Unterwerfung, Anpassung, Widerstand – Anmerkungen zum Leben unter totalitärer Herrschaft

Joachim Gauck

Unterwerfung, Anpassung, Widerstand – Anmerkungen zum Leben unter totalitärer Herrschaft

Festvortrag von Dr. h.c. Joachim Gauck am 19. Juli 1996 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Heute komme ich nicht als Bundesbeauftragter zu Ihnen.

Als ich von Prof. Steinbach gebeten wurde, anstelle des erkrankten Andrzej Szypiorski diese Rede zu halten, hat er mich sozusagen beauftragt.

Aber eigentlich bin ich, so kam es mir dann in den Sinn, sind wir alle ja in einem umfassenden Sinne Beauftragte. Die Überlebenden alle, nicht nur die aus den Familien der Widerständler, sondern alle, die überlebt haben und sehen, fühlen, denken können sind Beauftragte derer, die an der Gestaltung der Zukunft nicht mehr teilnehmen konnten, weil der Henker ihnen ihre Zukunft nahm.

Und all die anderen, die Nachgeborene sind, wir, die immer wieder mit Staunen, Bewunderung und Dank zu den Märtyrern der Freiheit aufschauen, wie können wir den Auftrag übersehen, den jene uns gaben, die Land und Menschen menschlicher machen wollten. Er gilt natürlich vor allem jenen, die auf irgendeinem Gebiet, besonders aber auf dem Feld der Politik, Gestaltungsaufgaben haben.

Meinen konkreten Auftrag heute, mit Worten einen Raum des Erinnerns zu öffnen, möchte ich nicht so ausführen, dass ich zu Personen und Taten des 20. Juli 1944 referiere. Ich möchte vielmehr Lebensumstände und Haltungen ins Gedächtnis rufen, die diktaturtypisch sind, möchte nach Vorstufen des großen Widerstandes suchen, daran erinnern, dass Menschen eine Wahl haben, fast immer.

Aber damit dies nicht so leicht dahergesagt wird, sollten wir zuvor eingekehrt sein bei jener Haltung, die man die „normale“ Unterwerfung nennen könnte.

Ich spreche von der „ganz normalen“ Anpassung an eine politische Ordnung, der Recht und Gerechtigkeit fremd sind.

Wann ist aber diese Anpassung menschlich verständlich und von politischer Rationalität, und wann ist sie Unterwerfung?

Zu unterschiedlich sind die Lebenssituationen. Das Besondere an dieser Frage ist nicht die erwartete Antwort. Es ist vielmehr die Tatsache, dass der, der sie sich stellt, seine Haltung verändert. Er beginnt das Faktum der Unterwerfung wahrzunehmen. Mag sein, dass er eines Tages ganz deutlich erkennt, was Vaclav Havel so formuliert hat: die Macht der Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen.

Aber wie lange dauert es, bis wir die Lüge, ja den Verlust von Wirklichkeit (Hannah Arendt), bis wir die Verschleierungen der Diktatur, die scheinrationalen Argumente der totalitären Systeme als solche erkennen? Wie oft schönt unser Blick die Wirklichkeit, wie oft sehen wir nicht, was offenkundig ist! Es ist verheerend, wie die Technik der selektiven Wahrnehmung, oft auch die Wahrnehmungsverweigerung funktioniert.

Ist es nur gelogen, wenn hinterher massenhaft behauptet wird, man habe nichts gewusst? Totalitäre Herrschaft entzieht den Menschen Wirklichkeit und psychische Substanz. An Tagen wie diesem schauen wir auf Helden, resistente Minderheiten. Wir sollten dabei aber nicht das prägende, das krank machende Element totalitärer Herrschaft übersehen! Noch die Zeiten danach geben interessante Aufschlüsse. Erschreckend, wie langsam das Bewusstsein wächst, ein Untertan gewesen zu sein.

Zweimal in diesem Jahrhundert, in diesem Land, erschien es den allzu vielen Unterdrückten so, als hätten sie ein „normales Leben“ gelebt. Leider können wir jene, die sich rückschauend so äußern, nur bedingt kritisieren, folgten sie doch einem sehr wirksamen Prinzip: Unterwerfung gegenüber dem (Über-)Mächtigen sichert (Über-) Leben/Erfolg.

Jahre der Prägung haben Nachwirkungen: Allensbach-Umfrage 1948 (Oktober) unter den Westdeutschen (ab 18 Jahren): „Halten Sie den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?“ Ja: 57%, Nein: 28%, Unentschlossene: 15%.

