Zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes

Hans Rothfels
Zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes
Vortrag von Professor Dr. Hans Rothfels im Jahr 1954 in der Universität Tübingen


Es mag nahe liegen, die geschichtliche Besinnung, um die es uns in diesen Tagen geht, anzuknüpfen an einen anderen Anlass ernstesten Gedenkens, der nur wenige Wochen zurückliegt: der 17. Juni und der 20. Juli sind eigentümlich zugeordnete Daten. Beide Male hat es sich um Auflehnung gegen angemaßte Gewalt gehandelt, was immer ihre legalistischen Verkleidungen oder fiktiven Legitimierungen gewesen sein mögen oder sind, im Äußeren - bei aller Verschiedenheit der Ausdrucksformen - um das gleiche entschlossene und auf alle Konsequenzen gefasste Angehen gegen ein System, das man als feindliche Besatzung charakterisieren kann, auch wenn es von Menschen des eigenen Volkes ausgeübt wurde oder wird. Beide Male aber ging es darüber hinaus und im innerlichsten Kern um die Selbstbehauptung der Freiheit und Würde des Menschen im Konflikt mit einer entmenschlichenden und entwürdigenden Machtapparatur, um Gewissensprotest oder um den Durchbruch eines Unbedingten, das nicht an der Chance des Erfolges misst oder zu messen ist. Es ging um die Grenze des Zumutbaren, an der sich zeigt, dass - was immer der Anschein des Gegenteils - totalitäre Regime neben der äußeren auch starke innere, durch keinen Terror abschreckbare Fronten gegen sich auf den Plan rufen - selbst wenn sie mit populären Winden oder als Nutznießer großer Zusammenbrüche zu segeln scheinen -, Fronten über Landesgrenzen, erst recht über künstliche Zweiteilungen eines Landes hin. Schon aus diesem flüchtigen Vergleich wird deutlich werden - mindesten an einem zentralen Aspekt, dass die Besinnung auf den 20. Juli und seine geschichtliche Bedeutung nicht nur Ausdruck einer rückwärts gewandten Pietätspflicht der Erinnerung an edle und opferbereite Menschen ist - so sehr sie gewiss auch das einschließt und aufs Nachdrücklichste einschließen soll - sondern zugleich dem Heute und Morgen gilt, d. h. Problemen, die in der einen oder anderen Form noch mit uns sind und nach dem Charakter unserer Epoche mit uns bleiben werden. Sie gilt Problemen, die an das Zeitlose rühren, wenngleich sie zeitweise in Perioden scheinbarer Normalität und Sekurität, eines noch unerschütterten nationalstaatlichen Aufbaus und einer noch unerschütterten bürgerlichen Gesellschaftsordnung überdeckt gewesen sein mögen oder in Perioden der Restauration von neuer Selbstzufriedenheit und Scheinsicherheit aus dem Bewusstsein verdrängt zu werden drohen.


Damit ist dann freilich auch gesagt, dass in der Linie dieser Besinnung mehr liegt als eine kurzfristige und willkürlich aktualisierende Anwendung nur auf Verhältnisse der Sowjetzone oder die jenseits des Vorhangs; - das würde aus dem Vermächtnis des 20. Juli uns allzu leicht entlasten und eine Warnung wegnehmen gegen so manche Erscheinung unseres eigenen täglichen Daseins. Und doch wird man in einer Vorbetrachtung dem Vergleich mit dem 17. Juni vielleicht noch ein Stück weiter nachgehen dürfen. Es ist mit Recht gesagt worden, dass es sich an diesem und den folgenden Tagen - wohl zum ersten Mal in der Geschichte - um einen Aufstand von disziplinierten und gewerkschaftlich geschulten Arbeitern gegen ein System gehandelt hat, das seinen Anspruch auf weltweite Gültigkeit aus einer Revolution eben der Arbeiter herzuleiten behauptete, - um einen Aufstand von Sozialisten gegen die Pervertierungen des Sozialismus. Bei der Herabreißung von Sowjet-Emblemen und von Bildern der eigenen und der fremden Machthaber, wie sie in vielen Städten Mitteldeutschlands geschah, blieben bezeichnenderweise die Bilder von Karl Marx unberührt.


Hält man sich an das Grundsätzliche, so wäre vom 20. Juli oder besser von den Bewegungen, für die dieses Datum stellvertretend steht, ebenso zu sagen, dass sie nicht von professionellen „Widerständlern“ oder gar von asozialen Elementen getragen waren, sondern weithin von Gruppen von Menschen, die in den Traditionen, vielleicht sogar den Konventionen, staatlicher und nationaler Bindung besonders stark verwurzelt waren, von Beamten und Offizieren zumal, übrigens auch von überzeugten Sozialisten und bekennenden Christen, die nichts weniger als der Brüderlichkeit entfremdet waren. Sie alle wandten sich, indem sie die sozusagen normalen und nächstliegenden Loyalitäten durchbrachen, im Grunde gegen jene verhängnisvollen Pervertierungen, die jede Form politischen und sozialen Gemeinschaftslebens unter der verführerischen Doppelparole eines „nationalen Sozialismus“ erfahren hatte. Auch dabei blieben die echten Bilder unberührt.
Indem die äußere Zuordnung der beiden Daten solche vergleichenden Betrachtungen nahe legt, wird man freilich die tiefen Unterschiede, die hier doch bestehen, keinen Augenblick übersehen wollen und von da aus auf andere, wesentliche und spezifischere Aspekte im Vermächtnis des deutschen Widerstands hingeführt werden. Schon die Worte, die wir gebrauchen, sind bezeichnend für das Andersartige und Einmalige der jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit. Der 17. Juni war ein Aufstand der ausbrach, spontan ausbrach, wie wir mit Sicherheit sagen können; Widerstand hingegen ereignet sich oder wird geleistet. Ein Aufstand, so ist mit Recht bemerkt worden, vollzieht sich im elementaren Bereich der Politik, der Widerstand vielmehr im sittlichen und religiösen Bereich. Oder, wie Ernst Jünger aus der Kenntnis vieler Beteiligter im Frühjahr 1944 in sein Tagebuch schrieb: „Man sieht dann auch, dass die moralische Substanz zum Zuge drängt, nicht die politische.“ Damit soll in keiner Weise gesagt sein, dass es der Erhebung des 17. Juni an ethischen Motiven, an den sittlichen Grundkräften des Menschlichen gefehlt habe, noch auch, dass der Widerstand gegen Hitler frei gewesen sei vom Elementaren und Politischen. Politisch war zunächst ohne Zweifel die Opposition, die 1933 und in den ersten Jahren danach von Anhängern jener Parteien wesentlich getragen wurde, die auch vorher schon die eigentlichen Verteidiger der Republik von Weimar gewesen waren. Aber ihre aktivsten Führer verschwanden hinter Zuchthausmauern und Stacheldraht oder mussten über die Grenze weichen. An Versuchen der Exilgruppen - vom Ausland her und mit den Mitteln unterirdischer Propaganda - den Kampf fortzusetzen, hat es nie gefehlt. Die Entdeckung indessen ließ in aller Regel nicht lange auf sich warten und die Opfer waren schwer. So kam diese Art der Agitation und damit der direkte politische Angriff zum Erliegen. An die Stelle trat etwa seit 1935 eine Cadrebildung, bestimmt die Zellen des Widerstands besonders in der Arbeiterbewegung zu retten und zu schulen, vor allem von alten Gewerkschaftlern getragen, mit Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser an ihrer Spitze. Es waren das Formen politisch-oppositioneller Organisation, die mehr in die Breite und Tiefe drangen als man wahrhaben will, wenn man je nach Standpunkt von der „Elite“ des Widerstands oder seinem beschränkten und „exklusiven“ Gruppencharakter spricht. Aber ein solches Bereitstehen für den Tag der Abrechnung reicht allerdings nicht ins Elementare hinein und konnte es nach allen Voraussetzungen des totalen Staates nicht tun. Es galt schon lange vor dem Krieg, was Leuschner bei seinem Ausbruch an einen englischen Gewerkschaftler übermitteln ließ: „Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwer bewaffneten Aufseher erheben würden.“


