Wege in den Widerstand

Hans von Herwarth

Wege in den Widerstand

Festvortrag von Staatssekretär a.D. Hans von Herwarth am 19. Juli 1994 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

für mich ist es eine freudige Überraschung, dass ich mit 90 Jahren vor einem so großen Auditorium sprechen kann.

1931 wurde ich an die Botschaft Moskau versetzt. Wie viele Mitglieder des Auswärtigen Amtes, die im Ausland waren, erkannten wir leichter und früher den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Diktatur. Vieles, was zur damaligen Zeit in der Sowjetunion geschah, war mit den Vorgängen in Deutschland vergleichbar. Weil ich eine „nichtarische“ Großmutter hatte, war es für mich von besonderer Bedeutung, dass sich die drei Botschafter, unter denen ich in Moskau diente, von Dierksen, Nadolny und Graf von der Schulenburg, schützend vor mich stellten. Nadolny war davon überzeugt, dass die nationalsozialistischen Machthaber nicht länger als drei bis fünf Jahre an der Macht bleiben würden. Dies war eine Fehleinschätzung, die allerdings viele geteilt haben. Nadolny war einer der ersten, die offen gegen Hitlers Politik opponierten. Er hielt Hitlers Politik gegenüber der Sowjetunion für falsch und erreichte durch Umgehung des Dienstweges über den Reichspräsidenten von Hindenburg, dass er von Hitler zum Vortrag empfangen wurde. Allein mit Hitler, trug er ihm vor, dass man sich mit der Sowjetunion verständigen müsse und es keinen Sinn habe, eine Politik der Ausgrenzung zu betreiben. Darauf Hitler: „Mit den Schweinen will ich nichts zu tun haben.“ Nadolny: „Ich bin vom Lande. Die Schweine sind nützliche Tiere.“ Hitler wörtlich: „Wie sprechen Sie mit mir?“ Darauf Nadolny: „Nicht als Botschafter, sondern als guter Deutscher.“ Bei dieser Unterhaltung liefen sie im Zimmer herum, schlugen mit der Faust auf den Tisch und brüllten sich an. Natürlich war Nadolny erfolglos. Als er das nächste Mal von Hitler in Gegenwart von Reichsaußenminister von Neurath empfangen wurde, hatte Hitler seine Auffassung um keinen Deut geändert. Nadolny zog die Konsequenzen. Mit der Erklärung: „Ich bin kein Briefträger!“ reichte er seinen Abschied ein. Für diesen mutigen Schritt haben wir ihn damals bewundert. Er folgte damit dem Beispiel des Botschafters von Prittwitz und Gaffron in Washington, der schon unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen Rücktritt erklärt hatte.

Botschafter Graf von der Schulenburg stellte sich schützend vor mich, als Ende 1937 das Auswärtige Amt in einem Brief an die Botschaft Moskau meine Entlassung ankündigte. In der ihm eigenen ruhigen Art erklärte er, dann würde auch er seinen Rücktritt einreichen. Das blieb nicht ohne Wirkung. Kurz bevor von Neurath durch Ribbentrop ersetzt wurde, wurde ich zum Beamten auf Lebenszeit ernannt mit der Maßgabe, dass ich keinen leitenden Posten bekleiden durfte und nach Möglichkeit in Moskau zu bleiben habe.