Als das Allensbacher Institut den Ostdeutschen (ab 16 Jahren) 1990 und folgend diese Fragen bezogen auf Sozialismus (65“% +) und Kommunisten (53“% +) stellte, traten ähnliche Zustimmungsraten zutage.

Offensichtlich ist, dass große Bevölkerungsgruppen, deren politisches Wissen durchaus schon auf neuerem Stand sein kann, sehr viel mehr Zeit benötigen, um ihre Mentalität und Haltung zu ändern. Es gilt, sehr ernsthaft das Problem der Langsamkeit des Mentalitätswandels zu analysieren und darüber nachzudenken, wie viel tiefer die habituellen Veränderungen sitzen, die durch lange währende totalitäre Herrschaft hervorgerufen sind als die bloß intellektuellen Prägungen. Es muss intensiv und fächerübergreifend daran gearbeitet werden, Menschen zu helfen, Gestus und Prägung des Untertan loszuwerden.

Wir täuschen uns, wenn wir meinten, die Ostdeutschen könnten ohne längere Lern-, Verlern- und Veränderungsphase die in den Seelen liegende Erblast der Diktatoren loswerden. Nur die sehr jungen Menschen oder diejenigen, die ihre Individualität und ein Mindestmaß an geistiger Freiheit haben retten können, werden den Wandlungsprozess vom Bewohner der Diktatur zum Bestandteil der Bürgergesellschaft etwas schneller vollbringen, wobei die erstgenannte Gruppe eher die größeren Chancen hat.

Wie lange Erziehung und Teilhabe an freien soziokulturellen Milieus auf die Zeitgenossen einwirken müssen, damit der Citoyen entsteht, ist schwer zu prognostizieren. Auch in der Demokratie fördert nicht jeder Trend, nicht jede Politik die Demokratie; Zivilcourage und Mut sind nicht gerade das, was einem Besucher der alten Bundesländer als dominant ins Auge fiele. Deshalb ist ja Erinnern, Erzählen und wissenschaftliche Bearbeitung der Vergangenheit so eminent wichtig. Und fortwährend bleiben Demokraten der Aufgabe verpflichtet, Diktatoren zu bekämpfen und auch sie nachträglich noch zu delegitimieren. Sie sind gefährlich, nicht erst, wenn sie Konzentrationslager errichten. Sie sind es bereits, wenn sie ihre fürsorgliche Verwandlung von Bürgern in Untertanen betreiben.

Der Bürger der Zivilgesellschaft braucht dabei die Vergleiche der Diktaturen nicht zu scheuen. Sie lehren ihn Wichtiges: die Unterschiede. Aber sie lehren noch Wichtigeres: Gemeinsamkeiten.

Mir sind die Untertanen der Diktaturen zu ähnlich, als dass ich glauben könnte, die Herrschenden wären es nicht. Unser Zorn komme über die Massenmörder à la Hitler und Stalin. Aber das genügt nicht. Verachtung, Zorn und Engagement der Demokraten gelte „kommoden Diktaturen“ in gleicher Entschlossenheit.

Und weil wir künftigen Diktatoren die Arbeit nicht zu leicht machen wollen, sorgen wir uns um eine gute innere Beziehung zu Widerstand, Resistenz und Opposition.

Wer sich mit dem Verlust an Wahrnehmungsfähigkeit beschäftigt, wird eine weitere Gefahr der Angepassten, des Untertan nicht übersehen dürfen: den Verlust bzw. die Reduzierung funktionierender Wertesysteme. Möglicherweise gibt es in uns Menschen eine sehr alte moralische Grundausstattung, die in bestimmten Situationen mit aktuellen Gruppennormen kollidiert. Ob diese Kollision allerdings oft genug vorkommt, ist zweifelhaft. Die Neigung zum Aufgehen in der Volks-Religions-Ideologie- und Subkulturgemeinschaft ist groß, und es bereitet Schmerz, wenn das autonome Ich sich durch Handlungen des umgebenden Kollektivs, die ethisch nicht mehr akzeptiert werden, in inneren oder äußeren Abstand oder Widerspruch begibt. Nicht nur Karrieregründe, sondern ein Grundbedürfnis nach Akzeptanz durch die Gemeinschaft und auch ein hedonistischer Mindestbedarf sprechen sehr stark dagegen.

Aber: Der Mensch hat trotz Manipulierung, Konditionierung und mannigfacher Prägung die Fähigkeit zur Wahrnehmung sowie zur Rückkehr zu sich selbst, zum eigenen Gewissen. Er kann den Verlust von Gemeinschaft ertragen für die Vermeidung des Verlustes im Bereich des eigenen Ich.

Erich Fromm sagte, dass man einen Kern haben müsse, um widerstehen zu können. Solches Widerstehen kann sogar das Annehmen von Leidenssituationen, sogar des Todes einschließen. Manchmal wacht die Fähigkeit zum Widerstehen gerade dann auf, wenn der Einzelne oder die Gruppe gerade nicht im Gefühl von Stärke und Souveränität lebt. Es ist erstaunlich und geheimnisvoll, dass oft, auf dem Grunde der Ohnmacht angekommen, das Gefühl erwachte: So kann es nicht mehr weitergehen und ich bzw. wir „müssen“ jetzt handeln. Wir haben das aus vielen Zeugnissen des Widerstandes gehört. Und im Ostdeutschland des Sommers 89 gab es auch nicht gerade Stärke und Mut an der Basis, sondern tiefe Depression. Für meine Freunde und mich war das ein unglaublich starkes Erleben, dass aus elementarer Schwäche und Ohnmacht heraus plötzlich Mut und Vollmacht wurde. Wir hatten in der Zeit günstigere Voraussetzungen als die Naziwiderständler oder auch die 53er und 56er Revolutionäre gegen das Sowjetsystem.

Aber woran ich erinnern möchte, ist jene Verwandlung von Ohnmacht in Vollmacht, die von Beteiligten vieler Systembrüche beschrieben werden können.

Vielleicht beginnen ja politische Prozesse mit der elementaren Menschenfähigkeit der Sehnsucht. Und Sehnsucht, wenn sie nach Freiheit oder Recht sucht, so „wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser“, wird dann Hoffnung gebären. Wo aber im Politischen Hoffnung atmet, bricht die Erstarrung der Anpassung auf. Aus Hoffnung entstehen zunächst die Phantasien des Widerstehens, die Vorstufen des Widerstehens wie Kraft zum Anderssein, und danach die konkreten Widerstandsformen.

In schlimmen Zeiten kann der erste Schritt des Widerstands schon die Verweigerung der Begeisterung sein. Denken Sie an die DDR, die gläubig aussehenden Massen, wenn sie an den Tribünen vorbeizogen. Ich war als Jugendlicher manchmal unter ihnen. Merkwürdig dieses Schimpfen, bevor man sich versammelte und an der Tribüne vorbeizog. Und dieses Witzeln und das Schelten hinterher, wenn man schnell den Weg in die nächste Kneipe suchte. Aber während wir an der Tribüne vorbeizogen, da lachten viele von uns, winkten und machten ein freundliches Gesicht. Wie viel schlimmer, „großartiger“, verführerischer muss es in den Zeiten gewesen sein, die ich nicht erlebt habe, in der Nazizeit?

Führerkult, Personenkult, Rituale. Der erste Schritt des Widerstandes ist die Verweigerung von angeordneter Begeisterung und angeordneter Trauer. Zum Widerstehen gehören zahlreiche weitere Schritte. Heute übrigens interessieren mich die kleinen Schritte, die niedrigen Schwellen, die Jedermannsmöglichkeiten. Ich möchte, dass wir sie ernster nehmen, dass wir sie suchen, erinnern, benennen, vielleicht gar preisen und uns danach den Helden nähern.

Die erwähnte Suche nach dem eigenen Kern führt oft wie von selbst zu abweichendem und widerständigem Verhalten. Dem Suchenden werden die Werte wichtig, die ihm erlauben, Ich zu sein. Dem gesellt sich zu, die Suche nach Beistand, die Suche nach Verbündeten kommt später; denn vor ihr steht der Wille, selbst- oder fremdverschuldete Unmündigkeit zu verlassen.

Oft geraten die Lernschritte zum Widerstehen nicht in der erhofften Weise. Denn äußerst schwierig ist es, die eingeübten Mentalitäten und Haltungen zu ändern, zumal in diesem Land des Gehorsams. Später kommt die Erfahrung, dass zum Erlernen neuer Haltungen das Verlernen eingeübter Haltungen der Unfreiheit gehört. Das braucht Zeit und Training. Und die DDR-Menschen brauchen dafür länger als die bundesdeutschen Menschen. Bei uns haben die Diktaturen vierundvierzig plus zwölf Jahre gedauert, in denen man die Mentalität und Haltung des Untertanen züchtete. Man überwindet beides nicht in sechs Jahren.

