Zuerst der Mensch - dann der Staat

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Candido Rosati

Zuerst der Mensch - dann der Staat

Gedenkrede des Präsidenten der Fédération Internationale Libre des Déportés et Internés de la Résistance (FILDIR) Candido Rosati am 20. Juli 1968 in der Bonner Beethovenhalle

Es ist für mich eine große Ehre, zum zweiten Mal, und heute sogar als Präsident der Internationalen Organisation FILDIR, an dieser Gedenkfeier teilnehmen zu dürfen. Wir gedenken des 24. Jahrestages eines historischen Ereignisses, mit dem ein bedeutender Abschnitt der deutschen Geschichte verbunden ist. Wenn dieses Ereignis Erfolg gehabt hätte, hätte es vielleicht einen Wendepunkt im politischen Werdegang Deutschlands und Europas bedeuten können, und es wären sicher unseren Völkern weitere Trauer, weiteres Leid und nutzloses Blutvergießen erspart geblieben. Ein Volk mit einer ehrenhaften Vergangenheit wäre im Laufe der Zeit wieder groß geworden. Das Leben vieler Männer, Frauen und zahlreicher junger Menschen wäre gerettet worden, und diese jungen und lebendigen Kräfte, die in einem langen und verbrecherischen Konflikt missbraucht und gequält worden sind, hätten im Frieden viel zu einer moralischen und materiellen Erneuerung Deutschlands beitragen können.

Die FILDIR, die ich als Präsident vertrete, rechnet es sich zur Ehre an, das Volk des neuen demokratischen und freien Deutschlands, seine Regierung und seine Repräsentanten, die Bruderorganisationen und ganz besonders die Widerstandkämpfer, die Verschleppten, die Verfolgten des Nationalsozialismus und alle diejenigen, die durch den Einsatz ihres Lebens zur Wiederherstellung und zur Wiedererlangung demokratischer Regierungsformen, zu Freiheit und Frieden haben beitragen wollen, herzlich und innig zu begrüßen.

Freiheit und Frieden!

Große und edle Worte, die den Zweck und das Ziel unserer Vereinigung zusammenfassen. Heute noch kämpfen und arbeiten wir, um die Freiheit und den Frieden in Europa und in der Welt zu bewahren, denn sie sind auch heute noch durch nationalistische und diktatorische Ideen gefährdet. Das kann man vor allem bei gewissen Bewegungen feststellen, die vor kurzem gegründet worden sind, als hätten sie aus der traurigen Vergangenheit oder aus den Konflikten, die heute wieder einige Erdteile Blutopfer kosten, in denen die Kanonen donnern und Menschenleben niedergemäht werden (gewiss nicht beruhigende Beispiele für alle diejenigen, die die Freiheit und den Frieden lieben), als hätten sie daraus nichts oder wenig gelernt, und als könnten und wollten sie nicht in die Zukunft schauen.

Wir wissen, dass der 20. Juli 1944 für Deutschland das Ende eines stillen langen Kampfes bedeutete, der mit großer Mühe und trotz vieler Gefahren von wertvollen und gläubigen Menschen geführt wurde, eines Kampfes, der mit dem vieler anderer Völker wie in einer Kette verknüpft ist und der mit aller Entschlossenheit geführt wurde, um die Freiheit zu erlangen; Ähnliches ist in Polen, in Frankreich, in Italien, in Belgien und in anderen Ländern Europas und der Welt geschehen.

Ich habe mir manchmal die Frage gestellt, was wäre aus Europa und der Welt geworden, wenn der Bombenanschlag des 20. Juli den von den Verschwörern angestrebten Erfolg gehabt hätte. Das ist eine Frage, die sich viele gestellt haben, auch wenn sie an Einfalt grenzt - die Geschichte wird nicht durch Mutmaßungen aufgebaut. Aber trotzdem sind wir heute denen nicht weniger dankbar, die vor 24 Jahren ihr Leben opferten in dem erfolglosen Versuch, die Menschheit von einem Ungeheuer zu befreien, das unserer Zeit größte Schande gebracht hat. Wenn wir heute der tapferen Männer des Widerstandes gedenken, dann schließen wir alle die Deutschen guten Willens ein, die auch nach dem Misslingen der Aktion nicht an der Befreiung ihrer Heimat gezweifelt haben und die ihr Leben für die Wiedererlangung jener Werte hingegeben haben, ohne die der Mensch nichts anderes als eine Nummer oder eine Maschine ist. Gedenken wir heute jener kleinen Gruppen, die sich in den Jahren 1933 bis 1944 in den Gewerkschaften, in der Wehrmacht und unter den Studenten dem Nationalsozialismus entgegengestellt haben, indem sie das Gefängnis, das KZ und den Tod nicht scheuten. Es sind Männer und Frauen, die Sie sehr gut kennen, liebe Freunde. Ich will nicht ihre ruhmreichen Namen nennen, denn ich möchte nicht versehentlich einige auslassen. Aber es sei mir erlaubt, heute Abend der Studenten-Geschwister Hans und Sophie Scholl zu gedenken, wie auch des Professors Kurt Huber und der kleinen Gruppe des Bundes der „Weißen Rose“.