Und dennoch ist es, wie wir wissen, zu elementaren Ausbrüchen gekommen, unter jungen Menschen zumal, die ihrer Empörung Worte verliehen oder Kompromisse verwarfen. Die Witwe Julius Lebers - selbst eines elementar-politischen Menschen - hat in dem schönen Buch, das unter dem Titel „Das Gewissen steht auf“ zum zehnjährigen Gedenktag des 20. Juli erschienen ist, einige Beispiele dieser Art festgehalten, in ergreifenden Zeugnissen wie im Bild menschlicher Antlitze. Auch die Geschwister Scholl und ihre Freunde gehören hierher. Die Münchner Studenten werden schwerlich angenommen haben, dass ein spontaner Aufstand von ihrer Seite allein den Lauf der Dinge ändern werde, sie folgten einem inneren Gesetz, das ihnen nicht erlaubte, die Hände in den Schoß zu legen. „Der deutsche Name“, so hieß es im letzten Flugblatt der „Weißen Rose“, „bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet.“ Kein Gedenken des 20. Juli wird an diesem Aufbruch junger Menschen vorübergehen wollen, der spontan war und sich ganz unmittelbar zum Ziele streckte, mit instinktsicherer Ablehnung menschlicher Entwürdigung und in der Empörung, nur als Mittel verbraucht zu werden. Hier greift man etwas von dem Urgestein des Elementaren, das doch auch in jedem Entschluss zum Widerstand steckt. Gewiss haben auf diesen Entschluss ältere Menschen Einfluss geübt, das Elternhaus, die Worte mutiger Männer wie die Predigten des Bischofs von Galen; an der Münchner Universität dann vor allem Professor Huber, der einer der Hingerichteten gewesen ist. In seinem letzten Brief hat er geschrieben, dass der Tod die „Reinschrift“ seines Lebens sei.


Es ist dies eine Haltung, die man heute existenzialistisch nennen würde. Auch in den Flugblättern, die Hans Scholl und seine Freunde verfassten und vervielfältigten, finden sich solche hintergründigen metaphysischen Töne. „Überall und zu allen Zeiten“ heißt es da „haben die Dämonen im Dunklen gelauert auf die Stunde, da der Mensch schwach wird, da er seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung im ordo eigenmächtig verlässt, da er dem Druck des Bösen nachgibt, sich von den Mächten höherer Ordnung loslöst und so, nachdem er den ersten Schritt freiwillig getan, zum zweiten und dritten und immer mehr getrieben wird, mit rasender Geschwindigkeit.“ Aber diese jungen Menschen, die mit der gleichen Hingabe wanderten und sangen, lasen und spielten, mit der sie zum Opfer bereit waren, sie werden nicht geglaubt haben, dass das Leben ein dem Tode Vorauslaufen sei und erst durch ihn Wirklichkeit werde. Sie handelten aus dem Ganzen des ihnen gerade sich entfaltenden Lebens und um seiner Heiligkeit willen. Sie waren weder Fanatiker noch Sektierer: mit einer freudigen Aufgeschlossenheit zu allem Guten und Schönen und doch in einer unerschütterlichen Gradlinigkeit sind sie ihren Weg gegangen - durch lauernde Gefahr und schwere Erprobung - bis in einen gefassten, ja frohgemuten Tod hinein, - „als schaue sie in die Sonne“, wie es von Sophie, - „ohne Hass - mit allem, allem unter sich“, wie es von Hans Scholl bezeugt ist.


Man wird in solcher Haltung durchaus ein politisches Vermächtnis erblicken dürfen, sosehr sie aus der Ebene sogenannter realpolitischer Betrachtung herausfällt. Sie wiederholt sich im Prinzipiellen in vielen Männern des Widerstands aus der mittleren und der älteren Generation: sowohl im Gedanken stellvertretender Reinigung und Sühnung, den Persönlichkeiten so verschiedener Art wie v. Hassell und v. Tresckow, Planck und Goerdeler in fast gleichlautenden Worten ausgesprochen haben, wie auch in der Transzendenz der Todesstunde. Dass so gestorben wurde, wie es etwa Graf Lehndorff-Steinort in dem Abschiedsbrief an seine Frau ausgedrückt hat, nachdem „alles Alte gewaltsam von uns gerissen“ sei, damit man eine „neue Kreatur“ werde oder indem nach den Worten Halems der „Vordergrund des Ich so schattenhaft zu werden beginnt“, nach Überwindung „der letzten kleinen Unruhe“, die „den Baumwipfel erfasst, ehe er stürzt“, - weiterhin dass gehandelt wurde in einem Moment, als noch einige Aussicht zu bestehen schien, das Äußerste für Deutschland und Europa zu vermeiden und doch gehandelt wurde vor allem, um unter Beweis zu stellen, dass das deutsche Volk sich selbst zu befreien und sich von Verbrechen loszusagen wünsche, die täglich und stündlich in seinem Namen begangen wurden, - all das sind nicht nur menschlich ergreifende Züge des deutschen Widerstands gewesen, sondern war auch ein echtes politisches Aktivum, vielleicht das eigentliche „deutsche Wunder“, das über dem äußerer Wiederherstellung nur zu leicht in Vergessenheit gerät.