An Weiteres und Schwierigeres ist zu erinnern. Zygmunt Baumann, polnisch-jüdischer Soziologe („Dialektik der Ordnung“, Hamburg 1992) erzählt davon, wie die Opfer dazu neigen, ihre Möglichkeiten des Widerstehens zu vermindern, indem ihre Rationalität ihnen oft den wirklichen Ernst ihrer Lage verbirgt. Er belegt das mit den Beispielen von Juden in den Konzentrationslagern. In Grenzsituationen erreichten es die Machthaber, so sagt Baumann, dass die Rationalität des Überlebens alles, was noch zum Handeln hätte führen können, irrational erscheinen lässt. Naziopfer stützten letztlich die Täter, indem sie deren Rationalität geradezu übernehmen.

Überhaupt – so lernen wir – ist die ratio der jeweiligen Opfer sehr häufig eine Stütze der Täter.

Widerstehen heißt, es sei wiederholt, Abschied von der eigenen Ohnmacht zu nehmen und den Willen zur Selbstbestimmung suchen, auch wenn der Erfolg nicht sicher ist.

Nicht nur am 20. Juli und davor war es so. Deutsche werden ja selten in großer Zahl so weit gehen wie die Polen, die eine andere Freiheitstradition haben. Diese Nation hält es für eine Tugend, auch dann zu streiten, wenn der Erfolg höchst unsicher ist. Sie versuchen es und gewinnen im Kampf und Sieg oder im Sterben und in der Niederlage ihre Würde zurück. Ich habe es schwer, das auszusprechen, als Deutscher. Doch wie wichtig ist es gerade für uns, an jene Deutschen zu denken, denen Freiheit und Würde höhere Werte waren als die kluge Sicherung des Überlebens.

Wie weit entfernt ist diese Haltung von der so oft kultivierten Ohnmacht? Ohnmacht ist ein süßes Gift. Man lebt ungern in offizieller Ehe mit ihr, desto häufiger lebt man mit ihr in geheimer intimer Beziehung. In diesem Land des vorauseilenden Gehorsams sollten wir von derartigen Beziehungen genug haben.

Dazu müssen wir aber die elementare Verführung erkennen, die über uns kommt, wenn der Machthaber uns Freiheit und Partizipation verbietet: verführerisch ist es, als Nicht-Verantwortliche zu leben. „Die da oben“ haben uns ja leider (glücklicherweise) unsere Mitwirkungsmöglichkeiten genommen.

Neben der Neigung zur Ohnmacht werden das Widerstehen und konkrete Widerstandshandlungen behindert, wenn unklare Alternativen klare Sinnstiftung erschweren, das eine oder andere Dilemma unsere Entscheidung hemmt. Nun gibt es viele Menschen, die meinen, unser ganzes Leben sei eine Kette von Dilemmata und von Entscheidungsschwierigkeiten. Deshalb haben viele Menschen eine Vorliebe für das Unentschiedene und für diejenigen, die sich nicht entscheiden.

Joachim Fest erinnerte vor einiger Zeit an eine Notiz Ulrich von Hassells aus dem Jahre 1940. Ich zitiere sie: „Es ist kein Zweifel, daß, wenn dieses System siegt, Deutschland und Europa fürchterlichen Zeiten entgegengehen. Bringt es aber Deutschland in eine Niederlage, so sind die Folgen erst recht nicht auszudenken.“ Viele werden empfunden haben wie er, werden eine letzte Klarheit also vermisst haben, konnten deshalb eine Entscheidung nicht fällen. Sie wissen, wie unsere Väter und Vorväter mehrheitlich gehandelt haben. Ich habe solche Haltungen wiedererkannt in meiner politischen Sozialisation in der DDR.

Preisen wir also diejenigen, die handeln konnten, auch ohne letzte Wahrheiten oder Sicherheiten zu haben!

Wie stark muss solche Unsicherheit etwa bei den Deserteuren gewesen sein! Wir nennen heute bewusst derartige Normabweichungen eine Widerstandshaltung. Sie wird manchem, zumal an der Ostfront gegenüber der Sowjetunion, nicht gerade leichtgefallen sein. Alfred Andersch, der diesen Schritt in Italien getan hat, sagte, er wolle die Fähigkeit des Menschen zu wählen zeigen. Später erinnert er sich: „Mein ganz kleiner, privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni (dem Tag der Desertion) statt.“

Wir müssen unser Erinnern breit anlegen. Neben der Würdigung der Märtyrer und Helden muss in das erinnernde Wort, was überhaupt nur an Widerstand gelebt wurde! Und natürlich brauchen wir Engagement und Sachverstand, um gegen die Parzellierung und Zensierung von Widerstandstraditionen anzugehen. Wir haben nichts davon, wenn wir die Haltung des Widerstehens, bevor sie denn umschlägt in etwas anderes, bei jenen nicht anerkennen, die nicht in unserer Weise nach der Zeit des Widerstehens Demokratie gebaut haben. Wir müssen auch Menschen würdigen, die wir wegen ihrer späteren Haltung oft kritisieren und manchmal verachten. Es ist doch wichtig, dass sie auch achtenswerte Phasen in ihrem Leben haben. Ich spreche von Kommunisten, die später Diktatoren wurden. Wer sie ernst nimmt, kann seine Kritik an ihnen durchaus mit Respekt, Achtung und Freude darüber verbinden, dass sie in einer Zeit als andere still und harmlos blieben oder mitliefen und mitmordeten eine richtige Wahl getroffen hatten.

