Zwischen Bekenntnis und Widerstand. Zur Erinnerung an Eberhard Bethge

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

WOLFGANG HUBER

Zwischen Bekenntnis und Widerstand. Zur Erinnerung an Eberhard Bethge

Vortrag vom Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Dr. Wolfgang Huber am 19. Juli 2000 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Im vergangenen Jahr hat Eberhard Bethge noch an den Veranstaltungen zur Erinnerung an den 20. Juli 1944 teilgenommen - wie er das in jedem Jahr tat, auch im hohen Alter, als ihm das Reisen schwerer fiel. Für viele Überlebende und Nachkommen des 20. Juli war er auf besondere Weise Seelsorger und geistlicher Begleiter. Die ökumenischen Gottesdienste am 20. Juli wurden von ihm gemeinsam mit Pater Mayer über Jahrzehnte hin geprägt, bis hin zu seiner Predigt am 20. Juli 1994, am fünfzigsten Jahrestag des Attentats.

Am 18. März dieses Jahres ist Eberhard Bethge im hohen Alter von über 90 Jahren gestorben. Am 25. März haben wir ihn in Bonn-Bad Godesberg zu Grabe getragen. Dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und diejenigen, die der Erinnerung an den 20. Juli besonders verpflichtet sind, ihn bei diesem Vorabendvortrag geehrt wissen wollten, ist nur ein kleiner Beitrag dazu, unsere gemeinsame Dankesschuld abzutragen. Deshalb habe ich mich auch der Einladung zu diesem Vortrag nicht entzogen.

I.

Meine Aufgabe ist es heute nicht, die Biographie von Eberhard Bethge im Einzelnen nachzuzeichnen, dieses auf ungewöhnliche Weise reiche und runde Leben. Ein Hinweis auf die Stationen muss genügen.

Am 28. August 1909, einem Sonntag, wurde er in Warchau bei Magdeburg in eine Pfarrfamilie hineingeboren. Die Herrnhuter Losungen gaben ihm an jenem Tag als Lehrtext ein Wort aus dem Philipperbrief mit auf den Weg: „Wandelt nur würdig des Evangeliums Christi, damit - ob ich komme und euch sehe oder abwesend von euch höre - ihr in einem Geist steht und einmütig mit uns kämpft für den Glauben des Evangeliums.“

Zum Kampf für den Glauben des Evangeliums gab das Jahrhundert, das Eberhard Bethge in seinem Leben beinahe vollständig durchmaß, viel Anlass. Nach dem frühen Tod des Vaters versprach er sich bereits im Jahr 1923 vierzehnjährig dem Beruf des Pfarrers. In Königsberg, Berlin, Wien, Tübingen und Halle-Wittenberg studierte er zwischen 1929 und 1933 Theologie - welche Fülle der Studienorte in nur vier Jahren! Auf das Vikariat in Ziesar folgte eine kurze Zeit im Predigerseminar in Wittenberg, das Bethge mit anderen zusammen auf Weisung des Reichsbischofs am 29. Oktober 1934 verlassen musste. Nun war der Weg in die Bekennende Kirche unzweifelhaft vorgezeichnet. Er führte in Dietrich Bonhoeffers Predigerseminar in Zingst und Finkenwalde. Damit begann eine Freundschaft, deren Früchte wir noch immer neu entdecken. Und zugleich wuchs Bethge hinein in eine kirchliche Resistenz, die bald in den politischen Widerstand münden sollte.

Von 1935 bis 1937 war er Mitglied des „Bruderhauses“ in Finkenwalde, von 1937 bis 1940, nach der Auflösung von Finkenwalde durch die Gestapo, war er Bonhoeffers Studieninspektor in dem Sammelvikariat Groß-Schlönwitz/Sigurdshof, in dem die Arbeit des verbotenen Predigerseminars fortgesetzt wurde. Im März 1940 wurde auch Sigurdshof aufgelöst; Bonhoeffer und Bethge übernahmen Visitationsaufgaben der Bekennenden Kirche, vor allem in Ostpreußen. Im Herbst dieses Jahres trat Bethge als Mitarbeiter in die Gossner-Mission ein, die ihren Sitz in Berlin hatte. Die Lektüre von Bethges Erinnerung an diese Zeit bestätigt, dass er in seinen Gedanken zugleich mit anderem beschäftigt war - nicht nur mit der Vorbereitung der Ehe mit Renate Schleicher, der Nichte Dietrich Bonhoeffers, sondern eben auch mit den Vorüberlegungen zu dem Umsturz, den er für ebenso notwendig hielt wie Bonhoeffer.