Dort kam ich zum ersten Mal mit der Opposition in Berührung. Wir sprachen damals nicht von Widerstand, sondern nur von Opposition. Im Jahre 1938 war ich im Auto von Moskau bis Odessa gefahren und hatte dabei festgestellt, dass in der Sowjetunion keine sichtbaren militärischen Vorbereitungen getroffen worden waren, um im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei dieser militärisch zu Hilfe zu kommen. Zur persönlichen Berichterstattung reiste ich häufig im Auftrag Schulenburgs nach Berlin, um mündlich zu erläutern, was wir schriftlichen Berichten nicht anvertrauen konnten. Meine ersten Ansprechpartner im Auswärtigen Amt waren Eduard Brücklmeier, der mit mir zusammen 1927 in den Dienst eingetreten war, und Erich Kordt. Beide waren in Ribbentrops Ministerbüro eingesetzt. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich von Brücklmeier, dass Theo Kordt, der Bruder von Erich Kordt und Botschafter in London, den Auftrag erhalten hatte, das Foreign Office zu drängen, Hitlers Ansprüchen auf das Sudetengebiet energisch entgegenzutreten. Denn Hitler habe es nicht nur auf die Sudetengebiete abgesehen, sondern auf die gesamte Tschechoslowakei. Im Verlauf der Unterhaltung erfuhr ich, dass diese Weisung auf Staatssekretär von Weizsäcker zurückging. Weizsäcker war der unumstrittene Leiter der Opposition im Auswärtigen Amt. Unter seinem Schutz und auf seine Weisung haben wir gearbeitet. Mein spezieller Auftrag war es, meine englischen und französischen Freunde parallel zu Theo Kordts Sondierungen zu unterrichten, dass Nachgiebigkeit gegenüber Hitler das falsche Signal sei. Da die jüngeren Diplomaten in Moskau mehr als in anderen Hauptstädten miteinander befreundet waren und wir regelmäßig unsere Auffassung über die Sowjetunion austauschten, war es für mich nicht weiter schwierig, meine Freunde Fitzroy Mclean (Großbritannien) sowie Baron Juniac von der französischen Seite ins Vertrauen zu ziehen, die ihre jeweiligen Botschafter darüber eingehend unterrichteten. Obwohl der Quai d'Orsay und das Foreign Office durch Schriftberichte hinreichend gewarnt waren, unterließen die Westmächte deutliche Signale an die Adresse Hitlers. Meine Bemühungen waren damit genauso erfolglos wie diejenigen Theo Kordts und mancher anderer. In der Erfolglosigkeit lag die besondere Tragik der Opposition. 1938 wurde die vielleicht größte Chance, das Hitlerregime zu stürzen, verpasst, als die militärische Opposition unter den Generälen Beck und Witzleben mit der Unterstützung des Auswärtigen Amtes entschlossen war, Hitler im Falle eines Angriffs auf die Tschechoslowakei zu beseitigen. München, September 1938, vereitelte dies.

Ohne Ergebnis blieben schließlich auch meine Versuche, den Abschluss eines Paktes zwischen Hitler und Stalin zu verhindern. Zunächst warnte ich meine Freunde in der britischen und französischen Botschaft, dass nicht England und Frankreich, sondern dass Hitler einen Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnen würde, weil er bereit sei, die Freiheit Polens und der Baltischen Staaten zu verkaufen. Meinen Freund Relli von der italienischen Botschaft unterrichtete ich im gleichen Sinne.

Als die Kontakte zu den Botschaften Englands, Frankreichs und Italiens zu gefährlich zu werden begannen, informierte ich meinen Freund Chip Bohlen von der amerikanischen Botschaft fortlaufend über den Fortgang der Verhandlungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Anfangs schenkte auch er meinen Cassandrarufen keinen Glauben, weil auch er einen Pakt zwischen Hitler und Stalin für unmöglich hielt, aber langsam überzeugte ich ihn.

Die Versuche Frankreichs und Englands, ihrerseits einen Vertrag mit Stalin abzuschließen, mussten scheitern, weil beide als demokratische Staaten territoriale Angebote auf Kosten anderer Länder nicht machen konnten.

Hitlers Pakt mit der Sowjetunion kam am 23. August zustande. Als ich mich unmittelbar danach bei Schulenburg abmeldete, sagte ich ihm: „Herr Graf (wir redeten ihn damals in der dritten Person mit ‚Herr Graf’ an, weil dies bei den Nazis als unerwünscht galt und wir dachten, dies sei die richtige Anrede für diesen Grandseigneur), meine Zeit ist abgelaufen, ich werde jetzt Soldat. Außerdem kann ich in diesen Zeiten im Auswärtigen Dienst nicht mehr bleiben, denn alle unsere Versuche, den Krieg zu verhindern, sind vergebens gewesen.“

Die Diplomatie habe ihr Ziel nicht erreichen können, einzig die Militärs seien nun gefordert.

Schulenburgs Antwort: „Jonny, lass Dir noch ein bisschen Zeit, denn der Krieg wird lange dauern. Er wird genauso ausgehen, wie der letzte Krieg und Deutschland in den Abgrund führen.“ Mit diesen Abschiedsworten ging ich von Moskau weg.

Ich kam zum Reiterregiment 1, bei dem ich am 26. August eintraf, als im letzten Augenblick die Kriegsvorbereitungen noch einmal unterbrochen wurden, weil Mussolini eine Konferenz nach Münchner Vorbild zustande zu bringen hoffte, um den Frieden zu retten.

