Zeiten der Gnade und Zeiten des Zornes

Walter Dreß

Zeiten der Gnade und Zeiten des Zornes

Predigt von Prof. Dr. Walter Dreß am 20. Juli 1966 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Ps.119,46: „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und werde nicht zuschanden.“

Luther spricht in einer seiner geistvollsten und unbekanntesten Schriften, der „Wider Latomus“, einmal davon, dass es in der Geschichte offenbar Zeiten der Gnade und Zeiten des Zornes gebe.

In Zeiten der Gnade können die Menschen unbefangen und aufgeschlossen fröhlich sein. Gott ist ihnen gnädig, er begegnet ihnen, er nimmt sie mit offenen Händen auf. Sie rufen seinen Namen an und er erhört sie, sie machen sich auf, ihn zu suchen und er lässt sich finden, sie halten an ihm und er schont ihrer aller in seiner Barmherzigkeit. Da kann man seiner mit tausend Zungen gedenken, ihn loben, ihm danken für den Überfluss seiner Wohltaten. Da gibt es glückliche und frohe Menschen, die schöpferisch Gerechtigkeit wirken. Solche Zeiten hat es gegeben, wenn wir dem Propheten trauen dürfen, dessen Worte wir am Anfang vernahmen: „Du begegnest den Fröhlichen und denen, so Gerechtigkeit übten und auf Deinen Wegen Dein gedachten.“ (Jes. 64,4)

In der Zeit des Zornes aber ist alles ganz anders. Auch wenn Gute und Gerechte da sind –, sie können doch Gottes Zorn nicht stillen und aufhalten, sondern sie werden selbst zusammen mit den Gottlosen umgebracht, und ihre Gerechtigkeit wird für nichts geachtet, weil Gottes Zorn nicht zulässt, dass sie irgendetwas erreichen. Der Himmel ist verschlossen, und die Gebete der Frommen sind kraftlos und prallen an der undurchdringlichen Mauer des göttlichen Zornes ab. Gott lässt sich nicht finden; er lässt sich kaum noch suchen, er ist nicht auf dem Wege, der zu einer Begegnung mit ihm führen könnte und müsste: man kann ihn nicht mehr loben; man kann nur noch trauern und wehklagen ob all der Übel.

Zeit des Zornes, Zeit der Übel, Zeit, in der auch die Gerechtigkeit der Gerechten, die Frömmigkeit der Frommen, nichts mehr gilt und vermag, sondern, verwickelt in die Bosheit, Tücke und Schuld der Bösen, in ihrer ganzen Nichtigkeit furchtbar und vernichtend enthüllt wird.

Wenn irgendwann, dann hätte nun das brennende und leidenschaftliche Gebet seinen Platz, aber das Böse ist so übermächtig, dass die Auserwählten nicht nur in die Übel und Leiden der Strafen, sondern auch in die Irrtümer hineingerissen werden.

So etwa spricht Luther von der Zeit des Zornes, von – seiner Zeit – 1521. Tief betroffen lesen und hören wir seine Sätze. Sind wir nicht – ich erinnere mich an so manches Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer – damals, in jenen Jahren der Entartung, der Willkür, der schrankenlosen Bosheit, des Zornes, zu ähnlichen, zu gleichen Erkenntnissen und Urteilen gekommen? Die Gebete, leidenschaftliche, inbrünstige, immer wiederholte Gebete konnten Gott nicht erreichen. Sie prallten am verschlossenen Himmel ab. Und es kam, wie es in solcher Zeit des Zornes kommen musste: „Also rafft“ – um es noch einmal mit Luthers Worten zu sagen – „der Grimm und Eifer des Gerichts den Gerechten zugleich mit dem Ungerechten dahin, allein die Barmherzigkeit bewahrt einen jeglichen, der bewahrt wird.“

Eines blieb zu tun. Die Frauen und Männer, deren wir heute gedenken, haben es getan, zu tun versucht. Ich möchte es mit unserem Text sagen, jenem Satz aus dem 115. Psalm: „Ich rede von Deinen Zeugnissen vor den Gewalthabern dieser Welt und“ – nun kann man verschieden übersetzen – „ich schäme mich nicht“, oder: „ich werde nicht zuschanden.“