In der Tat haben nicht Fußballsiege und Mercedeswagen, sondern das Handeln und Sterben der Männer des 20. Juli die „Ehre des Landes“ wiederhergestellt. Um das zu ermessen wird man sich noch einmal vergegenwärtigen müssen, wie damals Deutschland gesehen wurde in den Ländern der Kriegsgegner aber auch der Neutralen: als der monolithische Block, den Hitler zusammengeschweißt zu haben vorgab.
Noch Anfang Juni 1944 schrieb die „Berner Tagwacht“: „... Die ‚zwei Deutschland’ existieren nur in den Wunschträumen unverbesserlicher ‚Weimarer’, die selbst zu tief im Nationalsozialismus drinstecken, ... um sehen zu können, dass Hitler die gerade Fortsetzung der Linie Friedrich II. - Bismarck - Wilhelms II. ist.“ Und fünf Tage vor dem 20. Juli stellte die „Basler Nationalzeitung“ fest: „Es scheint der nationalsozialistischen Propaganda tatsächlich gelungen zu sein, sämtliche Schichten des deutschen Volkes zu einer festen Einheit zusammenzuschmieden.“ Es fällt für unsere Betrachtung nicht ins Gewicht, dass man es besser hätte wissen können und dass aufgrund zahlreicher Kontakte insbesondere in verantwortlichen Kreisen der angelsächsischen Länder eine sehr genaue Kenntnis des „anderen Deutschland“ bestand, die man nur nicht wahrhaben wollte. Es können ebenso die vielfältigen Ursachen beiseite bleiben, weshalb man offiziell an der Fiktion der Identität zwischen Deutschen und Nationalsozialisten, also an Hitlers eigener These wie auch später dann in seinem Verdammungsurteil über „die kleine reaktionäre Klique“, so zäh festgehalten hat.


Tatsächlich haben erst der 20. Juli und die auf ihn folgenden Prozesse diese Gespinste zerrissen, - auch das nur teilhaft und mit wiederholten Rückschlägen auf lange hinaus. Erst 1947 sagte Churchill in einer Rede im Unterhaus mit verspäteter Einsicht von der deutschen Opposition, dass sie „zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde ...“ Und es hat acht Jahre gedauert, bis die „Neue Züricher Zeitung“, nunmehr in fast völliger Umkehr ihres früheren Urteils über die Unerheblichkeit des deutschen Widerstands - die Art und Weise, wie sich das gegenwärtige Deutschland mit dem 20. Juli auseinander setzte - übrigens nicht unberechtigter Weise - zum Maß für den Reifegrad seiner politischen Einsicht erhob.


Wir werden weder in der einen noch in der anderen Richtung unsere Würdigung vom ausländischen Urteil abhängig machen wollen, ganz gewiss nicht von einem, das durch keine vergleichbaren Erprobungen hindurchgegangen ist. Aber wer sich den Blick auf die offenbarste Wirklichkeit dessen, was im Dritten Reich geschehen ist, nicht durch Ressentiments und enge Selbstgerechtigkeit oder durch die Gegenbilanzen wie die Ablenkungsmanöver eines Salomonschen „Fragebogens“ oder eines Kleistschen „Auch du warst dabei“ verstellen lässt, wird anerkennen müssen, dass im internationalen Zusammenhang zunächst eine deutsche Rehabilitierungsaufgabe bestand und besteht, so wie die Männer und Frauen des deutschen Widerstands sie sahen. Ihre eigene Haltung ist für uns allein schon um dieses Zusammenhangs willen, und zwar in den Motiven des Handelns wie in der Art des Sterbens, im Grunde ein innerlich wesentlicherer Aktivposten, als es die - gewiss auch wichtige - äußere Wiedergutmachung oder politische Stabilisierung und wirtschaftliche Prosperität je zu sein vermögen werden. Dem Vansittartschen und Morgenthauischen Bild des „ewigen Deutschen“ kann ein anderes entgegengestellt werden, wirklich im Ewigen verwurzelt und im Martyrium bezeugt. Zu einem solchen Vermächtnis des Menschentums in extremis sollten wir uns rückhaltlos bekennen, so wenig es in der wieder „normal“ gewordenen Alltäglichkeit des Lebens Platz zu haben scheint. In der Tat wirkt es nicht nur in Fragen der deutschen Zukunft unübersehbar hinein, sondern kann mit weiten Perspektiven über Europa und Asien hin sich verknüpfen. Indem er auf den Grafen Moltke und sein bezeichnendes Wort von der „Wiederaufrichtung des Menschenbildes“ als des eigentlichen Anliegens des deutschen Widerstands exemplifiziert, schreibt George F. Kennan in seinem Buch über amerikanische Diplomatie, es werde von Männern dieser Art abhängen, ob die Zukunft der Länder „von der Elbe bis zur Behringstraße“ je wieder eine glücklichere sein würde.