Übrigens hatten Menschen auch in der Grenzsituation Krieg oft Möglichkeiten zu wählen, die andere ständig abstritten. Dies ist vielfach belegt. Manche mussten ihr Leben lassen für diese Wahl: Friedrich Hanselmann z.B.. Er entwaffnet in den letzten Kriegstagen HJ-Mitglieder in seinem Dorf. SS-Truppen besetzen das Dorf, er bezahlt seine Zivilcourage mit dem Leben. Mit ihm sterben Bürgermeister und örtlicher Naziführer, weil sie das Todesurteil des Standgerichts im April 1945 nicht unterschreiben wollten.

Wir wissen nicht, wie es jener jungen Französin erging, die wir kennen lernen, wenn wir in Lyon im „Centre de la Déportation“ in einer Glasvitrine die Gestapomeldung aus Paris über ihr Vergehen lesen. Vorgeführt und zur Wahrheit ermahnt, berichtete sie: „Ich habe mir den gelben Stern an der Bluse befestigt, um damit einen Protest gegen die deutsche Behandlung der Juden auszudrücken.“ Es war eine wohl junge Frau, eine Artistin oder Künstlerin oder so etwas, keine Gelehrte. Ich weiß nicht, wie es mit ihr weitergegangen ist. Aber sie hat mich angerührt, als ich so viele Jahre danach vor dieser Vitrine stand.

Wir wissen aber durch ein 1993 deutsch erschienenes Buch des amerikanischen Historikers Christopher Browning („Ganz normale Männer“), wie es im Reservepolizeibataillon 101 aus Hamburg zuging während des Krieges im besetzten Polen und insbesondere, was am 13. Juli 1942 geschah. Major Trapp, so hieß der Bataillonschef, hatte seinen Männern eine ungeheuerliche Mitteilung zu machen. Zum ersten Mal erwarte der Führer Besonderes: Erwachsene männliche Juden seien zu deportieren, Frauen und Kinder sowie Alte zu erschießen. Falls jemand sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, möge er vortreten. Knapp 500 Männer stehen vor Major Trapp. Einer tritt vor. Später folgen zwölf andere. Zwölf von knapp fünfhundert Männern. An dem Tag, als das Töten begann, sagten weitere, sie könnten es nicht tun. Später, nach dem Krieg, erinnerten sich die meisten nicht, diese Wahl gehabt zu haben. Nur einer sagte später, nach Jahren, er wäre zu feige gewesen, diese Wahl zu treffen.

Wenn wir wirklich gelebtes Leben ernst nehmen, werden wir immer der einfachen Wahrheit, dass bei Nacht alle Katzen grau sind, den zweiten genaueren Blick gönnen, der das Gegenteil feststellt. Wer Respekt für das gelebte Leben einfordert, kann dann nicht umhin, die Unterschiede zu bemerken.

„Was konnte man denn tun?“, fragten alle, die zu wenig versucht hatten, nach dem Ende einer Diktatur – eine Frage, die ihre Antwort in sich tragen soll: „Nichts“. Wir wissen, dass sie so nicht richtig ist. Aber nicht nur die Märtyrer lehren uns das, sondern die einfachen Neinsager unter den Jasagern.

Das Tätervolk des 1000-jährigen Reiches war eben nicht nur Tätervolk, das DDR-Volk kein Volk von Verrätern.

Ich will – neben der Aufrufung des Namens von Arno Esch, einem Jurastudenten aus Rostock, der für seine Liebe zur Freiheit und sein Engagement für liberale Werte 1950 verurteilt und 1951 erschossen wurde – Beispiele ganz einfacher Zivilcourage aus den Stasi-Akten vorlesen, Beispiele ganz normaler, nichtheldischer Neinsager.

