammenhang ist wahrscheinlich der, dass sie Druck auf die Brüder Hammerstein ausüben wollten, sie wollten erreichen, dass wir denken: die kommen frei, dann können wir vielleicht auch uns wieder zeigen. Außerdem hatten sie gleich meine Mutter und jüngste Schwester verhaftet, so etwa zur selben Zeit. Meinen jüngeren Bruder hatten sie schon lange vorher verhaftet, weil durch eine andere Affäre mein Name genannt wurde, und zwar dadurch, dass ich versuchte, ein falsches Papier, einen falschen Wehrpass zu kriegen. Ich wusste von meinem Freund Friedrich Karl von Reichenau, Sohn des Feldmarschalls, dass der immer Blankopapiere in der Tasche hatte und sagte: man weiß nie, was kommt. Er war nicht etwa Nazi, sondern er war Antinazi. Er hatte eine Freundin in Berlin, die sehr vernünftig war, und über die glaubte ich, ihn erreichen zu können. Ich gab ihr auch ein Bild von mir mit, damit er diesen Ausweis gleich perfekt machen konnte. Das ist aber irgendwie herausgekommen. Das Mädchen wurde verhaftet, meinem Bruder gegenübergestellt, und der kam auch mit dem Argument nicht ganz durch, wieso sie das Bild habe. Na ja, vielleicht hat das Mädchen meinen Bruder geliebt. Kann er doch zu einem Bild kommen, aber das Mädchen wurde freigelassen, mein Bruder blieb in Haft, und so entwickelten sich die Dinge etwas dramatisch.

Im Ganzen gesehen war die Lage doch sehr gefährlich. Aber wir sagten uns: Durchhalten! Irgendwie muss man auch in solchen Situationen Glück haben! Wir tauchen nicht auf, und ich wusste, da ich im November noch kurz zu Hause gewesen war, nachts um Wintersachen zu holen, und meine jüngste Schwester noch getroffen hatte, dass sie durchaus derselben Meinung war. Ich wusste auch, dass durch das Gespräch mit meiner kleinen Schwester meine Mutter unterrichtet war und dass diese derselben Meinung sein würde. So verging die Zeit, und wir wurden dann in Berlin auch durch die Bomben bedroht.

Alles ging aber gut. Ich hatte mehr Glück als Verstand, wie man so schön sagt. Ich wurde dann im April 1945 von den Russen befreit. Ich kann nur sagen, es war für mich wirklich Befreiung, und ich habe auch viele menschliche russische Soldaten und Offiziere getroffen, trotz aller Schwierigkeiten, die es gab.

Ich tauchte dann wieder auf, und wurde von den Russen festgesetzt: „Du Soldat,“ ich sagte: „Ich nix Soldat.“ Dann redete die Schwester meiner Witwe, die mich untergebracht hatte, auf den russischen Oberst ein und der sagte: „Na ja, na ja, der soll also zum Ortskommandanten gehen!“ Da wurde ich also mit Bewachung zum Ortskommandanten gebracht. Der sprach deutsch, hatte schon mal was vom 20. Juli gehört. Dem sagte ich, wer ich wirklich war. Ich hatte noch ein echtes Papier, meinen Führerschein, mit. Dann machte er mir auf den Führerschein eine russische Bemerkung, und seitdem wurde ich nicht mehr von den Russen vereinnahmt.

Auch das war Glück im Unglück, denn Herr von Sell, Vater Sell zeigt, dass man eben aus dem Kittchen heraus wieder verhaftet wurde und dann eben doch noch zu Tode kam.

Das waren die Ereignisse. Ich kann sie nicht voll schildern, dazu reicht natürlich die Zeit nicht aus. Zum Teil sind sie in den zwei Büchern meines Bruders, die aber beide vergriffen sind, die in den 60er Jahren erschienen sind, dargestellt worden. Ich werde immer wieder gefragt: „Habt ihr euch denn wirklich vorher klar gemacht, was es bedeuten kann für euch?“ Daraufhin habe ich nur gesagt: „Wir haben uns das als junge Leute natürlich nicht so klar gemacht wie die Älteren. Denn wir waren ja Soldaten, wir waren es zum Teil noch. Und als Soldat ist man an jedem Tag in Gefahr, man kann erschossen werden, überall. Man kann fürs Vaterland sterben, man kann auch gegen Hitler sterben. Infolgedessen hatte uns das überhaupt nicht beeindruckt. Außerdem ist es natürlich auch für jüngere Leute viel einfacher, so zu handeln, als für ältere. Aber auch die Älteren haben es ja getan und versucht, ihrem Lande Deutschland doch etwas zu helfen aus dem Ärgsten herauszukommen. Wobei völlig klar ist, 1944 war der Krieg verloren. Wir hätten vielleicht etwas bessere Bedingungen bekommen. Vielleicht wäre es gelungen, eine einheitliche Regierung zu behalten, und vielleicht hätte man die Teilung damit verhindern können. Aber sehr wahrscheinlich ist das bei den Gegensätzen zwischen Ost und West in der damaligen Zeit nicht.

Ich darf zum Schluss hier auch Theodor Fontane zitieren. Ich habe das Zitat gefunden in einer Regimentsgeschichte des Infanterieregiments 9. In dem Kapitel, das die Beteiligung der Offiziere des Regiments 9 am 20. Juli und an der Gegnerschaft zu Hitler beschreibt.

Dort heißt es:

„Löst das Staatsoberhaupt sich von seinem Schwur, sei es aus Wahnsinn, Verbrechen oder anderen Gründen, so entbindet es mich des meinen.“

Theodor Fontane in seinem Buch „Vor dem Sturm“,1878.

Ich finde es wirklich sehr bemerkenswert, dass man damals schon solche Gedanken durchaus hatte. Ich danke Ihnen fürs Zuhören.