„Vergessen ist Verbannung. Erinnerung ist Erlösung.“

Carsten Bolz

„Vergessen ist Verbannung. Erinnerung ist Erlösung.“

Predigt von Superintendent Carsten Bolz im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 2014 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigt mit 2. Thessalonicher 3,1-5

Der Herr ist treu; der wird uns stärken und bewahren IN allem Bösen.

70 Jahre, liebe Gemeinde hier in der Gedenkstätte Plötzensee, 70 Jahre sind eine lange Zeit. In der Perspektive biblischer Beter umfassen sie fast ein ganzes Menschenleben: „Unser Leben währet 70 Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind es 80 Jahre.“ (Ps 90,10) heißt es im 90. Psalm. 70 Jahre sind eine lange Zeit.

Und auch wenn ein Menschenleben heute oft länger dauert, ist doch die Zahl der Zeitzeugen 70 Jahre nach dem Attentat des 20. Juli 1944 klein geworden. Alle, die selber am Attentat beteiligt waren – und die danach nicht dem Morden der nationalsozialistischen Herrscher zum Opfer gefallen sind – sie alle sind inzwischen gestorben – und auch das Leben derer, die überlebten, ist inzwischen zu Ende gegangen, so wie auch das der meisten Ehefrauen und Geschwister der Widerständler. Und selbst die jüngsten Kinder der Ermordeten werden spätestens in diesem Jahr 70 Jahre alt sein. Auch wenn damit deren Leben noch nicht an seinem Ende angekommen sein soll und wir beispielsweise Ihnen, lieber Herr Smend und Ihren Altersgenossinnen und –genossen, noch ein sehr langes Leben wünschen, wird die größer werdende Distanz zu den Ereignissen des 20. Juli 1944 eine immer größer werdende Herausforderung für die Nachgeborenen: die Erinnerung droht zu verblassen – die Erinnerungsarbeit bedarf neuer Dimensionen. Die Angehörigen-verbände bemühen sich nicht erst im 70. Jahr des Gedenkens darum – die Stadtrallye des gestrigen Tages für 14 bis 25-Jährige ist ein gelungenes Beispiel dafür. Die Erinnerung der Ziele und Taten der Menschen des Widerstands bleibt eine andauernde Herausforderung. Denn diese Erinnerung verblassen zu lassen hieße, den Tätern von damals einen späten Triumph einzuräumen. Oder wie es der jüdische Gelehrte Baal Schem Tow gesagt haben soll: „Vergessen ist Verbannung. Erinnerung ist Erlösung.“

So ist das die erste Aufgabe dieses Gedenktages: die Erinnerung an das Leiden, Erinnerung auch an den Mut der Männer und Frauen aus dem Widerstand gegen ein unmenschliches Regime. Sie gilt es weiter zu tragen und damit auch die Erinnerung an ihre Planungen für ein gerechteres Deutschland in einem freien Europa. Jahr um Jahr geschieht das in den Gedenkfeiern hier und im Bendlerblock und an vielen anderen Orten im Land. Das ist gut und wichtig – und insbesondere für Sie, die Angehörigen, immer wieder auch schmerzhaft: hier in Plötzensee den Galgen vor Augen werden unweigerlich Bilder wach, die den Atem stocken lassen und die Tränen in die Augen treiben. Erinnern ist auch ein schmerzhafter Prozess. Vielleicht tendieren wir Menschen deshalb dazu, dem aus dem Wege zu gehen, nicht in den Abgrund eigenen Leids oder fremder Schuld hinunter schauen zu wollen.

Aber nicht nur deswegen hat es so lange gedauert, bis die Erinnerung öffentlich möglich wurde. Die Männer und Frauen, die damals Widerstand geleistet haben, galten in weiten Teilen der Bevölkerung zunächst als die Bösen, die Verräter, die „gewissenlosen Offiziere“. Nach ihrem Tod wurde es noch dunkler in Deutschland. Die Familien der Hingerichteten erlebten oft bitteres Leid. Die Todesurteile des Volksgerichtshofes gegen die Attentäter wurden erst 1998 endgültig aufgehoben. Auch diese schmerzliche Erinnerung gehört mit an diesen Gedenktag!