Der Nationalsozialismus betrieb nicht nur eine Politik des Krieges und der Zerstörung, sondern - wie es eines der Mitglieder des Kreisauer Kreises, Graf Peter Yorck, während des tragischen Prozesses im August 1944 ausdrückte - er verneinte auch die Menschenrechte, leugnete die Existenz Gottes und ließ eine Gewissensentscheidung nicht zu. Übrigens hatte Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofes, sein „Handwerk“ bei Andrej Wischinskij, dem Generalstaatsanwalt in den Moskauer Prozessen der dreißiger Jahre, gelernt.

Es stellt sich nun eine problematische Frage: Inwieweit muss man dem eigenen Staat gehorchen? Ist der Kampf gegen die eigene Regierung gestattet, ist man sogar dazu verpflichtet? Ich glaube, dass der Widerstandskampf, so wie er in den verschiedenen Ländern gegen die Diktatur und besonders gegen den Nazi-Faschismus geführt worden ist, die praktische Anwendung des Grundsatzes gewesen ist, wonach der Mensch dem Kaiser geben muss, was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist. Und wenn der Staat das Gewissen des Einzelnen, die Religion und das Gesetz allein lenken und bestimmen will, dann geht er über seine Rechte hinaus; wenn er gegen die Prinzipien der Freiheit und Menschenwürde verstößt, ruft er unweigerlich Widerstand hervor. Zunächst kommt der Mensch, dann kommt der Staat - das ist der Grundsatz der Demokratie, wie wir sie verstehen. Und die Geschichte lehrt, dass die Tyranneien, wenn auch nach langer Zeit, zusammenbrechen und die menschliche Freiheit, wenn auch vielfach unter großen Opfern, den Kampf gewinnt.

Liebe Freunde und Kameraden! Ich komme selbst aus einem Land, in dem es im Bereich des menschlichen Zusammenlebens noch viel zu tun gibt. Auch bei uns spricht niemand mehr von einer „auserwählten Rasse“, weil dieses Wort aus dem Sprachgebrauch der Politik gestrichen worden ist.

Möge die Mahnung dieser Gedenkfeier über die Grenzen hinausdringen und überall dort gehört werden, wo die Rattenfänger von gestern wieder ihr Haupt erheben; wo eine unerfahrene Jugend ihnen nachlaufen könnte unter der Fahne nationalistischer Ideale, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts keinen Platz mehr haben. Das zeigt uns erneut, dass die Freiheit Tag für Tag neu verteidigt werden muss. Das beweist, dass nicht alle aus der Geschichte etwas gelernt haben.

Wir erwarten mit Sehnsucht den Aufbau eines neuen Europas, in dem die höchsten Werte eines jeden Volkes anerkannt und geschützt werden und in dem die Augen und die Herzen der Menschen nach neuen Zielen blicken. Ich meine, dass wir auf diesem Weg am besten dem Beispiel der Freiheitskämpfer folgen können. Sie erwarten von uns nicht nur, dass wir ihrer gedenken, sondern auch und vor allem, dass wir ihren Anruf hören. Ihre Losung lautet eindeutig: Wir brauchen eine Welt, die nach den Bedürfnissen, den Zielsetzungen und den Rechten des Menschen aufgebaut ist. Das ist ein Gesetz, zu dessen Erkenntnis wir weder der Lehren aus Moskau noch aus Peking bedürfen, weil es längst fester Grundbestandteil unserer Zivilisation ist.

Dank allen unseren Vorkämpfern, Ehrfurcht ihrem Leben und Sterben. Höchster Verpflichtung eingedenk, wollen wir in ihrem Geiste wirken, so lange es Tag ist: „pro patria“, für die Zukunft Europas und der Welt „per orbis concordiam“!






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