Freilich die letzten moralischen Positionen, von denen bisher die Rede war, sind oft erst langsam und mühsam errungen worden, - auf einem Weg, der durch Bedenken mancherlei Art und einen Konflikt der Pflichten hindurchgeführt hat. Mit Bezug darauf wird sich die Frage mangelnder Elementarität in der Tat stellen lassen. Auch da liegt indessen die Gefahr eines Verkennens nahe genug. So hat der britische Autor Wheeler-Bennett noch in seinem Buch von 1953 über das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Politik bemängelt, dass etwa bei der durch Oberst Hoßbach überlieferten Besprechung des 5. November 1937, in der Hitler zuerst seine Angriffspläne enthüllte, die anwesenden Führer des Heeres und der Marine, wie auch Herr v. Neurath, ihre Einwendungen nur technisch-ressorthaft, also politisch-militärisch nicht aber moralisch begründeten. Das Gleiche glaubt er bei Beck, der den Wortlaut der Hoßbach-Aufzeichnung erst später kennen lernte, feststellen zu müssen. Man kann die konkrete Situation wohl nicht stärker missverstehen, als wenn man den Ausbruch sittlicher Empörung in einer „Führerbesprechung“ vermisst und wer will sich anmaßen, in das Innere schweigsamer Menschen hineinzusehen oder in Becks gerade damals gezogener Folgerung über die „Grenze des soldatischen Gehorsams“ neben der unbestechlichen Einsicht in das Frivol-Abenteuerliche, das Moment des elementaren Durchbruchs zu verkennen.
In der Tat wird man bei jeder näheren Untersuchung der echten Widerstandsbewegungen, irgendwie und irgendwann, früher oder später, auf moralische Auflehnung gegen das Böse schlechthin, auf Empörung gegen das Unmenschliche, als Grundmotiv stoßen und damit in allen wesentlichen Fällen eben doch auf mehr als ressorthaften, d. h. auf totalen Widerstand gegen ein totales System. Das gilt in gewissem Sinne schon von allen denen, die sich persönlich integer hielten; deutlicher noch von den an Zahl nicht geringen Einzelnen oder locker organisierten Gruppen, die sich unschuldig Verfolgter annahmen oder Verfemten Menschlichkeit bezeugten. Sie taten nichts Sensationelles, sosehr es etwas Gefährliches war, nichts, was das Regime unmittelbar angriff; sie hatten kein politisches Ziel außer dem, den ununterdrückbaren Forderungen der Humanität nachzuleben, aber eben damit richtete sich ihre oppositionelle Tätigkeit gegen den zynischen und Menschen verachtenden Kernbestand der herrschenden Doktrin. Es gilt ebenso von den Mitgliedern wissenschaftlicher und künstlerischer Kreise, die sich in der Sprachregelung nicht unterwarfen und deren Widerstand nach der Natur alles Geistigen auf die tief demoralisierende Wirkung der Tyrannei gerichtet sein musste. So beschwor Ernst Wiechert in einer Ansprache an die deutsche Jugend, die er 1935 an der Münchner Universität hielt, seine Zuhörer nicht zu schweigen, wenn das Gewissen zu reden befiehlt, weil „nichts das Mark eines Mannes so zerfrisst wie die Feigheit“. Es gilt erst recht von den breiten Schichten der Ergriffenen innerhalb beider Kirchen, bei deren Opposition ganz offenbar die Verteidigung des eigensten Bereichs, also des Evangeliums, gegen den Einbruch des Neuheidentums voranstand, die dann aber fortgeschritten über den Angriff auf die rassendogmatische Umdeutung des Christentums zum Angriff auf die wesenhaften Züge des Systems im Ganzen: auf die Vergöttlichung eines sterblichen Mannes, auf die Missachtung der Heiligkeit persönlichen Lebens und die Verspottung elementarer Rechtsbegriffe. Mit gutem Grunde betonte ein Hirtenbrief der deutschen Bischöfe, dass sie nicht nur für religiöse und kirchliche Rechte einträten, sondern auch „für menschliche Rechte schlechthin“.


So sehr man Ursache hat, im geschichtlichen Rückblick immer wieder dies zentrale Motiv zu betonen und so sehr es gerade für das Bleibende und Gültige im Vermächtnis des religiösen Widerstandes spricht, dass er nicht unmittelbar politisch war sondern vom innerlichsten Anliegen her fast ungewollt, jedenfalls untendenziös in das Ganze des staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges hineingriff, so wenig wird man bestreiten wollen, dass es Lauheiten und Halbheiten gab - auch im Kirchenkampf, dass es dem Blutbad des 30. Juni 1934 oder dem Empörenden in der Intrige gegen den Generaloberst Fritsch oder den Novemberprogromen des Jahres 1938 an elementarer Antwort durchaus gefehlt hat, und dass es bei einem bestimmten Typus des Widerstands sich allerdings um den des Fachmanns handelte, sei es, dass er sich gegen eine unsinnige Finanzierungspolitik oder eine friedensgefährdende, illusionistische Diplomatie oder eine dilettantische Kriegsführung richtete.


Von einer so teilhaften Opposition war es schwer, zum Entscheidenden und Ganzen vorzustoßen. Das galt von manchen Kreisen, die dem staatlichen und militärischen Machtapparat besonders nahe standen und auf deren Haltung daher besonders viel ankommen musste. Sie waren weithin oppositionell, voller Kritik an verbrecherischen Missgriffen im eigenen Ressort, ohne doch gegen das Prinzip des Verbrecherischen selbst anzugehen und darin den Grund zum Handeln zu finden. Aber dass es Fälle gab, in denen es - wenn auch spät - zu diesem Durchstoß kam wie etwa bei Rommel, ja in denen die Opposition des Fachmanns erst geschichtliche Tragweite erlangte auf der Grundlage einer vorherigen, tiefen und allgemeinen Erschütterung gewohnter Vorstellung, wird ebenso wenig zu bestreiten sein. Ein gutes Beispiel dafür bieten die erst kürzlich bekannt gewordenen Briefe des Generalmajor Stieff. Er schloss sich der Verschwörung erst im Sommer 1942 an, sein Entschluss erwuchs zum Teil aus der Erfahrung in leitender Stellung an der russischen Front, als I a bei der Moskauer Stoßarmee im Winter 1941/42, also aus der Empörung über unverantwortbares militärisches Handeln. Aber dem ging eine andere Erfahrung voraus, gleich zu Beginn des Polenfeldzugs und im Anblick verbrecherischen Menschentums. Sie presste ihm den Satz in die Feder: „Ich schäme mich ein Deutscher zu sein.“


Es sind das Worte, die viele heute nicht gern mehr hören mögen, und niemand wird wünschen, unnötig in Wunden zu wühlen. Aber wenn es eine Voraussetzung seelischer Gesundung ist, sich auch peinlichen Wahrheiten zu stellen, und wenn der nationalpolitische Wert geschichtlicher Besinnung sich mit an der Bereitschaft bemisst, Unangenehmes zu sagen oder dem Vergessenwerden zu entreißen, so gehört dieser Ausbruch der Scham bei einem höheren Offizier mitten im Siege allerdings auch zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes.


Zudem knüpfen sich hieran andere Erwägungen allgemeiner Art. Man hat oft gesagt, insbesondere im außerdeutschen Schrifttum, dass die deutsche Generalität bereitwillig mit dem Regime gegangen sei, solange die Aufrüstung große berufliche Aussichten eröffnete und insbesondere solange Siege geerntet wurden oder der Endsieg zu winken schien. Das trifft auf viele Einzelfälle ohne Zweifel zu; auch ist einzuräumen, dass es schwer sein musste und in der kämpfenden Truppe kaum Resonanz finden konnte, wenn eine Offiziersopposition sich den zunächst ja atemberaubenden Erfolgen des Führers entgegen stellte, - auf einem Weg noch dazu, der mindestens zu Anfang als Revision gewisser Fehlentscheidungen von 1919 gelten konnte. Eine vielfältige Schicht von Motiven sehr verschiedener Art und Wertigkeit mochte sich hier querlegen. Man kennt die Kritik an den Karrieremachern und Ordenssternjägern oder auch denen, die prinzipiell bereit aber aus an sich pflichtmäßigen Erwägungen nicht entschieden waren, eine Kritik, wie sie gerade von Seite der deutschen Opposition in Schlabrendorffs Buch und Goerdelers Briefen, in den Aufzeichnungen v. Hassells oder Ludwig Kaisers so schneidend geübt worden ist. Im Siege könne man nicht Revolution machen, so ist wohl gesagt worden, man müsse den Umschwung abwarten, womit dann freilich ein anderes und schwereres Dilemma sich ergeben sollte.


