"Wenn das Weizenkorn nicht in die Ernte fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht."

Gemma Hinricher

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Ernte fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“

Predigt von Schwester Gemma Hinricher am 20. Juli 1989 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Liebe Schwestern und Brüder,

liebe Angehörige und Freunde der Männer und Frauen, derer wir heute gedenken, die sich nicht abgefunden haben mit dem Bösen, sondern alles, ihr Leben eingesetzt haben, um ihm zu wehren!

Es fällt mir nicht leicht, an diesem Ort das Wort zu ergreifen. Wäre es nicht angemessener, zu schweigen, um nicht mit Worten den ungeheuren Anspruch zuzudecken, den dieser Ort und jeder, der hier – und an anderen, ähnlichen Orten – starb, an uns richten! Ich glaube jedoch, dass das Schweigen der Betroffenheit nicht das Letzte sein darf, dass es vielmehr in das Wort münden muss. Denn gerade im Wort finden wir den Anschluss an die vielen – und doch zu wenigen! – Bekenner, die Worte der Wahrheit aussprachen und danach handelten, zu einer Zeit, als auf einem einzigen solchen Wort der Tod stand.

Alle, die sich für den Weg in den Widerstand entschieden haben, haben sich für das Risiko des Wortes in einer Welt der Lüge entschieden. Einige von ihnen sahen, dass Worte zu schwach waren, die Lüge wirksam zu zerstören, und sie entschlossen sich zum Risiko der Tat.

Ich möchte mit Ihnen in dieser Stunde Worte der Heiligen Schrift gedenken und die zum Sprechen bringen, die eine Brücke schlagen können zu diesen Verteidigern der Wahrheit. Viele von ihnen haben bis zuletzt aus dem Wort Gottes Weisung und Trost empfangen. Man spürt, dass sie, je härter die Herausforderung wurde, umso mehr aus und mit diesem Wort lebten. Möchte auch für uns das Wort Gottes, das wir hören, und das Geheimnis des Glaubens, das wir feiern, Wegweisung und Quelle des Lebens sein.

Aus letzten Zeugnissen aus der Haft wissen wir von einigen Mitgliedern des Widerstands, welche Schriftworte sie besonders begleitet haben. Im Abschiedsbrief von Hans-Bernd von Haeften bin ich unter anderem auf den Psalm 126 gestoßen. Er schreibt: „Betet für mich den 126. Psalm; über ihn ging die letzte Predigt, die ich am Tag der Verhaftung in der Dorfkirche hörte.“ Der Psalm ist mir von unserem Chorgebet her vertraut. Ich möchte ihn meinen Worten zugrunde legen und Ihnen den Text in einer neueren Übersetzung vorlegen:

Wenn Jahwe den Zion wiederherstellt

wir sind wie Träumende –,

dann füllt sich unser Mund mit Lachen

und unsere Zunge mit Jubel,

dann sagt man unter den Völkern:

„Groß erweist sieh Jahwe, so an ihnen zu tun!“

Groß erweist sich Jahwe, so an uns zu tun:

Wir sind voller Freude!

Stelle du. Jahwe, uns wieder her,

so wie die Wadis im Negev!

Die (jetzt) säen in Tränen,

in Jubel werden sie ernten.

Der da hingeht und weint

(und) dabei die Keimlinge trägt,

der kommt wieder in Jubel

(und) trägt dabei seine Garben.

Vielen ist die Übersetzungsweise geläufiger, die den Anfang des Psalms als Erinnerung in die Vergangenheit verlegt: „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende.“ Doch die oben genannte Übersetzung hat gute Gründe für sich, wonach Psalm 126 mit einer Zukunftsvision beginnt.

Wenn Jahwe den Zion wiederherstellt – wir sind alle Träumende –.

Auch Luther übersetzt es so.

Ich möchte annehmen, dass einer, der in Gefangenschaft, nach dem Todesurteil, diesen Psalm vor Augen hat, unwillkürlich seine Zukunftserwartung mit vollzieht.

Die Überschrift kennzeichnet den Psalm als Wallfahrtslied. Die Zionspilger haben es unterwegs gesungen, vielleicht auch beim Anblick des Zionsberges nach beschwerlicher und gefahrvoller Reise, aus Ländern, in denen sie in der Zerstreuung lebten. Es waren Menschen, die den Mut hatten, aufzubrechen, die ihre gewohnte Alltagswelt hinter sich gelassen hatten, um eines Zieles willen, das sie und ihr notvolles Leben überstieg und dem doch ihre Sehnsucht gehörte: die Gegenwart Gottes auf dem Zion, in seinem Tempel, von dem die Fülle des Segens ausging auf Israel und auf alle Völker. Menschen also, die den Aufbruch wagten, konnten das Lied von dem wunderbaren Traum singen:

Wenn Jahwe den Zion wiederherstellt

wir sind wie Träumende –

dann füllt sich unser Mund mit Lachen

und unsere Zunge mit Jubel.

Wir haben inzwischen gelernt, die Träume nicht mehr abzuwerten im Hinblick auf ihren angeblich geringeren Wirklichkeitsgrad. So können wir die Bibel besser verstehen, für die der Traum ein selbstverständliches Medium der Offenbarung Gottes ist und – vom Menschen her gesehen – die Fähigkeit, die Mitteilungen Gottes, der konkreten Wirklichkeit vorauseilend, aufzunehmen. In den biblischen Träumen liegt oft ein Stück Zukunftsvision, die hineinwirkt in die Realität des Tages. Der Traum deckt sich niemals mit der Tageswirklichkeit; er greift immer darüber hinaus.

Ich glaube, dass alle, die gegen ein Unrechtssystem Widerstand geleistet haben und leisten, einen Traum hatten, eine Vision von einer wiederhergestellten, wiederherzustellenden Ordnung, an die sie geglaubt haben und die ihnen die Kraft gab, gegen den alles beherrschenden Augenschein aufzutreten. Die Menschen, an die wir hier denken, sind Menschen des Aufbruchs aus einer das kritische Denken und das Gewissen abstumpfenden Alltagswirklichkeit, die den Angepassten allein gelten lässt.

Die Menschen, an die wir denken, werden noch heute vielfach als unbequeme, lästige Träumer angesehen. Das verwundert nicht in einer Gesellschaft, die so arm an zukunftsträchtigen Visionen ist, beziehungsweise die sich so schwer damit tut, solche Visionen zuzulassen. Umso mehr sehe ich in dem heutigen Gedenktag einen Anstoß, die berühmte Frage nach Anpassung und Widerstand für sich selber durchzudenken und nach den eigenen Träumen zu fragen, die man sich vielleicht nicht zugestehen möchte. Gott bewahre uns vor einer selbstzufriedenen Gläubigkeit.

Die WaIlfahrer, die wahrscheinlich durch Jahrhunderte unseren Psalm auf dem Weg nach Jerusalem sangen, waren aufgefordert, sich nicht mit der unvollkommenen Gegenwart abzufinden, mit der Fremdherrschaft und dem Sympathisieren der eigenen Führer mit der heidnischen Umwelt. Mit ihrem Lied bitten sie Gott, er möge die Lage verändern – er möge den Zion wiederherstellen, d.h. seinen Plan verwirklichen und „den Zion“ zum Sitz seiner Herrschaft machen, die nicht nur für Israel, sondern für alle Völker das Heil, die Fülle des Segens bedeutet.

Diese Zukunft, die der Psalm von Gott erwartet, ist der Traum, der den, der ihn träumt, in Jubel ausbrechen lässt. „Dann füllt sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel“. Die Menschen der Bibel sind voller Jubel, wenn es darum geht, Jahwe als den König von Israel zu huldigen, wenn sie seine Gaben in der Ernte empfangen und wenn sie seine Ankündigung hören, dass er das Geschick des Volkes wenden wird. Die Heilsprophezeiungen an Israel erschöpfen sich nie in der Zusage irdischen Glücks – meist sind es Bilder einer vollkommenen Welt, deren Erfüllung auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit liegen muss und die doch die Menschen aufschauen lässt, weil sie wissen: Gottes Herrlichkeit gehört uns, wird uns zuteil werden.