Nachdem die Befehle zum Einfall in Polen zurückgenommen waren, bat mich mein Regimentskommandeur mit den Worten: „Herwarth, Sie sind Diplomat, aber geben Sie keine diplomatische Antwort“, ihm zu sagen, wie ich über den Krieg dachte. Meine Antwort: „Die Engländer und Franzosen werden uns den Krieg erklären, die Amerikaner folgen. Es ist völlig klar, dass wir den Krieg verlieren wie den letzten, und zudem wäre es ein Unglück, wenn Hitler den Krieg gewönne.“ Er darauf: „Ich glaube noch immer, dass Mussolini vermitteln kann.“ Ich skeptisch: „Das wird diesmal nicht funktionieren.“ Zum Abschluss bat er mich, mit den jungen Offizieren nicht darüber zu sprechen, um ihnen nicht die Illusion zu nehmen. Denn viele von ihnen müssten „ins Gras beißen“. Er prophezeite mir, dass ich nach dem Krieg ins Auswärtige Amt zurückkehren, er hingegen am Bahnhof Friedrichstraße stehen und Streichhölzer oder die BZ am Mittag verkaufen werde. „Und dann gehen Sie bitte nicht achtlos an ihrem früheren Regimentskommandeur vorbei.“

Ich schildere dies, weil es kennzeichnend ist für die damalige Stimmung im Regiment, wo wir uns in aller Offenheit aussprechen konnten. Als eines Tages, kurz vor Beginn des Russlandfeldzuges, ein von Goebbels' Propagandaministerium geschickter Propagandaredner zu uns kam, um über Feldzüge im Osten am Beispiel der Kreuzzüge zu sprechen, quittierten wir seine Ausführungen ohne irgendeinen Beifall. Als er sich im Nachhinein darüber verwundert zeigte, antwortete Rittmeister Schlenther lakonisch: „Von Begeisterung ist bei der ersten Kavalleriedivision keine Rede. Doch wenn wir angreifen, greifen wir prima an.“

Niemand hat unsere Auffassung treffender zusammengefasst als Alexander Stahlberg in seinem Buch „Die verdammte Pflicht“. Nicht Kriegsbegeisterung, sondern vorbildliche Pflichterfüllung war unsere Maxime. Als die Leutnants von Schmidt-Pauli, Graf Solms und ich von der Dritten Schwadron – unsere Väter hatten vor dem 1. Weltkrieg bei den 3. Garde-Ulanen in Potsdam gestanden – am 3. September 1939 durch eine Rundfunkmeldung von der Kriegserklärung der Briten und Franzosen erfuhren, sagte ich nur: „Jetzt haben wir den Krieg verloren.“ Unlängst, bei meinem 90. Geburtstag, wurde ich von ihnen an diese für sie historische Begebenheit erinnert.