Ehe auf das Problem von „Widerstand und Niederlage“ einzugehen ist, wird eines indessen festzustellen sein, was auch Teil des Vermächtnisses ist und in Zukunfts-Entscheidungen über die Grenze des „soldatischen Gehorsams“ einmal wieder bedeutsam sein mag. Es gab gerade in der höheren militärischen Führung der Männer genug, die abseits aller Opportunität auf einem Standpunkt standen oder früh sich zu ihm durchgerungen hatten, auf dem nur noch die Stimme des eigenen Gewissens Richter war: die Beck und Stülpnagel, die Witzleben und Hoepner, die Falkenhausen und Tresckow, die Canaris und Oster, die Hofacker und Stauffenberg. Sie haben zum Teil schon den Weg zum Kriege bekämpft oder durch eine innere Erhebung abzufangen gesucht und zwar nicht nur, weil er nach ihrer besseren Einsicht zur Niederlage Deutschlands führen werde; auch setzte ihrer aller Widerstand und der vieler anderer nicht erst ein, als die Phase des Erfolges abgelaufen war. Sie haben sich dem Verbrecherischen, das dieser Politik wie dieser Kriegführung im Ganzen eigen war, entgegengestellt.


Entsprechendes wäre von der diplomatischen Opposition zu sagen, der vor allem der englische Historiker Namier in seiner übertriebenen und pharisäischen Kritik an den im Dienst Gebliebenen Unentschlossenheit und Zweideutigkeit vorgeworfen hat. Gewiss, Herr v. Weizsäcker und die Männer der Wilhelmstraße, die ihm nahe standen, sind aus einer Politik, die sie missbilligten, nicht frontal ausgebrochen. Sie suchten in ihrem Rahmen den Frieden zu wahren oder mindestens als „Bremser“ den Ausbruch des Krieges hinauszuschieben, wozu das Hereinbringen von Einzelerfolgen und die Auflösung festgefahrener Situationen mit den konventionellen Mitteln der Diplomatie durchaus gehörte. Aber daneben läuft eine andere sehr unkonventionelle Linie. Sie beginnt während der tschechischen Krise im August/September 1938, als auf eine Vorsondierung durch Herrn v. Kleist-Schmentzien in London eine Aktion Weizsäckers folgte, die im Einvernehmen mit Beck und Canaris unternommen war und durch die Erwirkung einer entscheidenden englischen Stellungnahme und damit durch das Klarstellen der Kriegsgefahr die Voraussetzung für den inneren Staatsstreich schaffen sollte. Diese Art indirekten Handelns setzt sich fort bis zum Kriegsausbruch hin. Sie hat im entscheidungsvollen März 1939 durch Warnungen aus Berlin die „letzte Unze“, wie man wohl gesagt hat, beigetragen zum englischen Entschluss der Garantie an Polen, von der die deutsche Opposition eine Abschreckung Hitlers hoffte. Und sie hat durch bewusste Indiskretionen den Vollzug des deutsch-sowjetischen Pakts zu hintertreiben gesucht, mit dem der Janustempel ja in der Tat sich öffnete. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, warum und woran all dies scheiterte. Entscheidend ist doch auch hier, dass ein Durchbruch durch traditionelle nationalstaatliche und beamtenmäßige Bindungen geschah, dass eine Diplomatie gegen ihre eigene Regierung und für die Erhaltung des Friedens kämpfte, weiterhin, dass sie es tat, nicht nur, weil sie vom Angriff eine Katastrophe Deutschlands erwartete, sondern um einer menschenwürdigen Ordnung zwischen den Völkern willen, im Sinn europäischer Verantwortung und mit dem uns wieder so aktuell gewordenen Wunsch nach einer internationalen Friedensfront gegen das drohende Chaos. Dies Hinübergreifen über Grenzen war ein durchaus neuer und bedeutsamer Ansatz, ein Vorspiel - mehr vielleicht noch zum „Morgen“ als zum „Heute“. Wie Adam v. Trott zu Solz es im Winter 1939 in einem noch unveröffentlichten Brief an einen englischen Freund voraussah: Unser Kampf ... „ist eine elementare Notwendigkeit geworden für das Leben Europas als eines Ganzen, wenn anders unsere Einzelländer und was an ihnen erhaltenswert erscheint, überleben sollen“.


Hier rühren wir noch einmal an das Problem des Elementaren. Man kann gewiss fragen, ob bei den Führern des militärischen wie des diplomatisch-politischen Widerstands der Klarheit der Einsicht und der moralischen Unantastbarkeit die Kraft und Massivität des Willens entsprach. Es waren das ja Männer, denen keine andere Rolle von Haus aus so wenig lag und so wenig an der Wiege gesungen worden war wie die des Revolutionärs und Verschwörers. An brutaler Vitalität war ihnen der innere Gegner gewiss überlegen. Man braucht nur die Rede Himmlers an die Gauleiter zum 20. Juli zu lesen, um dessen gewahr zu werden, auf wie verschiedenen Ebenen nicht nur des Menschentums sondern auch fanatischer Entschlossenheit sich dieser Kampf abgespielt hat. Aber für die Männer der mittleren Generation, die Leber und Mierendorff, die Reichwein und Haubach, die Oster und Dohnanyi, die Trott und Haeften, die Schulenburg und Schwerin-Schwanenfeld, die Yorck und Stauffenberg, für Sozialisten, Konservative und Christen, wenn nicht fanatischer so doch radikaler Art, würde der Abstand schon etwas anders zu formulieren sein. Nicht an Bedenklichkeit jedenfalls und Mangel an Einsatz oder an technischen Fehlern dilettantischer Verschwörer, wie man wohl lesen kann, und nicht am Widerstand gegen den Widerstand ist die Reihe der Anschläge bis zum 20. Juli und der dieses Tages selbst gescheitert. Auch da ist noch mancher Irrtum zu bereinigen. Mit Recht hat Eberhard Zeller in seinem Buch „Geist der Freiheit“ den Einwand abgewehrt, Stauffenberg habe, statt andere zu opfern sich selbst mit in die Luft sprengen und so den Erfolg sicherstellen sollen. Es gibt, so möchte man sagen, auch eine Elementarität des Sich-Leichter-Machens im Sinne dessen, was man militärisch die Desertion nach vorwärts nennt.


Überhaupt aber öffnet sich mit dem Gedankenschweren, dem Durchlebten und Durchdachten, das auch den zur Tat entschlossensten Männern anhaftete, eine andere Dimension, in der wir das Vermächtnis des Widerstands noch aufzusuchen haben. Es ging ja nicht nur um die unmittelbare Reinigungstat, - so sehr sie zentral blieb - es ging auch um die Frage, wie der Bürgerkrieg zu vermeiden und doch dem Weißbluten ein Ende zu machen sei, und es ging nicht zum Wenigsten darum, was an die Stelle des gestürzten Regimes treten solle, für welches Zukunftsbild Deutschlands und Europas die Tat geschehe.


Es kann nicht die Aufgabe dieser Besinnungsstunde sein, einen systematischen Aufriss des politischen und sozialen Gedankenguts der Opposition, ihres Regierungsprogramms gleichsam, zu geben. Wenige Worte müssen genügen, um auch hier an das „Heute und Morgen“ zu rühren. Es sind ja nicht nur beste Köpfe zweier Generationen, die an bestimmte Reformideen ihre Kräfte zu setzen bereit und höchst befähigt waren uns entrissen, sondern auch ihr Ansatz ist mannigfach umgebrochen worden und insoweit „Vermächtnis“ geblieben. Das gilt von dem entschlossenen Hineindenken eines deutsch-föderativen Aufbaus in eine europäische Föderation, es gilt von gewissen Leitgedanken in den Verfassungs- und Verwaltungsentwürfen der Goerdeler, Popitz und Jessen und es gilt vor allem von der geistigen Vorbereitungsarbeit, die im Kreisauer Kreis geleistet worden ist. Die Männer, die hier zusammenwirkten, entschiedene Konservative und Sozialisten mit ebenso entschiedenen Anhängern beider Konfessionen, waren im Prinzip sich dahin einig, dass kein Aufstand an und für sich das tief eingefressene Übel heilen könne. Sie sahen es als ihre Aufgabe, die Grundlagen eines nach-nationalsozialistischen Deutschlands und eines nach-nationalsozialistischen Europas zu durchdenken. Aus dieser Arbeit gingen eine Reihe höchst bemerkenswerter und im Einzelnen durchaus konkreter Entwürfe hervor.


Was dabei besonders hervortritt ist zweierlei von programmatischem Charakter. Das eine liegt in der Betonung der „Würde des Menschen“ als eines Zentralthemas des zu erneuernden Europas, in der Betonung sittlicher Beziehungen innerhalb der staatlichen wie der Völkergemeinschaft, in der Forderung namentlich nach der Wiederherstellung der „Majestät des Rechts“. Moltke insbesondere hat diese Forderung auf das Problem der Kriegsverbrechen mit einer adligen Strenge und Sauberkeit angewandt, von der man im Nürnberger Verfahren gern einen Hauch verspürt hätte und auch heute verdienen seine Gedanken zur Idee und Praxis des Rechtsstaats zweifellos noch immer stärkste Beachtung.


Das andere Leitmotiv war das soziale, das gewiss auch bei Goerdeler sehr stark zur Geltung kam, das aber bei den Kreisauern ganz anders und in einer spezifischen Sicht in den Mittelpunkt trat. Auch hier ging es um die „Würde des Menschen“, um die christliche Auffassung des Besitzes wie des Erwerbs als Verantwortung, also um Grundpositionen abendländischer Gesittung, aber es ging auch um eine produktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Lebensformen, die von Osten herandrängten. Es handelte sich bei diesem „Ernstnehmen“ nicht um nationalbolschewistische Tendenzen, wie man höchst irrtümlich interpretiert hat, wohl aber um die Behauptung Deutschlands in der Mitte. Trott pflegte das so auszudrücken, es gelte, „das Realprinzip des Ostens mit dem Personalprinzip des Westens zu vereinen“. In einfacheren Worten, die in den Tagen von Casablanca an die amerikanische Adresse gerichtet waren, aber in der heutigen Krise westlicher Verteidigung erst ihren vollen Klang erhalten, hat er das Vermächtnis des Kreises dahin präzisiert: „Die Opposition glaubt, dass die entscheidende Entwicklung in Europa auf sozialem, nicht auf militärischem Gebiet stattfinden wird.“


Es bleibt schließlich noch die Frage zu stellen, wie Männer, die so hoch vom Rechte dachten, die so stark religiös und sozialethisch gebunden waren, den Entschluss zur Gewaltanwendung, zum Tyrannenmord, zum Herausbrechen aus der Frontgemeinschaft fanden. In der Tat neigte Moltke zu der Auffassung, dass man dem Unheil nicht in den Weg treten dürfe und dass eine innere Revolte die Probleme nur verwirren würde. Aber weder verhärtete sich diese Ansicht bei ihm zu einem Dogma des passiven Widerstandes noch wurde sie von anderen Mitgliedern des Kreises geteilt; sie nahmen vielmehr an der Vorbereitung wie an der Tat selbst aktiven, ja führenden Anteil. Und doch ist keinem von ihnen die quälende Frage erspart geblieben, ob Gewalt ein Heilmittel sein konnte. Erst recht in der älteren Generation war für viele, wie schon gesagt worden ist, der Weg zum Entschluss ein mühsamer und langsamer. Indem man das anerkennt, sollte man nicht für einen Augenblick die Achtung vergessen gegenüber dem Gewissenskampf, mit dem hier um das religiöse Problem des politischen Mordes und das des Treueids gerungen worden ist. Gerade, dass man diese Fragen nicht leichtnahm, macht zu seinem Teil das sittliche Gewicht einer Entscheidung aus, die alle Hemmnisse überwand und die auch vor dem vollen Austrag des Dilemmas zwischen Beamten- oder Offizierspflicht und Menschenpflicht, zwischen den üblichen Geboten nationaler Disziplin und denen einer höheren Vaterlandsliebe, nicht zurückgescheut ist. Dass Deutschland, wenn es einem neuen Regime gelinge, den Krieg vor völligem Ausbluten zu beenden, schwere Opfer nicht vermeiden könne, davon überzeugte man sich freilich bald. Als Trott im Winter 1939/40 in Washington über die damals noch neutralen Vereinigten Staaten hin versuchte, eine feindliche Kriegszielerklärung zu erwirken, die Hitlers Propagandatrumpf des Vernichtungskampfes gegen das deutsche Volk den Boden entziehe und damit der Opposition eine bessere Chance gebe, hoffte er noch auf Erhaltung der Grenzen von 1937. Als die beiden deutschen Pastoren Schönfeld und Bonhoeffer 1942 mit dem Bischof von Chichester in Stockholm sich trafen, mussten sie die Besetzung Berlins durch die alliierten Mächte schon als Vorbedingung des versuchten Friedensfühlers annehmen.