Im April 1943 wurden Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi verhaftet; im Mai 1943 heirateten Eberhard und Renate Bethge; im Juli 1943 wurde Eberhard Bethge zur Wehrmacht eingezogen. Nach Italien mussten bald darauf Dietrich Bonhoeffers Gefängnisbriefe geschickt werden, die später unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ oder im Englischen „Letters and Papers from Prison“ ihren Weg durch die Welt machten. Zugänglich wurden sie allerdings nur, soweit sie in Sicherheit gebracht waren, bevor Bethge am 28. Oktober 1944 verhaftet wurde. An der italienischen Front eröffnete man ihm, er sei unter schwerer militärischer Bewachung sofort an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin zu überstellen. Die Briefe und Papiere Dietrich Bonhoeffers, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in seinem Spind befanden, überantwortete er sofort den Flammen.

Nun war auch Bethge ein politischer Gefangener, der für den Aufstand des Gewissens am 20. Juli im Gestapo-Gefängnis in der Lehrter Straße büßen musste. Die wenigen Tage zwischen dem 22. und dem 25. April 1945 entschieden über Leben und Tod. Als Einziger der fünf Männer aus dem Bonhoefferschen Familienkreis, die im Zusammenhang des 20. Juli 1944 inhaftiert wurden, überlebte er mit knappster Not - „seltsam entronnen“, wie er sagen konnte. Anders als sein engster Freund Dietrich Bonhoeffer, anders auch als sein Schwiegervater Rüdiger Schleicher kam er am 25. April 1945 frei. Seitdem widmete er sich beidem: dem selbst gewählten Beruf des Pfarrers und dem Erbe derer, die nicht überleben durften, dem Erbe Dietrich Bonhoeffers zumal.

Im Beruf des Pfarrers entfaltete Bethge eine Tätigkeit, die allein schon ein Leben ganz hätte ausfüllen können. Bereits im Mai 1945 wurde er persönlicher Referent bei dem neu ernannten - genauer muss man sagen: selbst ernannten - Bischof Otto Dibelius. Ebenfalls noch im Jahre 1945 übernahm er zusätzlich zur Referententätigkeit die Aufgaben eines Studentenpfarrers an der Humboldt-Universität. Seit 1949 war er zugleich Studentenpfarrer an der Technischen Universität. 1953 verließ Eberhard Bethge mit seiner Familie Berlin und wechselte in ein Auslandspfarramt in London. 1961 kehrte er nach Deutschland zurück, aber nicht nach Berlin, sondern nach Rengsdorf im Rheinland, wo er fünfzehn Jahre lang das Pastoralkolleg der Rheinischen Landeskirche leitete und damit für die Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer dieser großen evangelischen Landeskirche verantwortlich war.

Aber zugleich entfaltete sich neben und in dieser Berufstätigkeit noch ein zweiter Beruf: die Verantwortung für das Erbe Dietrich Bonhoeffers und für die Folgen eines aus dem christlichen Bekenntnis erwachsenen Widerstands. 1949 erschienen Dietrich Bonhoeffers Fragmente zur Ethik, 1951 die Briefe und Texte aus dem Gefängnis unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“. All das und vieles andere kam neben dem Pfarramt zustande. Nur einmal, 1957/58, ließ Bethge sich aus dem Pfarramt beurlauben und verbrachte ein Forschungsjahr an der Harvard Divinity School, das er zur Vorbereitung von Bonhoeffers „Gesammelten Schriften“ nutzte. Neben seinen Pflichten in der Pfarrerfortbildung der großen Rheinischen Kirche arbeitete er an der Biographie Dietrich Bonhoeffers, die 1967 erschien. Das Buch gilt als eine der großen Biographien deutscher Sprache aus dem 20. Jahrhundert. Bethge gehört zu den wenigen Theologen, die in den erlauchten Kreis der „poets, essayists and novelists“, also in den PEN-Club, aufgenommen wurden.

Der so genannte Ruhestand von 1976 an war randvoll ausgefüllt mit der Fürsorge für die Neuausgabe der Dietrich Bonhoeffer Werke, die wir miteinander in sechzehn Bänden sowie einem Registerband zustande bringen und noch zu Bethges Lebzeiten abschließen konnten. Und zugleich beantwortete Bethge in unermüdlicher Freundlichkeit jede der Anfragen, die über die Jahrzehnte hin ununterbrochen in seinem Hause eintrafen. Unter den auch für Experten kaum noch zu überschauenden, inzwischen in einer stattlichen Bibliographie zusammengestellten Arbeiten zu Leben und Theologie Dietrich Bonhoeffers wird es kaum eine geben, in deren Einleitung nicht der Dank an Eberhard Bethge ausgesprochen ist für die Hilfe, mit der er das Zustandekommen der Publikation ermöglicht hat.

Aber es ging ihm nicht darum, die Asche zu hüten, er wollte die Flamme weitertragen. Deshalb brachte er seine Stimme ein in die theologischen und gesellschaftlichen Klärungsprozesse, die er für nötig hielt: gegen Rassismus, gegen das Apartheidregime, gegen das Vergessen. Auch das Hinnehmen des christlichen Antijudaismus in der Bekennenden Kirche beschäftigte ihn mehr und mehr, die ungeschriebene siebte These der Barmer Theologischen Erklärung bedrückte ihn; umso mehr arbeitete er für die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Für eine Theologie nach dem Holocaust hat er auf seine Weise wichtige Marksteine gesetzt.

II.

„Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, dass unser Leben fragmentarischen Charakter hat.“ So heißt es in einem Brief Dietrich Bonhoeffers an Eberhard Bethge vom 23. Februar 1944. Und Bonhoeffer fährt fort: „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht.“ An Eberhard Bethge hat sich diese Voraussage nicht bewahrheitet. Während dem Freund das Leben entrissen wurde, blieb Eberhard Bethges Leben bewahrt. Dieses Leben musste nicht fragmentarisch bleiben. Es hat sich erfüllt.

Eberhard Bethge konnte selbst die weltweiten Wirkungen erleben, die sich aus dem mutigen Entschluss ergaben, Bonhoeffers Ethik und die Briefe aus der Haft der Öffentlichkeit zu übergeben. Die außerordentliche Mühe der tausendseitigen Biographie des Freundes wurde belohnt. Er konnte spüren, wie in die nächsten Generationen hineinwirkte, was ihm selbst wichtig war. Er erlebte die Vollendung der Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffers Werken, an der ihm so viel lag. Wir sind nicht auf das Vermuten angewiesen, um zu wissen, wie das Ganze seines Lebens gemeint war. Es liegt vor unseren Augen, ein erfülltes, meisterliches, gerundetes Leben.

Nachdem an seinem 90. Geburtstag, am 28. August des letzten Jahres, bei einem Empfang auf der Godesburg gesagt worden war, was sein Wirken und seine Wirkung für Kirche und Gesellschaft bedeutet, erhob er sich, um zu danken. Zu seiner vollen Größe stand er da auf und sagte nur das Eine: „Ich bin stolz.“ Das war kein Widerspruch zu der Demut, die einem Christenmenschen ansteht. In einem einzigen Satz war das der Dank für ein gerundetes Leben.

III.

„Neben meinem erwählten Beruf eines Pfarrers“, so stellte Eberhard Bethge fest, „bewegte mich selbst ... nur das Mandat, den Nachlass des Freundes zu sichern und zugänglich zu machen. Aber schon die Beteiligung als Überlebender der Lehrter Straße an der Aufklärung des Schicksals der dort Ermordeten und an der Sorge für die Überlebenden und ihr Erbe führte dazu, ... dem angemessenen Gedenken (des Widerstands) ... zu dienen.“

Nicht nur von der Verantwortung für den Nachlass Dietrich Bonhoeffers und die Biographie des Freundes ist also zu reden. Ganz zu Recht nahm Eberhard Bethge vielmehr diese Aufgaben in einer Weise wahr, die über die Verantwortung für das Erbe seines Freundes weit hinauswies. Die Resonanz auf die ökumenischen Gottesdienste an jedem 20. Juli in der Gedenkstätte Plötzensee spiegelt das wieder. Auch das Nachdenken über den Widerstand blieb niemals nur historisch. Dem Vergessen sollte gewehrt werden, damit wir der Gegenwart standhalten können. Nicht nur vergangene Zivilcourage wurde beschrieben; dass es heute nicht wieder an ihr fehlt, darauf kam es Eberhard Bethge an.

Der letzte Text aus Eberhard Bethges Feder, den ich kenne, war diesem Thema gewidmet, dem richtigen Verstehen des Widerstands. Mit innerer Anteilnahme verfolgte er den Disput zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis Ende 1998, an dem sich auch Klaus von Dohnanyi, Richard von Weizsäcker und andere beteiligten. Einem Text von Samuel Friedländer in der ZEIT zollte er besonderen Respekt; zugleich aber ließ ihn dieser Text unbefriedigt. Er reagierte darauf spontan, zunächst am Telefon. Aber er ließ sich dazu bewegen, seine Reaktion auch schriftlich festzuhalten. Der Brief, den er Ende Januar 1999 schrieb, handelte von zwei unterschiedlichen Formen des „Widerstands“. In ihm heißt es: „Innerhalb der durch Walser ausgelösten Dispute hat Samuel Friedländer einen ausgezeichneten Beitrag geliefert, in dem er auf unseren Besitz der Scholls verweist. Aber ein Hinweis, dass wir ja auch Bonhoeffer und Dohnanyi haben und was sie bedeuten, findet sich nicht.

Meine Frau Renate und ich bekommen öfter Manuskripte zu beabsichtigten Bonhoefferfilmen mit dem Hinweis, die Autoren müssten auf (der( Freiheit zu Erfindungen bestehen - was wir natürlich zugestehen. Aber sie beziehen sich weithin auf die Liebesgeschichte zwischen Dietrich und Maria. Sie ist und bleibt auch wichtig und attraktiv - aber sie sagt nicht unbedingt die Größe und Einzigartigkeit von Dietrich Bonhoeffer aus. Dazu müsste noch mehr und anderes analysiert und festgestellt werden. Wenn ich die Biographie nochmal zu verfassen hätte (was mein physischer Zustand nicht mehr hergibt), müsste ich beschreiben, dass die Besonderheit von Dietrich Bonhoeffer darin besteht, dass er sensibel war für zwei recht verschiedene Gestalten von Widerstand - in den ersten Jahren des Nationalsozialismus und in den letzten - , die recht unterschiedliches Verhalten erforderten. Man kann mit Stichworten sagen, welche Situation ab 1933 Widerstand war und ein bestimmtes Verhalten bedingte und wie sich das 1938/39 veränderte: Bekenntnis zunächst, Beseitigung des Mörders dann.

Unter den Allerersten 1933 schrieb und redete Bonhoeffer (und lehrte uns auch noch in Finkenwalde 1935) die absolute Notwendigkeit, sich der Gleichschaltung (wie sie etwa die Deutschen Christen betrieben) zu verweigern. Der Ort waren das öffentliche Wort auf Kanzel und Katheder und in Zeitschriften (wie die „Junge Kirche“), laut und nicht heimlich: (gegen die( Gleichschaltung vom Theologischen („Jesus der Arier“) bis zum Personellen (der Reibi Ludwig Müller), (für die( Unterstellung unter die Bruderräte nach den Synoden von Barmen und Dahlem (praktisch in „Finkenwalde“). Das galt so den ganzen Kirchenkampf hindurch - auch für Bonhoeffer.