Bis 1942 bin ich beim Reiterregiment 1 gewesen. Danach holte mich Schulenburg zurück in den Auswärtigen Dienst. Er hatte in der Zentrale eine Russlandabteilung übernommen, die von Ribbentrop geschaffen worden war, nicht etwa um eine vernünftige Politik zu gestalten, sondern lediglich aus Konkurrenzdenken gegenüber den außenpolitischen Ambitionen von Himmler und Rosenberg. Nach kurzer Zeit wurde meine Kommandierung ins Auswärtige Amt jedoch wieder aufgehoben, weil Ribbentrop eine Erklärung, die ich abgegeben hatte, missbilligte. Ich zog freudig wieder ab und wurde nun zum Stab des Wehrmachtsbefehlshabers im Generalgouvernement Polen, General Kurt Freiherr von Gienanth, einem alten Kavallerieoffizier, der mit Köstring und Schulenburg gut befreundet war, versetzt. Dort war meine Aufgabe, bei der Aufstellung freiwilliger Einheiten aus früheren Sowjetsoldaten mitzuwirken, die nun bereit waren, auf deutscher Seite zu kämpfen. Gienanth hatte Generaloberst Blaskowitz abgelöst, der schon im Mai 1940 sein Kommando abgeben musste, weil er es gewagt hatte, sich gegen Generalgouverneur Hans Frank zu stellen und sich entschieden für eine anständige Behandlung der jüdischen Arbeiter und der Polen eingesetzt hatte. Gienanth verfolgte dieselbe Politik, und obwohl er dies mit größerer Vorsicht tat, konnte doch auch er seine Ablösung nach kurzer Zeit nicht verhindern. Schließlich wurde ich von Major im Generalstab Claus Schenk von Stauffenberg angefordert, der als Leiter der Abteilung II der Organisationsabteilung des Generalstabs für die Aufstellung neuer Truppenteile und damit der Aufstellung neuer Freiwilligeneinheiten zuständig war. Durch meine Tätigkeit in Moskau und im Generalgouvernement galt ich als Sachverständiger für Russland und sowjetische Freiwillige. Mit Stauffenberg, der zudem ein entfernter Vetter meiner Frau war, verstand ich mich vom ersten Augenblick an. Mit aller Offenheit konnte ich ihm sagen, dass wir diesen Krieg verlieren würden und auch nicht gewinnen dürften. Damals, Mai-Juni 1942, glaubte er allerdings noch, dass wir vielleicht etwas erreichen könnten, indem man die schlimmsten Ratgeber von Hitler, wie Himmler, Koch, Rosenberg und Sauckel durch vernünftige Leute ersetzte. Doch langsam gewann auch er die Einsicht, dass Hitler selbst der eigentlich Verantwortliche war. Schon damals ging Stauffenberg mit unerhörtem Mut und allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen unmenschliches Verhalten bei den Militärs und in der Zivilverwaltung vor. Ich erinnere mich noch an ein Telefongespräch mit dem für die Kriegsgefangenen verantwortlichen General, der die Tätowierung russischer Gefangener auf dem Gesäß veranlasst hatte und den er mit dem mutigen Satz konfrontierte: „Wenn ich Herrn General ‚Unter den Linden’ treffe, werde ich Herrn General bitten, die Hose herunterzunehmen, um festzustellen, ob Herr General ein Kriegsgefangener ist oder ein General.“ Daraufhin wurde die infame Bestimmung zurückgenommen. Diese Begebenheit zeigt den außerordentlichen Mut Stauffenbergs. Stauffenberg war so überragend, dass bei einer Sitzung mit zahlreichen Generälen er bereits nach zehn Minuten die ganze Verhandlung führte und die Generäle sich seinen Vorschlägen fügten, ein für jede Armee bemerkenswerter Vorgang, umso mehr für die deutsche Armee. Charisma und Überzeugungskraft Stauffenbergs waren außerordentlich. Nach einiger Zeit eröffnete ich ihm: „Du kannst hier nicht mit einem Oberleutnant Politik mit den Freiwilligen machen. Das zieht in der deutschen Armee nicht. Was Du brauchst, ist eine bekannte Persönlichkeit wie den General Köstring.“ Daraufhin schilderte ich Stauffenberg Werdegang und Gesinnung Köstrings, der es gewagt hatte, unmittelbar nach Schließung der deutschen Botschaft in Moskau bei Hitler vorstellig zu werden und vor den Tücken des Winterfeldzugs und der Weite des russischen Raumes zu warnen. „Der russische Bär wird sich nach den ersten Schlägen auf die Hinterbeine stellen und mächtig zurückschlagen. Und vergessen Sie nicht, dass der Winter in Russland kalt ist und die Sowjetunion nicht am Ural endet.“ Daraufhin wurde er in die Führerreserve versetzt. Stauffenberg beauftragte mich dann, Köstring aufzusuchen und zu bitten, den von Stauffenberg vorgesehenen Part bei der Aufstellung der Freiwilligeneinheiten zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern war der General dazu bereit. Der weise und erfahrene Russlandkenner Köstring und der geniale junge Offizier Stauffenberg verstanden sich von Anfang an gut. Sie waren sich einig über ihre gemeinsamen Aufgaben. Köstring sollte später am Sturz Hitlers teilnehmen. Er leistete wertvolle Dienste, als es die Liste derjenigen Generäle und Feldmarschälle festzulegen galt, die sich an einer geplanten Erhebung beteiligen würden. Köstrings Rolle ist heute vergessen, weil kaum Aufzeichnungen darüber bestehen, und fast alle, die damals eingeweiht waren, heute nicht mehr am Leben sind.

Als Stauffenberg Ende 1942 ein Frontkommando in Afrika übernahm, war er über die zögerliche Haltung der Generäle völlig verzweifelt. 1943 kehrte er schwer verwundet zurück. Als ich ihn jedoch kurz darauf in München im Lazarett besuchte, war ich erstaunt, in ihm immer noch die gleiche Flamme des Widerstands brennen zu sehen. Er sagte: „Es muss etwas geschehen, die Generäle machen nichts, die jüngeren Offiziere müssen handeln.“ Mir schienen diese Worte eigentlich unverständlich, denn er rang ja mit dem Tode. Aber er war überzeugt und entschlossen, und der Wille, gesund zu werden, um zu handeln, ließ ihn die schwere Verwundung überleben.