Für jeden, der sehen will, dürfte eindeutig klar sein, dass es bei diesem und so manchen anderen Auslandskontakten, dem der Joseph Müller und Canaris, der Goerdeler und v. Hassell, um das Ziel einer Bewahrung Deutschlands und Europas vor dem drohenden Chaos, vor dem Vakuum in der Mitte des Kontinents ging. Keine der Gruppen und keiner der Männer, die an solchen Aktionen teilnahmen, standen unter fremdem Auftrag, - mit Ausnahme etwa der Roten Kapelle und auch da dürfte ein summarisches Urteil fehl am Platze sein. Im Einzelnen richteten sich die Kontakte in den verschiedenen Phasen des Krieges auf Zwecke verschieden abgestufter Art, vor dem Westfeldzug etwa auf die Garantie einer Atempause, d. h. auf die Zusage der Feindmächte, den deutschen Schwächemoment nicht auszunutzen und so den inneren Umsturz möglich zu machen. Später hoffte man, den Schwächemoment, erst recht den Bürgerkrieg, überhaupt vermeiden zu können durch die militärische Blitzrevolution in Form der Walkürebefehle, wie sie in Paris am 20. Juli tatsächlich vor sich ging. Im Auslandskontakt kam es dann darauf an, dass eine nachhitlerische Regierung als Partner anerkannt und dass ein gewisses Minimum deutscher Lebensmöglichkeiten gesichert wurde, was als Argument vor allem im Hinblick auf noch abwartende militärische Kreise wichtig war. In der letzten Phase galt, wenn es zum Zusammenbruch kam, wenigstens der westlichen Besetzung nach Möglichkeit die Vorhand zu geben.


Man kann all das mit Fug und Recht anführen, ohne doch damit an den zentralen Nervenstrang zu rühren. Zunächst einmal war für alle Auslandsbeziehungen die entschiedenste Absetzung vom innerdeutschen Regime und seinen Verbrechen die selbstverständliche Voraussetzung. Man durfte - wie vergeblich es auch immer sein mochte - nicht im leisesten dem Verdacht Vorschub leisten, dass es nur darum gehe, mit einem blauen Auge aus dem verlorenen Krieg herauszukommen und nicht um eine radikale Wendung gegen Hitlers Krieg und sein System als gleichermaßen sündhaft. Das Entscheidende ist doch wohl, dass diese Haltung des Protests nicht durch irgendwelche Erfolgsaussichten hervorgelockt, sondern tief erlebte Wirklichkeit im Denken und Handeln der deutschen Opposition gewesen ist: ein Durchbruch „ins Freie“, wie er keinem anderen Widerstand, der sich bloß gegen einen fremden Eroberer und im üblichen Sinn „nationalen“ Feind zu kehren brauchte, aufgegeben war und wie er Menschen aller Städte, Richtungen und Konfessionen in einer unter Deutschen seltenen Einmütigkeit zusammenführte, die gewiss auch Teil des Vermächtnisses ist, den man heute anrufen möchte.


Aber bedeutete der Kampf gegen die eigene Regierung mitten im Krieg nicht zugleich ein Sichabsetzen von der Frontgemeinschaft, - um so belastender, je schärfer sie unter Druck gestellt, je hoffnungsloser sie im besonderen in der Abwehr der bolschewistischen Drohung verstrickt war? Die Männer des deutschen militärischen Widerstands, in Heimatstäben wie in leitenden Kommandostellen in Ost und West, wären gewiss die Letzten gewesen, der opferreichen Kameradschaftsgesinnung, in der ihre Söhne, Verwandten und Freunde lebten und der verbissenen, illusionslosen Härte der Pflichterfüllung, wie sie tagaus, tagein an der Front geübt wurden, die hohe Achtung zu versagen, die ihnen für immer gebührt. Aber sie mussten für sich selbst eine schwere Pflicht und eine höhere Verantwortung auf sich nehmen, indem sie einer Führung in den Arm fielen, die jene Opfer zu unmenschlichen Zielen eines barbarischen Großreichs verbrauchte und zuletzt in einem Götterdämmerungswahn versank, der in den eigenen Untergang ein ganzes Volk mit herabzureißen gedachte. Diejenigen, die am tiefsten loteten, wie etwa Oster, waren von Anfang an überzeugt, dass man unter dem gegebenen Regime einen deutschen Sieg nicht einmal wünschen dürfe, dass es der Sieg des Antichrist, des Tiers aus dem Abgrund, sein würde - und handelten danach. Sie mochten bekennen, wie es Dietrich Bonhoeffer für sich in schärfster Herausstellung des Dilemmas formuliert hat: „Ich bete für die Niederlage meines Vaterlandes. Nur durch Niederlage können wir Sühne leisten für die furchtbaren Verbrechen, die wir gegen Europa und die Welt begangen haben.“


Es ist bekannt, welche Missdeutungen hier angesetzt haben. Zum Teil handelt es sich dabei um Fälschungen krasser Art, um grobe Dolchstoßlegenden bis zu dem Punkte hin, dass nicht nur der Zusammenbruch von 1945 durch den „eklen Wurm deutscher Zwietracht“ verursacht worden sei, sondern auch unter anderem der Eintritt Englands in den Krieg, - dies nämlich durch das Wissen um die Existenz einer deutschen Opposition, wie Herr v. Ribbentrops nachgelassene Memoiren uns glauben machen wollen. Die einzige „Sünde“ Hitlers war dann, dass er in unbegreiflicher Langmut den Kopf dieser Hydra erst nach dem 20. Juli zertrat.


Aber noch bedenklicher vielleicht als solch plumpe Tendenz, die am einfachsten Tatsachenwissen sich widerlegt, ist der Nebel von Haltwahrheiten und moralischen Zweideutigkeiten, der sich auf einer Bewegung niederzulassen beginnt, die in der Auflehnung gegen das Gift der Lüge und im Durchbruch eines sittlich Unbedingten ihr stärkstes Widerlager hatte. Wenn man sich den Blick für diese innersten Kräfte offen halten will, wird man den Konflikt der Pflichten, der bis zur äußersten Zuspitzung hin dem deutschen Widerstand auferlegt war, nicht bagatellisieren dürfen. Es genügt nicht, vom Unrechtscharakter des Regimes zu sprechen, dem gegenüber man nicht habe Unrecht tun können - wie wohltuend immer diese Auffassung sich von der des juristischen Positivismus unterscheidet - oder von erschlichenen Eid, der in der Tat im Sinn eines zweiseitigen Treueverhältnisses schon längst von dem aufgelöst war, dem man ihn geleistet hatte.