Eine Frau verteilt Flugblätter in der DDR-Zeit. Sie wird inhaftiert. Das Kind kommt in ein Heim. Man verspricht ihr, wenn sie sich zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit verpflichte, würde sie entlassen und das Kind käme aus dem Heim heraus. Sie verpflichtet sich und kommt frei. Dann aber lehnt sie jede Form der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit ab. Man lädt sie wieder vor und konfrontiert sie mit dem Staatssicherheits-Offizier, der sie geworben hat. Die Frau legt ihren Schmuck ab, legt ihn auf den Tisch und sagt: „Nehmt mich mit, verhaftet mich auf der Stelle. Lieber sitze ich meine Strafe ab, als mit euch zusammenzuarbeiten.“ Sie darf gehen.

Ich spreche von einem Mann, der 1962 als Student in Haft genommen wird, wegen einer illegalen Westreise während des Studiums. Es wird ein Vorgang gegen ihn eröffnet, er wird kontrolliert und 1973 – er ist inzwischen Ingenieur – wird er im Zusammenhang mit einem Brückenunfall in U-Haft genommen. Neun Monate sitzt er dort, davon vier Monate in Einzelhaft bzw. in Haft mit einem Spitzel. Völlige Isolation, auch kein Rechtsanwalt, in Verhören sagt man ihm stets: „Du bist schuld, dass diese Brücke kaputt ist. Andere in deiner Situation wären längst von der Brücke gesprungen. Aber du hast auch noch uns, wir von der Staatssicherheit können dir helfen, wir führen dich am Prozess vorbei.“ Er macht es nicht, vertraut sich ihrer Hilfe nicht an, wird kein Spitzel. Im zweiten Prozess nach neun Monaten U-Haft erfolgt dennoch sein Freispruch.

Ich spreche von dem Indonesier, der aufgrund seiner linken Anschauung in der DDR lebte, der nach Westberlin reisen durfte und dort seine indonesischen Landsleute bespitzeln sollte. Er lehnt es ab, und man droht ihm, ihn zurückzuschicken. Dorthin, wo der Tod auf ihn wartet, in seine Heimat. Als dies nicht wirkt, kündigt man an, in Westberlin zu sagen, dass er für das MfS arbeite. Er lehnt trotzdem die Zusammenarbeit ab. Er erträgt diese „Bearbeitung“ mehrere Jahre und sagt: „Nein“.

Ich könnte Dutzende solcher Beispiele erzählen und sage sie insbesondere denen, die als Vorverurteiler „ein Volk von Verrätern“ oder als Vorentschuldiger – „Ja, hätte ich dort gelebt, dann wäre ich sicher auch so geworden“ – vor uns Ostdeutsche hintreten. Das eine ist so schädlich wie das andere. Es negiert die Tatsächlichkeit des gelebten Lebens und nivelliert die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Individuen bis zum Nichterkennen. Es gaukelt uns vor, wir hätten nicht anders gekonnt.

Es ist aber eine Mitgift des Humanum, dass wir anders können.

Es mag von unserem Menschenbild abhängen, wieweit wir die Frage beantworten, ob man Zivilcourage lehren und lernen kann. Wer sich versammelt, um an Claus Schenk Graf von Stauffenberg und an seinen Bruder Berthold, an Karl Goerdeler, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, Eugen Bolz, Rüdiger Schleicher, Caesar von Hofacker, Ulrich Wilhelm Graf von Schwerin, an all die anderen Väter und Mütter eines freieren besseren Deutschlands zu denken, der mag tausendmal „ja“ sagen auf die gestellte Frage. Gleichzeitig aber hat er Teil an einer Skepsis der Zeit, die bezweifelt, dass man aus der Geschichte lernen kann. Voller Sorge nehmen wir wahr, dass nicht nur einst, sondern beständig ein Bild von menschlicher Zukunft, von der Freiheit in der Freiheit, der Demokratie in der Demokratie zu entwerfen ist.

Im April 1942 schreibt Helmuth James von Moltke an Lyonel Curtis: „Wir haben nur dann Aussicht, unser Volk dazu zu bringen, die Schreckensherrschaft schließlich zu stürzen, wenn wir ihm ein Bild jenseits der schrecklichen, hoffnungslosen Zukunft zeigen können. Europa nach dem Krieg ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger wiederhergestellt werden?“ (Zitiert nach Klemens von Klemperer). Solch bange Frage in böser Zeit stellt sich nun erstaunlicherweise am hellen Tag einer – weiß Gott! – besseren Zeit.