Wir sind evangelische Christen, Protestanten. Wir sollten wissen, dass die Väter unserer Kirche dieses Wort der Heiligen Schrift einst 1530 dem Augsburgischen Bekenntnis, als sie dieses dem Kaiser und dem Reichstag, den Gewalthabern ihrer Zeit, überreichten, als Zeitwort voranstellten. In diesem Sinne sollte die ganze Konfession, zu der sie sich bekannten, verstanden werden. Und so wollten sie sich selbst und den Namen, der ihnen inzwischen zugewachsen war, verstanden wissen, ihre Protestation, ihr Protestantentum. Sie wollten „testes pro”, Zeugen für etwas sein, indem sie die Zeugnisse Gottes wiederholten und damit aufnahmen und als ihr eigenes Bekenntnis, persönlich mit Leib und Leben, vertraten, ohne zu wissen oder zu ahnen, wohin sie das eines Tages würde führen können. Zeugen für die Wahrheit, für die Herrlichkeit. Freiheit der Kinder Gottes.

Irre ich mich, wenn ich meine, dass die Männer und Frauen, denen heute unser dankbares und ehrfurchtvolles Gedächtnis gilt, ihr Handeln auch in diesem Sinn verstanden wissen wollten? Wir pflegen vom „Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft” zu reden. Diese Formulierung, an sich keineswegs unberechtigt, ist aber wohl ebenso missverständlich wie das Wort „Protestanten“. Denn dieser Widerstand wurde doch notwendig, weil alle die Menschen, die mit Bewegung und Aktion des 20. Juli verbunden waren, es als Pflicht und Aufgabe erkannt hatten, sich für etwas einzusetzen, für ihren christlichen Glauben, für die immerwährende und weiterwirkende Geltung der Gebote Gottes, für die Verkündigung der frohen Botschaft von Gottes Barmherzigkeit und damit für Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit, die Gott den Menschen als Gaben seiner Gnade zugedacht hat und die die Menschen sich von niemand rauben lassen dürfen: „Ich rede von Deinen Zeugnissen vor den Gewalthabern der Welt – und schäme mich nicht“, d.h. ich nehme dieses Wagnis, wenn auch wohl als sterblicher Mensch nicht immer ohne menschliches Bangen, so doch freiwillig und gern und entschlossen auf mich.

„...Und werde nicht zuschanden“, so ist wohl eigentlich zu übersetzen. Können wir uns heute auch zu dieser abschließenden Formulierung, zu diesem Bekenntnis der Hoffnung verstehen? Erinnern wir uns noch einmal jenes Luthersatzes: „Also rafft der Grimm und Eifer des Gerichts den Gerechten zugleich mit dem Ungerechten dahin, allein die Barmherzigkeit bewahrt einen jeglichen, der bewahrt wird.“ Das ist dann doch wohl hier und dort das eigentlich Entscheidende, in Zeiten des Zornes und in Zeiten der Gnade: „allein die Barmherzigkeit Gottes bewahrt einen jeglichen, der bewahrt wird“.

Sind sie damals, 1944, zuschanden geworden? Sie konnten nicht zuschanden werden, was immer auch ihnen geschah, weil Gott selbst sich immer zu seinen Zeugnissen und Zeugen bekennen wird, weil er zu seiner Sache steht. Wir dürfen es wissen, als Christen, als Protestanten, die auf die Zeugnisse Gottes hören und von ihnen reden, an ihnen halten und für sie bekennen wollen, dass, was immer diese Zeugen für Gottes Wahrheit und Göttlichkeit damals gedacht, gewollt und getan, erreicht und versäumt, verfehlt und versehen haben, sie selbst nicht zuschanden werden sollen, nicht auf Grund ihrer Erfolge oder Misserfolge oder weil sie doch Gutes gewollt haben, wenn sie auch selbst darüber zugrunde gegangen sind, weil sie sich opferten und weil ihr Opfer dann doch schließlich Frucht gebracht hat, wie man landläufig immer wieder zu sagen pflegt. Sie sollen nicht zuschanden werden, weil sie, Protestanten, Zeugen für Gott und seine Sache, obwohl in einer Zeit des Zornes lebend, sich in Versagen, Schuld und auch in ihren guten Werken, der Barmherzigkeit des lebendigen allmächtigen Gottes anbefehlen durften, dessen Gnade allein uns dem Verderben entreißen und den Sieg des ewigen Lebens über Sünde und Tod schenken kann.

Möchte es uns, möchte es vielen gegeben sein, ihnen das Bekenntnis ihres Lebens und Sterbens in Wagnis und Zuversicht nachzusprechen in erschrocken-unerschrockenem Wagnis: Ich rede von Deinen Zeugnissen vor den Gewalthabern auf Erden und in gläubiger Zuversicht und werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden.