Zeugnisse sittlicher Größe und edlen Muts

Heinrich Lübke

Zeugnisse sittlicher Größe und edlen Muts

Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Heinrich Lübke am 19. Juli 1964 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin

Herr Bürgermeister, verehrte Angehörige der Opfer des 20. Juli, liebe Jugend, meine Damen und Herren!

Der Sprecher der Jugend legte soeben ein aufrüttelndes Bekenntnis ab zu dem Vermächtnis der Männer und Frauen, die – getrieben von ihrem Gewissen – im Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime ihr Leben wagten und opferten. Er legte es ab vor den Zeugen des verborgenen und offenen Kampfes gegen den Nationalsozialismus, vor den Angehörigen der Opfer des Widerstandes und den Überlebenden sowie vor der jungen Generation, die nun, dem Zeitablauf entsprechend, das Erbe unserer jüngsten Vergangenheit antreten muss.

In dem Manifest wurde ausgesprochen, was in dieser, wie in allen Gedenkstunden, am heutigen Tag in uns lebendig werden muss. Wir haben uns Rechenschaft zu geben, ob die Früchte des Opfergangs vom 20. Juli in unserem Volke herangereift sind. Wir haben unser Gewissen zu erforschen, ob und wie jeder von uns, heute nach 20 Jahren, die Botschaft der Widerstandskämpfer an die Nachwelt aufgenommen und zum Maß für eine Gesinnung und sein Handeln gemacht hat. Haben wir damit keinen Erfolg, dann bleibt unser Zeugnis wie tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

Wir sind heute in der Hauptstadt Deutschlands, die für unser Volk zum Symbol der Sehnsucht nach Einheit und für die ganze Welt zum Fanal des Freiheitswillens geworden ist. Berlin war 1944 und 1953 Herzmitte eines Aufstandes des Gewissens. Plötzensee und Bendlerstraße – Potsdamer Platz und Leipziger Straße sind Begriffe geworden aus Tagen, in denen unser Volk auf Herz und Nieren geprüft wurde, ob es den Sinn seiner Heimsuchung erkannt hatte. Auch am 20. Juli 1964 schauen viele Menschen auf diese Stadt.

In jeder Epoche gibt es geschichtliche Ereignisse, die, eindringlich und dauerhaft, spätere Generationen mahnen und zur Stellungnahme zwingen. Der 20. Juli scheidet heute wie damals die Geister. Mancher aus der älteren Generation scheut auch jetzt noch davor zurück, tiefer in die Probleme des Widerstands gegen Hitler einzudringen. Er fühlt, dass er dadurch gezwungen wird, wesentliche Folgerungen für seine Einstellung zum Staat und sein Verhalten gegenüber der Gemeinschaft zu ziehen.

Der Aufstand vom 20. Juli ist zum Symbol der Selbstachtung unseres Volkes und zum Beginn seiner Rehabilitierung in der Völkerfamilie geworden. Hitler bedeckte den deutschen Namen mit einem Unmaß von Unrecht und Schande. Er trat die Freiheit und Würde unseres Volkes und unserer Nachbarn mit Füßen – man denke nur an die entsetzlichen Untaten bei der Verfolgung der Juden und der politisch Andersdenkenden. Dagegen standen in Deutschlands Namen schon seit 1933 Männer und Frauen auf, um unsere Ehre wiederherzustellen und das Land vor dem völligen Ruin zu bewahren.

Schon 1935 beschwor Ernst Wiechert in einer Rede die deutsche Jugend, nicht zu schweigen, wenn das Gewissen zu reden befiehlt, weil „nichts das Mark des Mannes so zerfrisst wie die Feigheit”. In einem Flugblatt der „Weißen Rose” gaben Münchner Studenten, die Geschwister Scholl und ihre Freunde, gewissermaßen die Antwort: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht ... und ein neues Europa aufrichtet ... Auf uns sieht das Volk!” Sie folgten einem Aufruf ihres Gewissens, der ihnen ein Ausweichen nicht erlaubte.

Unsere jungen Mitbürger haben aus eigenem Erleben keine ursprünglichen Beziehungen mehr zu einem Geschehen, das die ältere Generation noch heute belastet. Bei uns Älteren ist die Zeit des Dritten Reiches in die Lebensgeschichte jedes Einzelnen verwoben. Wir messen nach den Erfahrungen dieses Lebensabschnittes unwillkürlich alles, was uns begegnet und was wir tun. Wir sehen uns immer wieder zu einer Klärung unseres Standorts veranlasst und sollten junge Menschen daran Anteil nehmen lassen. Das wäre für Alt und Jung ein entscheidender Anstoß zur Selbstbesinnung und ein wichtiger Schritt zur Bildung eines eigenen Urteils.

Denn in dem Dialog der Generationen über das ungeheuerliche Geschehen vor 1945 gewinnt die erlebte und erlernte Zeitgeschichte Farbe und Konturen. Es heben sich die positiven Leitbilder ab, nach denen die Gegenwart und die zukünftige Tradition gestaltet werden müssten. Carl Friedrich Goerdeler – ehemaliger Oberbürgermeister von Leipzig und vorgesehen als Reichskanzler nach dem Gelingen des Aufstands – hat in einer von ihm vorbereiteten Rundfunkansprache niedergeschrieben, was für unser ganzes Volk eine stete Verpflichtung bedeutet: „Wir rufen Euch auf zu tätiger Selbstbestimmung und zu opferbereiter Zuversicht. Hasset nicht; helft vielmehr! Vollbringt das Größte: findet die Seele unseres Volkes wieder. Gewinnt so die Kraft, noch mehr zu leisten.”

Wer von uns, ob jung oder alt, in diesen Tagen wieder einmal die Dokumente zum 20. Juli, die Aufrufe und vor allem die erschütternden Abschiedsbriefe der zum Tode Verurteilten gelesen hat, der verspürt, wie rein dort die Quellen fließen, aus denen wir die Tradition für unsere freiheitliche, soziale und rechtsstaatliche Lebensordnung schöpfen können. Es sind Zeugnisse sittlicher Größe und edlen Muts, mit denen die Widerstandskämpfer Hitler entgegengetreten sind.

Im Denken und Handeln der Männer und Frauen der gesamten Widerstandsbewegung offenbart sich die christlich-abendländische Tradition von der Würde des Menschen, seiner sittlichen Berufung und seiner Aufgabe in dieser Welt. Generalmajor Henning von Tresckow – einer der leidenschaftlichsten Gegner Hitlers – prägte das unvergessliche Wort: „Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessusgewand angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben!”

„Gott mehr zu gehorchen als den Menschen”, „des Himmels ungeschriebene, unwandelbare Rechte höher zu achten als das Gebot der Machthaber”; das ist christliche und humanistische Überlieferung, die unserem Menschenbild zugrunde liegt und aus der unsere Auffassung von Freiheit und Menschenwürde erwachsen ist.

Für die ältere Generation ist es ein bitterer Gedanke und eine schwere Belastung, dass es gerade unserem Jahrhundert vorbehalten blieb, dieses Menschenbild in doppelter Weise durch die Ideologien totalitärer Staatsgebilde zu entstellen und so grausam zu schänden. Der Nationalsozialismus versuchte, es zu ersetzen durch das Götzenbild vom Herrenmenschen, der Kommunismus durch das Götzenbild vom Kollektiv.

Unmenschlichkeit war von Anfang an ein Wesenszug der nationalsozialistischen Diktatur. Das wird schon in Hitlers Buch „Mein Kampf“ deutlich. Wer derartige Äußerungen nicht ernst nahm und die Gewaltakte nach 1933 als notwendige Folgen einer Revolution entschuldigen zu können glaubte, dem wurden die Augen geöffnet durch die erschreckende Erkenntnis, dass Freunde und Bekannte widerrechtlich verhaftet und der Willkür der Gestapo ausgeliefert wurden. Politische Verfolgungen, Massenmorde in den Konzentrationslagern und vernichtende wirtschaftliche Schäden sind die schauerlichen Konsequenzen einer entmenschten Gewaltherrschaft, die sich in allen Lebensbereichen über das Sittengesetz und die Menschenrechte hinwegsetzte.

Uns bleibt die Scham darüber, dass eine solche Entwürdigung des Menschen von Deutschen in deutschem Namen geschehen konnte. Wir können uns aber von dieser Scham nicht freikaufen. Damit unsere Jugend nicht wieder in eine ähnliche Gefahr gerät, müssen die Älteren der Jugend Anstand und Redlichkeit, Opferbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein vorleben. Nur durch unser Verhalten im täglichen Leben können wir die junge Generation überzeugen, dass unsere staatliche Ordnung erst durch das ständige Bemühen um sittliche Erneuerung ein sicheres festes Fundament erhält.

Vor zwanzig Jahren und in geringerem Maße auch noch heute hat man versucht, den Widerstandskämpfern unedle Motive unterzuschieben – vielleicht in der Absicht, sich zu distanzieren von dem Vorwurf eigenen Versagens. Es ist eine Geschichtsklitterung, zu behaupten, die Widerstandskämpfer hätten erst bei der sich abzeichnenden Niederlage im Kriege die Verbrechen und Verworfenheit des NS-Staates als Motiv ihrer Umsturzpläne entdeckt. Der geistige, wenn auch zumeist passive Widerstand gegen Hitler lebte in weiten Kreisen unseres Volkes seit der Machtergreifung. Die letzten, nicht mehr ganz freien Wahlen vom 5. März 1933, die den Nationalsozialisten nur 44 Prozent der Mandate im Reichstag einbrachten, zeigten, dass sich die Mehrheit unseres Volkes mit der von Goebbels propagierten „nationalen Revolution” nicht identifizierten. Viele, die Tod, Gefängnis oder Konzentrationslager vor Augen sahen, entschlossen sich zur Emigration; mit ihnen auch solche, die mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, eine derartige Gewaltherrschaft mitzutragen. Zahlreiche Einzel- und Gruppenaktionen gegen das totalitäre Regime während der gesamten zwölf Jahre sind der Beweis, dass das „andere Deutschland” lebte und eigene Wege ging.

Aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern, allen Gesellschaftsschichten und Berufssparten stammte die große Schar bekannter und unbekannter Persönlichkeiten, die sich gegen Unrecht und Terror auflehnten und mit ihrem Blut diese Entscheidung besiegelten. Politiker aller Richtungen, Menschen verschiedener Nationalität und rassischer Abstammung, Angehörige der christlichen Konfessionen und anderer Religionsgemeinschaften; Landwirte, Gewerkschaftler, Arbeiter, Angestellte und Angehörige der freien Berufe; Soldaten aller Dienstgrade, Beamte und Diplomaten; Studenten und Jugendliche: Sie wurden zu Vorkämpfern oder Märtyrern einer Gesinnung, die Anstand und Menschlichkeit als eine selbstverständliche sittliche Pflicht ansahen.

Wir sollten nicht verschweigen, dass auch viele undoktrinäre Kommunisten sowie Vertreter obrigkeitsstaatlicher Auffassungen, die wir heute nicht mehr teilen, Opfer der politischen Verfolgung wurden. Die Geschichtsforschung hat inzwischen bestätigt, dass viele der damaligen deutschen Kommunisten innerlich unabhängige Idealisten waren. Es wäre deshalb unredlich, wollte man ihnen unterschieben, sie hätten nur als Handlanger einer fremden Macht gehandelt. Auch Nationalsozialisten sind einsichtig geworden und haben sich später am Widerstand beteiligt. Auch das sollte erwähnt werden.

Wir wollen in dieser Stunde auch die Menschen nicht vergessen, die während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Ländern Europas für die nationale Unabhängigkeit ihrer Heimat und eine freiheitliche Lebensordnung gegen die Tyrannei der Nationalsozialisten aufstanden. Ich freue mich, eine Delegation des Verbandes der Internationalen Widerstandsbewegung mit seinem Präsidenten General Gérard hier begrüßen zu können.

Nicht um einer Rechtfertigung, sondern um der Wahrheit willen sollte vor allem unsere Jugend mehr erfahren von diesen Vorgängen, damit ungerechte Vorurteile und Vorwürfe vermieden werden. Glücklicherweise ermöglichte eine intensive zeitgeschichtliche Forschung, der Öffentlichkeit und insbesondere unserer Jugend eine reichhaltige Literatur- und Quellensammlung über die Widerstandsbewegung zur Verfügung zu stellen. Es ist ein Verdienst der Bundeszentrale für politische Bildung und der entsprechenden Einrichtungen der Länder, diese Veröffentlichungen weiten Kreisen der Bevölkerung zugänglich gemacht zu haben. Ich freue mich, dass zahlreiche Schulen und besonders die Bundeswehr es als eine wichtige Aufgabe ansehen, im staatsbürgerlichen Unterricht das Vermächtnis der Opposition gegen Hitler lebendig zu erhalten.

Wir fühlen uns verständlicherweise besonders den Männern und Frauen verbunden, deren sittliche Motive untrennbar verknüpft waren mit der Sorge um die Zukunft unseres Volkes und Vaterlandes. Graf Yorck von Wartenburg versicherte kurz vor seiner Hinrichtung in einem Abschiedsbrief an seine Mutter, dass „kein einziger Gedanke, keine Lust nach Macht mein Handeln bestimmte. Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, wie es in den letzten zwei Jahrtausenden gewachsen ist, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten.”

Diese Zeilen sind ein Dokument politischer Verantwortungsbereitschaft. Sie geißeln die leichtfertige Auffassung, dass Politik den Charakter verderbe. Wer politisch handeln will, muss sich zu seiner Überzeugung bekennen, muss seelische Stärke und Wirklichkeitssinn besitzen. Nur so kann er im Denken und Tun die Prinzipien einer für die gesamte Menschheit gültigen Ordnung mit den konkreten Forderungen der Gegenwart und den Aufgaben der Zukunft in Einklang bringen. Skrupelloses Machtstreben und blinder Gehorsam, Gleichgültigkeit und Untertanengeist untergraben in gleicher Weise das Ethos politischer wie staatsbürgerlicher Einsatzbereitschaft. Jeder Politiker und jeder Bürger sollte in innerer Freiheit seinem Gewissen folgen und anstreben, was dem Wohle des staatlichen Gemeinwesens dient.

Damals haben Hitler und seine Gefolgsleute durch ihre hemmungslose Machtgier und ihre verbrecherischen Untaten, an die wir jetzt wieder durch die Auschwitz-Prozesse nachdrücklich erinnert werden, selbst verwirkt, Loyalität, Vertrauen und Treue zu fordern. Als Hitler seinen Entschluss verkündete, die Tschechoslowakei zu zerschlagen, sagte Generaloberst Beck in seiner daraufhin den Generälen überreichten Denkschrift: „Es stehen hier letzte Entscheidungen über den Bestand der Nation auf dem Spiele. Die Geschichte wird diese Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten.“ Unsere Bewunderung und ungeteilte Anerkennung verdienen aber die Männer und Frauen, die sich tapfer zu dem unwiderruflichen Entschluss durchrangen, Hitler durch die Tat den Gehorsam zu verweigern und das volle Risiko auf sich zu nehmen.

Über dem 20. Juli liegt die tiefe Tragik, dass die Verschwörer bei der Ausführung ihrer Pläne scheiterten. Trotzdem haben diese Männer eine politische Tat von historischer Bedeutung vollbracht. Sie haben der Welt gezeigt, dass im deutschen Volke das Verlangen lebte, sich selbst und Europa von der Tyrannei Hitlers zu befreien und sich sühnebereit von den ungeheuren Verbrechen zu distanzieren.

Seitdem kann niemand mehr behaupten – wie noch vor kurzem geschehen –, dass alle Deutschen Anhänger Hitlers gewesen seien. Seitdem können und müssen wir wieder unbefangen von der Liebe zum Vaterland sprechen. Diese Tugend, die im sogenannten „Dritten Reich” pervertiert wurde, behielt durch den Widerstand den guten Klang und den geistigen Wert, zu dem sich unser ganzes Volk trotz der unmenschlichen Zerreißung unseres Landes bekennen und an dem es unbeirrt festhalten muss. Cicero richtete an seinen Freund, den Konsul Martellus, die Mahnung, die auch für uns heute gültig ist: „Es soll dir gerade jetzt kein Land lieber sein als das Vaterland. Gerade weil es so übel zugerichtet ist, sollst du es um so viel mehr lieben und dich seiner um so mehr erbarmen. Und du solltest das Vaterland, das schon so viele ausgezeichnete Männer verloren hat, nicht auch noch deines Anblicks berauben.”

Einige von denen, die den Bluturteilen des Volksgerichtshofes entgangen sind, leben noch mitten unter uns. Sie haben nicht resigniert, sondern waren die ersten, die sich für den Wiederaufbau unseres Staates zur Verfügung gestellt haben. Heute tragen manche von ihnen eine hohe Verantwortung in unserer Bundesrepublik. Ihr Beispiel soll unserer Jugend verdeutlichen, wozu sie das geistige Erbe großer Ereignisse der Vergangenheit verpflichtet.