Herbst 1943 – ich war in der Zwischenzeit von meiner Verwendung aus dem Kaukasus zurückgekehrt und arbeitete wieder in der Organisationsabteilung unter Stauffenbergs Nachfolger Oberstleutnant i.G. Klamroth – fragte mich Hauptmann Kuhn im Auftrag Stauffenbergs auf einem Spaziergang, ob ich bereit sei, vom Wort zur Tat zu schreiten. Die Generäle hätten nichts unternommen. Nun sei es an den jüngeren Offizieren, zu handeln. Dies versetzte mir einen gehörigen Schreck. In meinem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Meine erste Reaktion war nur: „Mein Gott, was hast du nur geredet. Was ist jetzt die Folge.“ Ich dachte an den Eid, den ich geleistet hatte und den ich zwar schon verletzt hatte, aber nun endgültig brechen würde. Ich erbat mir eine Nacht Bedenkzeit von Kuhn. Am Tag danach stand dann mein Entschluss fest: Es gab kein Zurück mehr. Wenn ich mich jetzt verweigerte, hätte ich meine eigenen Überzeugungen verraten. Der Eid war kein wirkliches Problem für mich. Hitler hatte seinen eigenen Eid gegenüber dem deutschen Volk durch vielfache Verbrechen gebrochen, und kein Eid konnte mich an diesen Unmenschen binden. Ich erinnerte mich an das, was uns als Rekruten in den Instruktionsstunden über den Eid gesagt worden war: Befehle sind grundsätzlich ohne Widerrede auszuführen, wenn nicht die Person, die sie gibt, offensichtlich wahnsinnig ist oder der Befehl gegeben wird, ein Verbrechen zu begehen. Und genau diese beiden Tatbestände waren zu jener Zeit erfüllt.

Neben den Planungsarbeiten und Erkundungen über die örtlichen Verhältnisse spielte die Beschaffenheit und Aufbewahrung des für das Attentat vorgesehenen Sprengstoffes eine wichtige Rolle. Im Winter 1943 wurde das gefährliche Gut mehrmals verlagert. Schließlich wurde der Sprengstoff im Mauerwald vergraben. Eines Tages rief mich Kuhn an mit der Nachricht, dass etwas Furchtbares passiert sei und die Militärpolizei den Aufbewahrungsort herausgefunden habe. Sofort berichteten wir Oberstleutnant Werner Schrader von der Heereswesenabteilung des Generalstabs des Heeres. Seinen Namen hatte uns Stauffenberg genannt für den Fall, dass Schwierigkeiten entstünden. Da die Feldpolizei Schrader unterstand, hatte er bereits von dem Fund gehört. Nur durch schnelles Handeln gelang es ihm zu verhindern, dass die Geheime Staatspolizei mit der Untersuchung des Vorfalls beauftragt wurde. Ich sehe noch, wie Schrader die Schweißperlen auf die Stirn traten, er jedoch, ein einfallsreicher Mann, unverzüglich den Chef des Generalstabs, General Kurt Zeitzler, aufsuchte und eine plausible Erklärung für die Existenz der Bombe in einem auf Zeitzler geplanten Attentat des britischen Geheimdienstes fand. Zeitzler, ein wenig geschmeichelt, dass der britische Geheimdienst ihn eines Attentate für würdig hielt, beauftragte Schrader mit der Untersuchung, die natürlich im Sande verlief. Eine Zeitlang hatte ich auch den Sprengstoff unter meinem Bett. Oberst Stieff, der auf Urlaub ging, hatte ihn mir mit den Worten anvertraut: „Jonny, wenn ich auf Urlaub gehe, dann besteht die Gefahr, dass meine Ordonnanz in meinem Koffer nach Zigaretten und Cognac sucht. Könnten Sie nicht den Sprengstoff solange aufbewahren?“ Jedes Mal, wenn ich weg war, lagerte der Sprengstoff unter dem Bett von General Köstring, der nichtsdestotrotz, ebenso wie ich, nachts ruhig schlief.

Und dann passierte etwas sehr Unerwartetes. Wir mussten uns neuen Sprengstoff besorgen, und so fuhr Hauptmann Kuhn an die Front zu einem Pionierbataillon. Nach erfolgreicher Aktion telegraphierte er mir, ich solle den Sprengstoff abholen, denn er müsse direkt vom Bahnhof ins Führerhauptquartier und da wolle er nicht unbedingt mit einer Sprengladung ankommen. Kuhns Fernschreiben gelangte wider Erwarten auf dem Tisch des Chefs des Stabes des Generals der Freiwilligenverbände, Oberst Heiz Herre. Herre ahnte natürlich nicht, warum Kuhn mich gebeten hatte, ihn abzuholen und befand es deshalb auch nicht für notwendig, dass ich mich eigens zum Empfang von Kuhn zum Bahnhof begab. So kam der arme Kuhn an, ohne dass ich den Sprengstoff in Empfang nehmen konnte. Das war natürlich sehr unangenehm für ihn.

