Zum Gedenken an die Opfer der Tyrannei und des Unrechts

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Kai-Uwe von Hassel

Zum Gedenken an die Opfer der Tyrannei und des Unrechts

Gedenkrede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Kai-Uwe von Hassel am 19. Juli 1971 vor dem Abgeordnetenhochhaus in Bonn

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!

Wir haben uns hier - am Fuße des neuen Abgeordnetenhochhauses - am Vorabend des 20. Juli versammelt.

Morgen sind es 27 Jahre her, dass Männer und Frauen in unserem Volke den Versuch unternommen haben, die unheilvolle Verstrickung der nationalsozialistischen Herrschaft zu zerreißen; aufzustehen gegen ein Unrechtsregime, das mit seinen Gewalttaten den deutschen Namen beschmutzte und die Nation in den Abgrund führte.

Viele Teilnehmer des Aufstandes vom 20. Juli 1944 gerieten in den inneren Widerstreit von geleistetem Eid und der Stimme ihres Gewissens. Sie haben sich vor 27 Jahren für ihr Gewissen entschieden und damit ihrem Volke einen historischen Dienst erwiesen.

Die Chronistin des 20. Juli - Annedore Leber, Gattin Julius Lebers, dessen Bild als eines der aufrechtesten und profiliertesten Widerstandskämpfer in die deutsche Geschichte eingegangen ist - hat für ihr Erinnerungswerk den Titel gewählt, der dem Geschehen wahrhaft angemessen ist: „Das Gewissen steht auf“.

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 entstammen allen Schichten unseres Volkes, allen Lebensbereichen nach sozialer und landschaftlicher Herkunft. Sie alle waren verbunden durch den entschlossenen Willen, das System des Unrechts zu beseitigen. Sie wollten das Bild des Menschen wiederaufrichten im Herzen des deutschen Volkes. Sie waren über das, was damals kommen sollte, nicht alle einer Meinung. Aber keinen Unterschied gab es in ihrer festen Überzeugung, dass dieses andere Deutschland von morgen ein freiheitlicher Rechtsstaat werden müsste.

Wenn wir vor diesem Gebäude ein Mahnmal für den 20. Juli 1944 errichten, dann wollen wir unseren Blick besonders auf jene Männer und Frauen richten, die vor der nationalsozialistischen Machtergreifung dem Volke als Mitglieder des Reichstages gedient haben.

In dem verdienstvollen Werk von Walter Hammer „Hohes Haus in Henkershand“ ist den Männern und Frauen des Reichstages, die als Teilnehmer des Volksaufstandes vom 20. Juli ihr Leben opferten, ein Denkmal gesetzt worden. Daneben wird all der Reichstagsmitglieder gedacht, die als Opfer einer zwölfjährigen Gewaltjustiz, als Häftlinge in den Konzentrationslagern, als Emigranten auf der Flucht ihr Leben lassen mussten oder in einer oft bedrückenden Einsamkeit - „mit dem Gesicht nach Deutschland“, wie ein politischer Emigrant ergreifend formulierte - viel zu früh hinstarben.

Meine Damen und Herren - die Parlamentarier, derer wir heute gedenken wollen, vertraten ein breites politisches Meinungsfeld. Es geht in dieser Stunde nicht darum, Einteilungen und Benotungen vorzunehmen. Es geht vielmehr darum, den Tod dieser Männer und Frauen als Vermächtnis für einen freiheitlichen Parlamentarismus zu begreifen. Einer Staatsidee, die vom Kampf der Meinungen lebt und der - abseits von jeder totalitären Ideologie - die Kraft zum Kompromiss und zum schöpferischen Handeln inne wohnt; einer Staatsidee, die ohne Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht leben kann.

So deute ich die Worte auf diesem schlichten Gedenkstein, den ich heute der Öffentlichkeit übergebe:

„Den Mitgliedern des Deutschen Reichstages zum Gedenken, die für Freiheit und Recht in Deutschland einstanden und Opfer der Tyrannei wurden.“