Ich finde es jedes Mal bewegend, wenn ich in den Aufzeichnungen der Widerstandskämpfer aus der Haft lese, was für eine Fähigkeit zur Freude sie hatten. Sie schloss Stunden tiefer Niedergeschlagenheit und Angst nicht aus – das Notvolle ihrer Lage blieb und öffnete sich doch der Verheißung, der sie entgegengingen. Immer wieder kann man lesen, dass sie überwältigt sind von den Erfahrungen, die sie mit Gott machen, und dass sie seiner Nähe gewiss sind wie nie zuvor in ihrem Leben. Darum bricht die Freude in ihnen durch, darum sollen ihre Lieben nicht um sie trauern, als gäbe es die Herrlichkeit Gottes nicht, die sie doch schon berührt haben.

Wenn wir zurückschauen auf den Aufbruch und das Loslassen, auf die Bereitschaft zum Risiko im Vertrauen auf die Treue Gottes, auf den Mut zum Widerspruch und Widerstand gegen die Verächter von Gottes Gesetz – dann erscheinen die Freiheit und Unabhängigkeit dieser Menschen, gerade in der Gefangenschaft und in der Erwartung des Todes, nicht nur als Geschenk, sondern auch als Frucht eines Reifungsprozesses, in den sie eingewilligt hatten.

In Psalm 126 heißt es: Stelle Du, Jahwe, uns wieder her so wie die Wadis im Negev! Nicht um die Wiederherstellung des Zion geht es dem Beter hier, sondern „um uns“, das ist zunächst die Gemeinschaft der Zionspilger, sodann sicher auch jede Gemeinschaft, jede Gemeinde, ja jeder Einzelne, die unterwegs sind auf dem Weg ihrer Berufung. Vorausgesetzt ist die Veränderungs- und Erneuerungsbedürftigkeit der Pilger. Stelle uns wieder her! – Das ist die Bitte um jene Erneuerung und Vollendung, die Jeremia als „neuen Bund“ bezeichnet und die der Prophet Ezechiel in dem grandiosen Bild der Totenerweckung Israels schildert. Die erhoffte Umwandlung kann so plötzlich geschehen und mit solcher, alle Hindernisse wegreißenden Gewalt, wie die ausgetrockneten Wadis der Wüste Negev sich nach starkem Regen in reißende Sturzbäche verwandeln.

Vor diesem Bildhintergrund wird noch einmal deutlich, wie ernst es unserem Psalm mit der von Gott erbetenen Veränderung ist und wie radikal das Vertrauen, das Gott das Wunder neuen Lebens in der Wüste zutraut. In dieser Radikalität trifft der Psalm die Situation der Männer und Frauen aus dem Widerstand, ihre Wüsten des Scheiterns, der Vergeblichkeit, der Einsamkeit, der Todesnot, die sie bestanden in dem Vertrauen, dass Gott alles zum Guten wenden werde. Dieses vertrauende Ausgreifen in die Zukunft nehmen die großen, einfachen Bilder der letzten Verse unseres Psalms wieder auf:

Die jetzt säen in Tränen,

in Jubel werden sie ernten.

Der da hingeht und weint

(und) dabei die Keimlinge trägt,

der kommt wieder in Jubel

(und) trägt dabei seine Garben. (5a-6d)

In diesen Bildern von Aussaat und Ernte werden noch einmal Gegenwart und Zukunft in ihrer Gegensätzlichkeit vorgestellt. Jetzt ist die Zeit, in der mit Tränen gesät wird – aber es kommt die Zelt, und sie steht schon nahe bevor – in der mit Jubel die Ernte eingebracht wird.

Die Aussaat unter Tränen steht für alles leidvolle Mühen der gegenwärtigen Zeit, in der Gottes segenspendende Herrschaft in unserer Welt noch verborgen ist. Mit dem Erntejubel schließt sich der Kreis zum Anfang des Psalms.

Es sind unvergängliche Bilder des menschlichen Lebens, die das Volk des Alten Bundes begleitet haben und die Jesus wiederum aufgreift in vielen Gleichnisreden vom Gottesreich. Dieser Strom der Zuversicht, der auf die Ernte hofft, wenn auch in unbekannter Zukunft, mag auch die Männer und Frauen getragen haben, die nichts tun konnten, als unter Tränen das Wort und die Tat der Wahrheit zu säen. Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Auch wenn wir das uns unbegreifliche Missverhältnis zwischen den scheinbar sinnlosen, unfruchtbaren Opfern und dem bescheidenen Ergebnis sehen und beklagen, dürfen wir darüber die Wichtigkeit auch des bescheidensten Ergebnisses niemals gering anschlagen. Es ist wie die eine unter tausend Kastanien, die unscheinbar im Boden Wurzeln schlägt und wiederum Frucht zu bringen versteht.“

Die tiefste Zusage, dass es das furchtlose Leiden nicht gibt, konnten Christen aus dem Wort Jesu schöpfen: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Ernte fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“(Joh. 12,1-4).

Pater Alfred Delp hatte wohl auch dieses Wort vor Augen, als er aus dem Gefängnis schrieb: „Es ist Zeit zur Aussaat, nicht der Ernte ... Um das eine will ich mich mühen: wenigstens als fruchtbares und gesundes Samenkorn in die Erde zu fallen. Und in des Herrgotts Hand ... Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“

An den Schluss unserer Betrachtung möchte ich die Verse des Psalm 126 stellen:

„Groß erweist sich Jahwe, so an ihnen zu tun!“

Groß erweist sich Jahwe, so an uns zu tun:

Wir sind voll Freude!“

Zweimal wird die Wendung gebraucht: Groß erweist sich Jahwe ... Sie betont Jahwes Einzigartigkeit gegenüber anderen Göttern und seine universale Herrschaft über Israel und über alle Völker.

Gerade „die Völker“ erkennen die Großtaten Gottes an seinem Volk, sie erkennen sie an der Freude, die die Antwort auf den Segen Gottes ist.

Die Männer und Frauen des Widerstandes haben besonders sensibel auf die Vergottung von Staat und Partei reagiert. Und sie haben, so scheint mir, demgegenüber ein besonderes Gespür für Gottes Größe entwickelt, die ihnen gerade dann strahlend und sieghaft aufging, wenn sie ohnmächtig den Machthabern ausgeliefert waren.

Helmuth James Graf von Moltke schreibt nach der Verhandlung vor dem Gerichtshof: „Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen ... Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht ..., es war wahrlich so, wie es in Jes. 43,2 heißt: Denn so du durchs Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“

Pater Delp notiert unter dem 31. Dezember 1944 in seinem Tagebuch: „Das Ergebnis dieser Zeit muß eine große, innere Leidenschaft für Gott und seine Rühmung sein.“

Wir möchten in die Worte des Psalms einstimmen: Groß erweist sich Jahwe, der so an ihnen getan hat. Wir werden aber auch mit dem Psalm fortfahren: Groß erweist sich Jahwe an uns!

Das Zeugnis der Bekenner und Martyrer, derer wir heute gedenken, will uns gewiss dahin führen, Gottes Großtaten in unserem Leben zu erkennen und ohne Rücksicht auf Erfolg, in Zuversicht die Samenkörner auf dem Ackerfeld auszustreuen, das einem jeden von uns anvertraut ist.







Weitere Reden

20.07.1989
Dr. h.c. Hans Koschnick
Dr. h.c. Hans Koschnick