Auf die einzelnen Attentatsversuche, die in den Jahren gemacht wurden, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Hitler jedoch war vom Teufel geschützt, und keines der früheren Attentate gelang. Oft ist auch behauptet worden, der 20. Juli sei kein Aufstand des Gewissens gewesen und erst als Folge von Stalingrad habe sich der militärische Widerstand wirklich organisiert. Dazu einige Randbemerkungen. Es gab sehr viele Offiziere und natürlich viele Zivilisten, die bereits vor Stalingrad der Überzeugung waren, dass Hitler beseitigt werden müsse und der Nationalsozialismus ein verbrecherisches Regime sei. Ich kenne viele Leute, die schon lange vor Stalingrad gegen den Nationalsozialismus waren und der Auffassung anhingen, dass etwas geschehen müsse, so mein Botschafter Graf von der Schulenburg. Schulenburg war vor allem über die Behandlung der Polen empört. Als ehemaliger Vizekonsul in Warschau in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg musste er in der Zeit des Nationalsozialismus erleben, wie viele seiner Bekannten sowohl vom sowjetischen Geheimdienst als auch von der Gestapo festgenommen wurden. Als Mann mit festen christlichen Grundüberzeugungen trat er entschieden für die Achtung der Menschenleben ein und konnte durch sein mutiges Vorgehen zahlreiche Polen aus Gestapo- und GPU-Haft befreien. Damit war ein erster Schritt in den aktiven Widerstand getan. Während des Russlandfeldzuges reifte sein endgültiger Entschluss, aus Empörung über die Behandlung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten und der befohlenen Aushungerung sowjetischer Kriegsgefangener, dass etwas gegen Hitler unternommen werden müsse. Das schreiende Unrecht veranlasste diesen ruhigen Mann – wir nannten ihn, der lange Zeit in Persien auf Posten war, den orientalischen Weisen – sich dem aktiven Widerstand anzuschließen.

Ich möchte betonen, dass im und auch nach dem Krieg oft verkannt wurde, dass elf Angehörige des Auswärtigen Amts, zwölf sogar, wenn man Herrn von Scheliha dazu rechnet, wegen Teilnahme am Umsturz gegen Hitler hingerichtet worden sind. Es wird auch vergessen, dass 80 Angehörige des Auswärtigen Amtes nach 1933 im Laufe der Zeit wegen ihrer politischen Gesinnung oder ihrer „nichtarischen“ Abstammung aus dem Dienst entlassen worden waren. Diese aufgrund nationalsozialistischer Bestimmungen hinausgeworfenen Diplomaten sind alle, mit Ausnahme derjenigen, die schon im Pensionsalter waren, nach dem Krieg wieder ins Auswärtige Amt zurückgekehrt. Das Auswärtige Amt hat auch in dieser Zeit, als einer nach dem anderen gehen musste, dafür gesorgt, dass sie im In- oder Ausland eine Anstellung bekamen. Das haben diese Männer dem Amt nicht vergessen. Viele, ich glaube ein Dutzend von ihnen, sind nach dem Krieg Botschafter geworden. Das zeigt die Einstellung und Haltung des Auswärtigen Amtes, die wenig zur Kenntnis genommen wird, weil das Auswärtige Amt immer zu vornehm war, sich zu verteidigen und darauf hinzuweisen, dass es nicht unerheblich zum Widerstand gegen Hitler beigetragen hat. Das Auswärtige Amt ist das Ministerium, das die größten Blutopfer gebracht hat. Immer wieder wird heute so viel darüber geredet, wer am Widerstand beteiligt war und wer nicht. Ich habe bereits in einer Rundfunksendung des Deutschlandfunks darauf hingewiesen, dass der Auftraggeber für den Widerstand im Auswärtigen Amt Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker war. Auf seine Weisung und unter seinem Schutz haben wir gearbeitet. Wenn das nicht anerkannt wird, dann bin ich auch nicht im Widerstand gewesen.

Auch Rommels Zugehörigkeit zum Widerstand wird oft bestritten. Dazu kann ich aus eigenem Erleben Folgendes berichten. Köstring, der vor dem Krieg Adjudant von Generaloberst von Seeckt gewesen war und alle Generäle kannte, erzählte mir unmittelbar nach der Katastrophe in Afrika von einer Unterhaltung mit Rommel. „Jonny“, sagte Köstring, „der Rommel hat sich aber gewandelt. Er als überzeugter Nazi hat jetzt eingesehen, dass der Krieg haushoch verloren und Hitler unfähig als oberster Kriegsherr ist.“ Deshalb glaube ich, dass Rommel und sein Generalstabschef General Speidel, den ich gut kannte, am 20. Juli 1944 sicherlich die Front im Westen zum Stehen gebracht hätten. Leider wurde jedoch Rommel am 17. Juli schwer verwundet und konnte so nicht mehr in Aktion treten. Allein die Tatsache, dass er von Hitler gezwungen wurde, sich entweder vor dem Volksgerichtshof zu verantworten oder Gift zu nehmen, genügt eigentlich als Beweis dafür, dass er bereit war, zu handeln. Dies wird heute immer wieder bestritten und zerredet. Ich finde das traurig. Wir sollten eigentlich stolz sein auf die Generalfeldmarschälle, die wie Rommel, Witzleben und andere im Widerstand mitgemacht haben.