Auch sollte man sich durch die auf schiefer Front vorgetragenen Legenden nicht zu einer zu niedrig gegriffenen Abwehr verführen lassen. Sabotage irgend erheblicher Art sei nicht geübt worden, sicherlich nicht von den Männern des Widerstandes, Osters Mitteilungen an den holländischen Militärattaché hätten angesichts des Unglaubens der Gegenseite keinen Schaden getan, vor allem aber der Krieg sei sowieso verloren gewesen, lange schon, ehe auch Speer diese Erkenntnis kam, - so wird dann wohl gesagt. Empirisch ist das alles völlig richtig und von Sachverständigen für die verschiedensten Teilfragen (Brennstofflage, Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte usw.) gründlich erwiesen worden. Aber solch „entlastende“ Beweisführung ist geeignet, den Kern des Problems zu verhüllen, den politischen wie den sittlichen. Politisch geht es, wenn wir das Vermächtnis des 20. Juli in seinem vollen Gewicht anrufen, nicht um irgendwelche Defensive, sondern um Angriff gegen jedes System, das des Menschen Gewissen zu vergewaltigen und ein ganzes Volk in Verbrechen zu verstricken unternimmt. Sittlich geht es um letzte prinzipielle Entscheidungen in der Grenzsituation, in der die Rangordnung traditioneller Werte sich zurechtrückt und ordinäre Maßstäbe versagen.


Sieht man von da aus noch einmal auf das Heute und Morgen, so wird gewiss niemand sagen wollen, dass die Grenzsituation ein Modellfall ist für alle Zukunft oder dass im Extrem die Regel des täglichen Handelns gefunden werden kann. Die gleichen außerordentlichen Umstände kehren nicht wieder, und das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, ist nicht eine Aufgabe für jedermann oder in jedem gegebenen Moment. Und doch hat der Durchbruch ins Freie, für den der 20. Juli Symbol ist, eine wegweisende Bedeutung. Es sind damals in der Grenzsituation Möglichkeiten und Umwertungen vorgelebt und vorgestorben worden, die potenziell zum Wesen der Zeit gehören, in der wir existieren. Es sind das die Möglichkeiten und Umwertungen internationaler Art im Sinne einer Frontbildung des Menschlichen gegen das Unmenschliche, von der einleitend die Rede war und die eine gewisse Aktualität schon heute hat. Aber auch der innerstaatliche Bereich sollte über dem äußeren Bild widerhergestellter Rechtlichkeit, hinter dem doch immer die Drohung des Anonymen und Kollektiven steht, nicht aus dem Blickfeld verschwinden. Konkret gesprochen heißt das etwa, es dürfen keine Lagen eintreten, in denen noch einmal deutsche Offiziere gezwungen werden könnten, gegen ihren Eid zu handeln oder aus einer missbrauchten Verteidigungsgemeinschaft auszubrechen. Dies ist indessen nur der zugespitzte Einzelfall. In allgemeinerer Sicht wird man die latente Gefahr so umschreiben dürfen, wie sie Graf Yorck vor dem Volksgerichtshof in aller Klarheit und Schlichtheit herausgestellt hat: „Das Wesentliche ist der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen vor Gott.“


Es ist damit von den Männern, die so dachten, so handelten und starben, zugleich auch auf der Ebene des Täglichen und Stündlichen eine Wachheit des Gewissens und der Mitverantwortung dem Einzelnen eingeschärft worden, der es an Erprobungen nach der Natur des modernen gesellschaftlichen Mechanismus nicht fehlen kann und ohne die doch eine freie Welt nicht zu bestehen vermag. Indem Bonhoeffer, um ihn noch einmal und zwar zum unmittelbar Politischen und spezifisch uns Angehenden des Vermächtnisses zu zitieren, in einer Aufzeichnung von der Jahreswende 1942/43 den traditionellen Freiheitsbegriff des Deutschen und die schmähliche Ausnutzung seiner Bereitschaft zu Gehorsam und Lebenseinsatz erörtert, fährt er fort: „Es musste sich herausstellen, dass eine entscheidende Grunderkenntnis dem Deutschen noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag.“


 


 


 


Bezugnahme auf einen von Hermann Heimpel zum Gedenken des 17. Juni in der Aula der Tübinger Universität gehaltenen Vortrag.
"Christ und Welt", VII, Nr. 25 (24. Juni 1954).
Die im Folgenden zitierten Schweizer Presse-Äußerungen nach einer vor dem Abschluss stehenden Tübinger Dissertation von Ernst Otto Maetzke.
Immerhin sei nicht vergessen, dass die N.Z.Z. ihrer früheren Haltung zum Trotz schon im Juni 1945 (Nrn. 979 u. 983) ihre Spalten für 2 Artikel eines Überlebenden des 20. Juli (Eugen Gerstenmaier) öffnete.
Vgl. John W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power, The German Army in Politics. 1918-1945. (London 1954), 361, 392.
Vgl. Vierteljahrshefte f. Zeitgeschichte, II. 3. S. 290 ff., insbes. S. 300.
Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Geschichte der Widerstandsbewegung in der Phase zwischen dem Polenfeldzug und dem Angriff im Westen. Vgl. dazu die kürzlich veröffentlichte Dissertation von Erich Kosthort (Beil. Z. Wochenzeitung "Das Parlament", Band XXVI u. XXVII, 7. u. 14. Juli 1954).
So insbesondere in dem Buch: In the Nazi Era (London 1952), Part I "Men who served Hitler". - Eine eingehende Stellungnahme hierzu wie überhaupt zur Kritik einer Gruppe englischer Historiker am deutschen Widerstand muss vorbehalten bleiben. Vgl. auch Vierteljahrshefte f. Zeitgeschichte I, 4, 452.
Documents of British Foreign Policy, Series III, (II, 683 ff.) - Über Kleists Beteiligung bei der Warnung durch Beck und Oster Ende März 1939 (die "letzte Unze") vgl. Wheeler-Bennett, a.a.O., 437.
Für Goerdeler sei zu dem, was schon früher bekannt war, hinzu noch auf den Gedenkartikel von Gerhard Ritter verwiesen. (Frankf. Allg. Ztg., 17. Juli 1954, Nr. 163). Die von ihm vorbereitete Biografie Goerdelers. wird das Herauswachsen der Reformideen aus den Traditionen der Selbstverwaltung näher erörtern.
Dies gilt namentlich von dem Plädoyer des Generalstaatsanwaltes Dr. Bauer im Remerprozess. Zum Folgenden auch die daselbst erstatteten Fachgutachten.