Ein seiner Lagersicherheiten beraubtes Deutschland und Europa mit verloren gehenden Grundkonsensen über das Ethische wie das Politische konstatiert erschrocken: nicht nur die Diktaturen der Vergangenheit und Gegenwart, sondern der zu sichere Wohlstand, der zu sichere Besitz von Freiheit und Menschenrechten entmächtigt Bürger. Wie in den Diktaturen eine offensichtliche Verwandlung von Citoyens zu Untertanen vonstatten geht, so entmächtigt die Unterhaltungs- und Konsumkultur insgeheim und oft automatisch Bürgersinn und Verantwortungsbereitschaft. Eine Unkultur der Beliebigkeit macht sich breit. Die einen sprechen noch von Toleranz und Liberalität. Andere wissen längst, dass man so grassierenden Werteverfall verschleiern kann. Die Surrogate Nationalismus von rechts und negativer Nationalismus von links werden nicht helfen, wo Heilmittel gebraucht werden. Das Training von Politmanagern auch nicht, da eine Erosion des Inhalts- und der Wertedebatte durch derartiges Training nicht gestoppt wird.

Gedenktage wie dieser sind wichtig, wir werden immer von denen erzählen, die mehr Liebe zu den Menschen hatten, mehr Mut und Hingabe, als es anderen möglich war. Menschen, die ihr Leben geben können für Freiheit, antworten in elementarer Weise auf die Freiheitssehnsucht aller Unterdrückten aller Zeiten – sie sind vertraut mit einem Begriff und einer Wirklichkeit von Freiheit, die im wahren Wortsinn „nicht von dieser Welt“ ist.

Aber aus Sorge um den Verlust des Menschlichen am Menschen werden wir auch die Subformen des Widerstandes zu besprechen haben. Wir müssen kleine Schritte erlernen, bevor wir große Sprünge machen können. Diese einfache menschliche Erfahrung gilt wohl auch im Bereich der Ethik wie der Politik. So werden wir alles wahrzunehmen haben, was an Resistenz gelebt wurde. Und voller Erstaunen lesen wir aus unterschiedlichsten Akten, wie unvermittelt beides nebeneinander existiert: die auf den Altären von Macht und Karriere geopferte Zivilcourage und die ganz schlicht gelebte Zivilcourage.

Roaul Hilberg schreibt über Helfer: „Es gab zwei Arten von Hilfe. Zum einen die gelegentliche, die im Vorbeigehen erfolgte. Die anderen Helfer handelten entweder aus Opposition, aus reiner Sympathie oder aus dem Gefühl, eine humanitäre Pflicht zu erfüllen. Über die humanitären Helfer ist viel geschrieben worden. Man nannte sie Altruisten, gerechte Nichtjuden, barmherzige Samariter. Aber äußerlich gesehen, hatten sie wenig gemeinsam. Es waren Männer und Frauen, ältere oder jüngere, reichere oder ärmere Leute. Wie die Täter, deren Gegenteil sie waren, konnten sie ihre Motive nicht erklären. Sie nannten ihr Handeln normal oder natürlich. Und nach dem Krieg fühlten manche sich durch die öffentliche Lobpreisung peinlich berührt.“

Irgendwann kann aus einem Angepassten ein Helfer werden. Wer dies noch nicht kann, ist aber vielleicht schon ein Zeuge.

Auch das ist nicht selbstverständlich, wenn Diktatoren bestimmen, was bemerkt, gesehen, mitgeteilt und erforscht werden soll. Der Zeuge, von dem wir sprechen, ist nicht staatlich benannt, er hat oft einen subtil individuellen „Auftrag“, den er seiner Prägung, seinem Charakter, seinen Werten verdankt.

Der deutsche Fotograf und Wehrmachtssoldat Joe Heydecker, dem wir die Fotos aus dem Warschauer Ghetto verdanken, erinnert sich: „Manchmal wünschte ich, nie die Wahrheit gesucht zu haben.“

Aber er lässt sich auf das Wagnis der Wahrheitssuche ein: „Ich war in einem Gebiet, dessen Betreten streng verboten war. Nicht eine einzige Ausflucht wäre mir eingefallen, wenn ich entdeckt worden wäre. Das Kriegsgericht wäre sicher gewesen. Aber darauf bezog sich meine Angst nicht, oder doch nur entfernt. Ich hatte Angst, jetzt der vollen Wahrheit zu begegnen. Die Wahrheit war rings um mich, in den tausend elenden Menschen, die im Halbdunkel der Straßen kaum zu unterscheiden waren. Ich war mitten in einem entsetzlichen Geheimnis der deutschen Reichsmaschinerie. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, der ich gegenübertreten mußte. Aber ich wollte die Wahrheit wissen.“

Und Heydecker fotografiert, er findet Helfer unter den Kameraden, die die Fotos herausschmuggeln. Er ist ein Zeuge geworden, wo andere (Raoul Hilberg hat darüber geschrieben) sich damit begnügt hatten, Zuschauer zu sein.

Aber derartige Wahrheiten nimmt man eben nicht im Vorübergehen mit.

Joe Heydecker: „Meine Schuld ist, daß ich sah, dabeistand und fotografierte, statt zu handeln. Schon damals fühlte ich dieses furchtbare, undurchdringliche Problem. Feige die Frage: Was hätte ich tun können? Etwas. Mit dem Seitengewehr einen der Posten niederstechen. Den Karabiner gegen Vorgesetzte richten. Überlaufen und auf der anderen Seite kämpfen. Den Dienst verweigern. Sabotage treiben. Befehlen nicht gehorchen. Den Tod hinnehmen. Niemand, so sehe ich es heute, kann uns davon absolvieren.“

Aber wie unvermittelt Menschen in schrecklichste Entscheidungssituationen kommen können, beschreibt Heydecker unmittelbar nach dieser Reflexion: „Am 25. Juni 1941, wenige Tage nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges, wurde unsere Kompanie zur Säuberung eines Waldes bei Rozana in Wolhynien eingesetzt. Wir verloren einen Mann und machten Gefangene. Drei davon waren verwundet und konnten nicht mehr gehen. Sie lagen auf einer Waldlichtung, wo sich unser Trupp sammelte. Man hätte die verwundeten Russen auf abgehauene Äste setzen und forttragen lassen können. Ganz selbstverständlich begannen wir damit, aber unser Kompaniechef sagte: „Quatsch, die werden umgelegt.“ Wir standen in einem losen Halbkreis auf der Waldlichtung. Er sah langsam in die Runde, auf einen nach dem anderen. Sein Blick streifte mich und glitt weiter. Dann bestimmte er zwei andere Kompanieangehörige. Er gab ihnen Befehl, die drei Verwundeten zu erschießen. Wir zogen mit den nicht verwundeten Gefangenen ab. Ich sah, wie die Kameraden auf die hilflosen Menschen, die dort im Gras hockten, anlegten. Ich hörte die Schüsse. Befehl ausgeführt. Ich höre sie noch, und immer mit der quälenden Frage, was ich getan haben würde, wenn der Finger des Kompaniechefs auf mich gedeutet hätte. Es ist an mir vorbei gegangen. Aber wenn? Wenn? Ich weiß auch heute keine Antwort, über vierzig Jahre danach. Ich weiß nur, daß dann eine Entscheidung hätte fallen müssen, die zu treffen mir allein durch zufällige Umstände erspart blieb.“

Wahrnehmen und Zeugnis ablegen, das spricht sich einfach aus. Aber es gibt Zeiten, da wird es so selten, dass es wie etwas Kostbares gerühmt werden muss.

Wer deutsche Schuld akzeptiert und Trauer nicht verweigert, muss auch den Raum für positives Erinnern haben. Wenn wir von der Hingabe an das Gemeinwesen, von der Liebe zur Freiheit, von der Opferbereitschaft für Gerechtigkeit schweigen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn derartige Tugenden eines Tages nicht mehr existieren.

Eingangs sprach ich davon, dass wir Beauftragte sind. Wir werden gebraucht und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. Das Trainieren von Haltungen wie die Gewinnung neuer oder ganz alter Wissens- oder Glaubensgüter z. B. etwa darüber, dass unser Gemeinwesen mehr braucht als unsere räuberische oder hedonistische Annäherung. Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner, für die Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwendet. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle (Liebe zur Scholle, Heimat, Nation, Thron, Führer) und hört weg.

Aber wir sollten vielleicht die alte Begrifflichkeit neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.

Wer von Menschen beauftragt ist, die sogar in der Diktatur daran festgehalten haben, dass sie entscheidungsfähig blieben, eine Wahl hatten, der wird sich allerdings einer Sorge nicht verschließen können: dass unsere Demokratie möglicherweise durch dieselbe Haltung zugrunde gehen könnte, die die Diktatur so lange am Leben erhalten hat, nämlich unser unkritisches, unengagiertes Danebenstehen. Manchmal befällt mich die Horrorvision, dass immer mehr unserer spaßwütigen Mitmenschen sich selber Ketten anlegen, obwohl kein Diktator in Sicht ist, der sie ihnen anlegen will.

Der späte Citoyen legt sich bei dieser Vorstellung schon ein paar Sägen und Brecheisen bereit – er glaubt immer noch nicht, dass Ketten zur Grundausstattung des Menschen gehören. Er traut dem süßen Sklavenfrieden nicht, von dem die träumen, die sich selbst entmächtigen. Er hat einen anderen Auftrag empfangen. Er nimmt ihn dankbar an.