Schließlich noch ein Wort zum Bund Deutscher Offiziere. Ich habe gestern im Deutschlandfunk gesagt, dass ich bestimmt nicht beigetreten wäre. Ich kannte die Sowjetunion und wollte mich weder der nationalsozialistischen noch der sowjetischen Propaganda unterwerfen. Von meinen Bekannten schließlich ist keiner dem Bund Deutscher Offiziere beigetreten. Man wird sich jeden Einzelfall genau anschauen müssen. Ich habe jedoch Verständnis dafür, dass viele der in Stalingrad Gefangenen aus Wut und Verzweiflung über Hitler beigetreten sind. Dass der Bund von Kommunisten wie Pieck und Ulbricht gesteuert wurde, war ihnen wohl nicht bewusst.

Schließlich möchte ich noch kurz darüber berichten, wie ich den 20. Juli 1944 erlebte. Am 13. und 14. Juli war ich in Salzburg mit General Köstring. Das für diesen Tag geplante Attentat fand ja deshalb nicht statt, weil Himmler und Göring bei der Besprechung im Führerhauptquartier nicht dabei waren. Köstring flog zurück ins Führerhauptquartier nach Potsdam, und ich erinnere mich noch gut daran, wie ich beim Abschied auf dem Flugplatz bei laufenden Motoren sagte: „Nächstens werden wir den Teufel in die Luft sprengen.“ Darauf Köstring: „Jonny, ihr seid doch keine geborenen Revolutionäre.“ Anschließend musste ich zu einer Dienstreise zu Kesselrings Generalstabschef Röttiger nach Italien, weil die 162. Turkinfanteriedivision Anzeichen von Unsicherheit zeigte. Ich war seit vier Wochen bereits angefordert und die Dienstreise vertrug keinen weiteren Aufschub. Wir hatten ja alle eine Hauptbeschäftigung als Offiziere und, salopp gesagt, waren wir lediglich in der Freizeit damit befasst, Pläne zur Beseitigung Hitlers auszuarbeiten. Heutzutage wird dies oft vergessen und so getan, als ob wir Tag und Nacht der Frage nachgegangen wären, wie Hitler beseitigt werden könnte.

Auf der Rückreise von Italien wurde ich im Jeep auf dem Weg von Florenz nach Verona wiederholt von Tieffliegern angegriffen. Mein Auto wurde von Tieffliegern in Brand geschossen. Ich hatte Mühe, den Po zu überqueren, dessen Brücken und Fähren ständig von feindlichen Flugzeugen angegriffen wurden. Da ich nicht wusste, dass ein neuer Attentatsversuch für den 20. Juli angesetzt war, beunruhigte mich die Verzögerung meiner Rückkehr nicht über Gebühr. Auf dem Rückweg unterbrach ich die Reise in Kitzbühel, um meine Familie zu sehen. Unmittelbar nach meiner Ankunft am späten Nachmittag des 19. Juli legte ich mich schlafen. Kurze Zeit danach klingelte das Telefon. Meine Frau ging an den Apparat. General Stieff wollte mich sprechen, um mich nach Salzburg zu beordern. Angesichts meiner Erschöpfung konnte sich meine Frau nicht dazu entschließen, mich aufzuwecken. Sie behauptete, ich sei noch nicht aus Italien zurückgekehrt. Ohne es zu wissen, hat sie mir so wahrscheinlich das Leben gerettet. Noch am Abend des 20. Juli hörten wir am Rundfunk, dass Stauffenberg ein fehlgeschlagenes Attentat auf Hitler unternommen hatte. Ich hatte das Gefühl, die Welt sei eingestürzt. Es gab drei Möglichkeiten: Ich konnte versuchen, mich in den österreichischen Bergen zu verstecken und mit der dortigen Widerstandsbewegung Verbindung aufnehmen. Ich konnte nach Jugoslawien zum Panwitzschen Kasakenkorps fahren und von dort aus versuchen, mich zu Fitzroy Maclean durchzuschlagen, von dem ich wusste, daß er sich bei Titos Partisanen aufhielt. Schließlich konnte ich in die Höhle des Löwen nach Potsdam zurückkehren, wohin der Stab des Generals der Freiwilligenverbände verlegt worden war. Nach tagelangem Überlegen entschied ich mich für den dritten Weg. Mit meiner Flucht hätte ich nur das Leben meiner Familie gefährdet. Als ich in Potsdam ankam, fand ich auf meinem leeren Schreibtisch folgende Notiz: „Anruf vom 19. Juli von Oberleutnant von Haeften, Adjutant Oberst Graf Stauffenberg. Rittmeister von Herwarth wird gebeten, Oberst Graf Stauffenberg anzurufen.“ Diese Mitteilung hatte seit sechs Tagen auf meinem Schreibtisch gelegen. Noch immer nicht wieder gefasst, ging ich zu General Köstring und meldete mich bei ihm zurück. Er empfing mich mit den Worten: „Was, Sie leben noch?“ Dann riet er mir, dass es das Beste sei, sofort aus Potsdam zu verschwinden. Ich stimmte zu, machte ihm aber den Vorschlag, ebenfalls Potsdam zu verlassen. So fuhren wir zur Heeresgruppe nach Belgrad und dann weiter nach Griechenland. Keiner der Offiziere, die verhaftet und unter schwersten Bedingungen verhört wurden, hat meinen Namen verraten. Und ich war ja irgendwie verdächtig, denn ein Vetter ersten Grades meiner Frau, Oberst Graf Marogna-Redwitz, war als Abwehroffizier in Wien verhaftet worden, Schulenburg, dessen Privatsekretär ich gewesen war, ebenso, und mit Stauffenberg hatte ich eng zusammengearbeitet. Ich hatte wohl einen Schutzengel gehabt und bin am 20. Juli 1944 noch einmal davongekommen.