Wir sind vor allem aufgerufen, uns durch unsere Gesinnung und Tatbereitschaft die uns aus Recht und Vertrag zustehende staatliche Einheit durch Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auch zu verdienen. Durch Anstand und Redlichkeit in unserem persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben, durch den Willen zur steten sittlichen Erneuerung und zur tätigen Verantwortung müssen wir unsere Partner wie unsere Gegner von dem Ernst und der Entschlossenheit unserer Forderung immer wieder überzeugen. Ist sie erfüllt, dann dürfen wir endlich diesen Abschnitt deutscher Vergangenheit abschließen und mit unseren Freunden in einem gemeinsamen Europa einen neuen Anfang machen.

Wir glauben an die Kraft des Guten. Solange die Gewissen noch wach sind, solange Menschen sich einer höheren Autorität als der irdischen verpflichtet fühlen, werden sie sich auch in der Gegenwart jeder Art von Gewaltpolitik und Willkürherrschaft entgegenstellen. Unsere Landsleute in Mitteldeutschland und Ost-Berlin vertrauen und warten darauf, dass wir in der Freiheit die Haltung vorleben, aus der sie in ihrem heroischen Widerstand gegen den kommunistischen Unrechtstaat tagtäglich neue Kraft schöpfen.

Meine jungen Mitbürger! Wenn Sie im Geiste des Vermächtnisses des 20. Juli handeln wollen, dann darf sich das nicht äußern in grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber der Politik oder in einem Rückzug in die Bereiche reiner Geistigkeit und idealisierender Menschlichkeit. Das Schicksal der Weimarer Republik macht das deutlich. Hader und Zwietracht unter den Parteien, geschürt durch Verleumdungskampagnen und Terroraktionen der Nationalsozialisten und ihrer Freunde sowie der radikalen Linken, untergruben das Vertrauen des Volkes in die Wirksamkeit einer demokratischen Ordnung. Wirtschaftskrisen brachten eine über das ganze Land verbreitete Arbeitslosigkeit und tiefe soziale Not. Die Ursache lag, wie jeder wusste, in den Nachwirkungen eines verlorenen Krieges sowie in dem Mangel an politischer Stabilität. Unzufriedenheit und Radikalismus waren die Folgen. Dass in einem solchen Klima die Menschen anfällig wurden für die Lockungen der Rattenfänger, liegt auf der Hand.

Eine stabile Staatsführung, die für eine geregelte soziale Ordnung und für die berechtigten Ansprüche der Bürger sorgt, gehört ebenso zu den Merkmalen einer intakten Demokratie wie die aktive Mitarbeit jedes Einzelnen zur Förderung des Gemeinwohls. Wo die freiheitliche Verfassung nicht im Staatsbewusstsein der Bürger verankert ist, wo sich der Bürger nicht mit seinem Staat identifiziert, sind Recht und Freiheit ständig bedroht. Nur wenn einer sich des anderen annimmt und dessen Last mitträgt, wachsen die Kräfte, die ein Volk zusammenhalten.

Der Konkurrenzkampf des Lebens – wo immer er sich auswirkt: ob in der Politik oder in der Wirtschaft, in der Kunst und Wissenschaft oder im Streben nach beruflichem Erfolg – sollte nie so weit gehen, dass er in persönliche Feindschaft ausartet oder sogar in Hass. Die Auseinandersetzungen der politischen Parteien und der verschiedenen Interessengruppen unserer Gesellschaft müssen mehr und mehr zu einem edlen Wettstreit werden. Jeder muss sich mühen, unserem Volk in seiner Gesamtheit mit besseren Ideen und größeren Leistungen zu dienen. Dann wird auch unsere Forderung auf Anwendung des Selbstbestimmungsrechts und unser Wunsch nach Einheit erfüllt werden.

Ich möchte schließen mit einem Wort, das Pater Delp nach seiner wegen Teilnahme am Widerstand erfolgten Verurteilung zum Tode in sein Tagebuch geschrieben hat: „Bleibt dem stillen Befehl treu, der uns innerlich immer wieder ruft! Behaltet dies Volk lieb! Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt.“






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