Erst allmählich wurde es heller. Immer mehr Menschen hörten – erst aus anderen Ländern, dann aus dem eigenen Land – dass man stolz sein könne auf diesen Tag vor siebzig Jahren. Dass die angeblich Gewissenlosen die mit einem Gewissen waren, das sie nicht ruhen ließ. Dass die Frauen und Männer des 20. Juli das Land befreien wollten von „falschen und bösen Menschen“. Das sind die ersten, wichtigen Erinnerungen dieses Gedenktages!

Für uns hier heute Morgen mischt sich in diese eine weitere wichtige, sehr viel ältere Erinnerung hinein. Es ist die Erinnerung Gottes, die Erinnerung Jesu Christi, die wir seit vielen Jahren hier in Plötzensee an den Beginn dieses Gedenktages stellen, indem wir miteinander über alle konfessionellen Grenzen hinweg Gottesdienst feiern. Der heutige Erinnerungstext dazu – nach der evangelischen Ordnung der Predigttext für diesen Sonntag – findet sich im 2. Thessalonicherbrief im 3. Kapitel. Da heißt es:

„Weiter, ..., betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi. (2. Thessalonicher 3,1-5)

Dies, liebe Gemeinde, ist die andere Erinnerung dieses Morgens. Sie gesellt sich gleichermaßen zu den Erinnerungen dazu, ja verschlingt sich geradezu mit ihnen: der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Für mich gehört diese andere Erinnerung überhaupt mit allen Erinnerungen untrennbar zusammen. Diese Treue Gottes will mit-erinnert werden – auch dann, wenn wir uns an schreckliche Erfahrungen mit falschen und bösen Menschen erinnern müssen. Dazu ist Gott selber Mensch geworden, hat sich in die Tiefen menschlichen Leidens hinunter gebeugt und bezeugt: in Christus ist Gott verlässlich und treu an unserer Seite – hier und heute, wie auch vor 70 Jahren! Hier und heute, wie auch vor 70 Jahren ist es Gottes Wille, dass wir erlöst werden von falschen und bösen Leuten. Hier und heute, wie auch vor 70 Jahren will Christus alle Menschen stärken und bewahren vor dem Bösen...

Bewahrt werden VOR dem Bösen – ich zögere! Denn ganz offensichtlich stimmt diese Erinnerung nicht mit den Erfahrungen hier im Schuppen hinter mir überein. Ganz offensichtlich stimmt diese Erinnerung nicht mit den Erfahrungen vieler Menschen unserer Tage überein – in den religiös motivierten oder anderen Konflikten, in Gefangenenlagern oder auf Flüchtlingsschiffen – vor dem Bösen bewahrt wurden sie nicht!

Nicht zuletzt von Menschen, die hier ermordet wurden oder von Theologen wie Dietrich Bonhoeffer habe ich gelernt, dass der Autor des 2. Thessalonicherbriefes manches anders eingeschätzt hat, als wir heute. Ganz offenbar erweist sich Gottes Treue nicht darin, dass wir VOR allem Bösen bewahrt bleiben; dass wir herausgenommen würden aus dieser Welt mit falschen und bösen Menschen; dass wir schon jetzt unseren Platz in Gottes neuer Welt einnehmen könnten. Ich glaube vielmehr mit Dietrich Bonhoeffer, dass sich Gottes Treue IN allem Bösen erweist, dass wir IN allem Bösen von guten Mächten treu und still umgeben sind und „dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will und dass Gott dafür Menschen braucht, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ (cf. D. Bonhoeffer, Glaubenssätze...)

In gleicher Weise verstehe ich auch die Geschichte vom Unkraut unter dem Weizen, die wir im Evangelium gehört haben. Gottes Wille ist es offenbar nicht, das Unkraut, das den Weizen niederdrücken, das dem Weizen Lebenskraft rauben kann, das Unkraut schon jetzt vom Weizen zu trennen, damit dieser ungehindert wachsen könnte. Das Unkraut darf neben dem Weizen weiter wachsen. Dieser Gedanke ist furchtbar schwer auszuhalten, wenn ich ihn mir in Bezug auf die Männer und Frauen des 20. Juli übersetze, auf Menschen, deren Lebenskraft durch falsche und böse Menschen niedergedrückt, ja zunichte gemacht wurde. Aber offenbar gibt Gott die Hoffnung nicht auf, dass sich selbst aus dem Unkraut doch etwas Brauchbares entwickeln könnte; dass selbst falsche und böse Menschen einen guten Weg finden könnten. Deshalb steht Gott treu zu allen seinen Geschöpfen, zu jedem seiner Geschöpfe – und begleitet sie treu auf ihren Wegen – sogar wenn diese an den Galgen von Plötzensee führen.

Der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren IN allem Bösen – heißt daher für mich der Erinnerungssatz dieses heutigen Morgens, der sich mit den schmerzhaften Erinnerungen dieses Tages verschlingt – eine Erfahrung, die Verschiedene aus dem Widerstand so auch formuliert haben:

Helmuth James von Moltke schreibt vor seiner Hinrichtung an Freya von dem Gefühl absoluter Geborgenheit in Gott als einem nicht konfiszierbaren Schatz; und Freya schreibt: „Ich bin voller Hoffnung, dass wir gemeinsam das uns Auferlegte tragen können!“; Alfred Delp schreibt – und wir haben es hier immer wieder gesungen: „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“; oder Dietrich Bonhoeffer eben: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag; Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Dieser Glaubenszeugnisse wegen wage ich es, den Autor des 2. Thessalonicherbriefes ein wenig zu korrigieren und ihm zu sagen: Heute würden wir voller Vertrauen so formulieren: Der Herr ist treu; der wird uns stärken und bewahren IN allem Bösen. Keinen unserer Wege müssen wir ohne den treuen Gott an unserer Seite gehen, auch wenn uns das auf den ersten Blick nicht immer deutlich wird.

Veranschaulicht wird mir diese Erinnerung beispielhaft im Abendmahlsbild des Plötzenseer Totentanzes in der Evangelischen Gedenkkirche Plötzensee. Sie haben das vielleicht vor Augen. Im „Wartesaal des Todes“ also in Erwartung ihrer Hinrichtung sitzen da Gefangene vor den Rundbogenfenstern des Hinrichtungsschuppens. Einer ist unter ihnen, der Brot bricht. Und indem er das Brot bricht, leuchtet aus ihm heraus das Licht Christi – Symbol der Gegenwart Gottes, Hinweis auf Gottes Treue auf diesem letzten Weg an den Galgen.

Und genau deswegen feiern wir seit vielen Jahren an jedem Morgen des 20. Juli hier Gottesdienst und lassen uns durch Brot und Wein greifbar an Gottes Treue erinnern. Sie gilt uns heute genauso wie vor 70 Jahren und zu allen Zeiten. Es ist wichtig, diese Erinnerung zusammenzudenken, zusammen zu fühlen, zusammen zu erfahren mit den anderen, schmerzhaften Erinnerungen dieses Tages. Wir können uns dadurch ermutigen lassen, auch heute das zu tun, was geboten ist: Gottes Treue in der Welt spürbar werden lassen durch unseren Einsatz für Gerechtigkeit und Menschfreundlichkeit in Europa und in der Welt. Denn auch weiterhin glaube ich mit Dietrich Bonhoeffer, dass der treue Gott „auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Ja, liebe Gemeinde, das lassen Sie uns nach diesem Erinnern auch in den Jahren 71 und folgende nach dem 20. Juli 1944 tun: aufrichtig beten und unsere Verantwortung für diese Welt ernst nehmen. Dazu helfe uns der treue Gott! Amen.






Weitere Reden

20.07.2014
Dr. Axel Smend
Dr. Axel Smend