Nach dem fehlgeschlagenen Attentat hatte ich das Gefühl, jetzt hat die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Nach langen Überlegungen kam ich zum Ergebnis, dass wir den Weg wahrscheinlich bis zum bitteren Ende gehen mussten. Andernfalls wäre wahrscheinlich eine zweite Dolchstoßlegende entstanden. Wäre das Attentat gelungen, so bleibt offen, ob der Umsturz bei Armee und Volk durchzusetzen gewesen wäre. Oft habe ich mir auch die Frage gestellt, warum das deutsche Volk in seiner Mehrheit bis zum Schluss mitgemacht hatte.

Meine Erklärung war die, dass eine Frau, die ihren Mann, oder einen oder beide Söhne verloren hatte, doch nicht glauben konnte, dass alles umsonst gewesen und die Söhne für die falsche Sache gefallen waren, – das war unvorstellbar. Deshalb auch der Glaube an eine Wendung des Krieges durch Vernichtungswaffen und andere neue Waffen.

Nach dem Krieg wurden wir vom Widerstand, die überlebt hatten, natürlich oft gefragt, warum wir nicht zusammengefunden und nicht versucht hatten, irgendwie die Ereignisse mitzubestimmen. Das lag vor allem daran, dass wir über ganz Deutschland verteilt und froh darüber waren, mit dem Leben davongekommen zu sein. Wir mussten für unsere Familien sorgen und waren damit beschäftigt, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Schließlich fand am Anfang der Widerstand wenig Anerkennung.

Ich erinnere mich noch genau daran, dass zu Beginn der fünfziger Jahre vom Bundestag eine große Untersuchung gegen frühere Beamte des Auswärtigen Amtes geführt wurde, darunter auch gegen Theo Kordt und Hasso von Etzdorf, die ja wirklich im Zentrum des Widerstandes gestanden hatten, und gegen mich. Wir empfanden dies als unerhörte Demütigung. Unlängst habe ich auf die Frage einer Zeitung, ob der Widerstand im deutschen Volk noch starkes Interesse fände, geantwortet: „Ich fürchte, leider nein.“ Ich glaube, dass der heutige Kenntnisstand über den Widerstand nicht sehr hoch ist. Andererseits durfte ich unlängst erleben, dass aus Anlass der Veröffentlichung der Geheimprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes das polnische Fernsehen mich aufsuchte und mir vorschlug, mein Buch „Zwischen Hitler und Stalin“ ins Polnische zu übersetzen. Erfreut, aber skeptisch, war ich nicht sehr überzeugt, dass das Buch in Polen viele Käufer finden würde. Schließlich bekam ich den Anruf, dass sie einen Verlag gefunden hätten, den Verlag des polnischen Verteidigungsministeriums. Nach einem Jahr folgte wieder ein Anruf, und ich dachte, jetzt teilen sie mir mit, sie wären auf allen Exemplaren sitzen geblieben. Statt dessen erfuhr ich, dass in sechs Wochen 33 000 Exemplare verkauft worden seien. Kurz darauf hielt ich mich in Warschau und Krakau auf, um Vorträge zu halten und Interviews zu geben. Zum Abschluss dieses Besuchs überreichte mir ein polnischer Oberst in Uniform in Warschau die Johann-Sobieski-Medaille mit den Worten: „Herr Rittmeister, ich überreiche ihnen das zur Erinnerung an die deutsch-polnische Waffenbrüderschaft vor Wien.“ Und dann umarmte er mich.