Aber die Gewichte veränderten sich, auch der Umgang.

Bonhoeffer war sensibel genug, die Verantwortung zu übernehmen, dass etwas geschah, mindestens seit 1938/39, dass der Mörder Hitler gestoppt werden musste.

Der Widerstand als öffentliches Bekenntnis musste sich ändern in die Konspiration mit ihren Tarnungen und Heimlichkeiten.

Es ist leicht, biographisch zu beschreiben, wie Bonhoeffer begriff, dass „Konspiration“ Reden, Schreiben und Umgang mit anderen veränderte und das Verhalten im Widerstand als öffentliches Bekenntnis in Frage stellte. Mit seiner Familie und wenigen Freunden (wie zum Beispiel Friedrich Justus Perels) agierte er nun bewusst konspirativ.

In diesem doppelten Verhältnis zum Widerstand liegt das Geheimnis der frischen Geltung des Namens Dietrich Bonhoeffer in aller Welt.

Friedländer hat Recht: wir besitzen die Scholls - aber wir besitzen auch diesen Bonhoeffer, seine Familie und die Dohnanyis.“

Und dann schließt der Brief mit der Frage an mich, den Empfänger: „Ob Du damit etwas anfangen kannst? Herzlichst Dein Eberhard.“

IV.

In Bethges eigenem Leben spiegelte sich dieser Übergang vom öffentlichen Bekenntnis zur Konspiration des Widerstands auf eigene Weise. Der Beginn der bekenntnisbestimmten offenen Resistenz trägt das Datum des 28. Oktober 1934. Fünfzehn der zwanzig provinzsächsischen Kandidaten, die sich zum Predigerseminarkurs im Wittenberger Augustinerkloster aufhalten, unterzeichnen den folgenden Brief:

„An das Sekretariat des Herrn Reichsbischofs, Berlin. Die Unterzeichneten bitten, davon Kenntnis nehmen zu wollen, dass sie sich hinter die Botschaft der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 20. Oktober 1934 stellen. Auf Grund dieser Botschaft können sie sich nicht mehr an die Unterschriften unter die ‘Bestimmungen für die Teilnahme an einem Lehrgang im Predigerseminar’ gebunden fühlen. Weisungen über ihre weitere Verwendung erwarten sie vom Bruderrat der Bekennenden Kirche.“

Das war eine schnelle Reaktion. Auch junge Theologen - und Theologinnen - reagieren nicht immer so schnell. Am 20. Oktober 1934, also acht Tage vor diesem Brief, hatte die Bekenntnissynode in Dahlem auf die Maßnahmen der Reichskirchenregierung unter Reichsbischof Müller reagiert. Sie hatte die Folgerungen aus der Bekenntnissynode in Barmen im Mai desselben Jahres gezogen und auf die neuen Maßnahmen der Reichskirchenregierung mit der Feststellung geantwortet: „Die Verfassung der deutschen Evangelischen Kirche ist zerschlagen. Ihre rechtmäßigen Organe bestehen nicht mehr. Die Männer, die sich der Kirchenleitung im Reich und in den Ländern bemächtigten, haben sich durch ihr Handeln von der christlichen Kirche geschieden.“ In den folgenden Tagen hatten die jungen Theologen in Wittenberg versucht, den Leiter des Predigerseminars dazu zu bewegen, das Haus den Bruderräten der Bekennenden Kirche zu unterstellen. Als ihnen das nicht gelang, kündigten sie dem Reichsbischof - und damit auch ihrem Predigerseminardirektor - den Gehorsam auf. Die Reaktion aus Berlin kam postwendend. Unter Androhung gerichtlicher Maßnahmen wurden die fünfzehn aufsässigen Theologen aus dem Predigerseminar gewiesen - und zwar wegen Hausfriedensbruchs. Ihre öffentlich bekundete Bereitschaft, im kirchlichen Konflikt auch persönliche Konsequenzen auf sich zu nehmen, zeigte Wirkungen. Ihr Beispiel wurde bekannt, die Bekennende Kirche bekam Zulauf.

Am Fall Eberhard Bethge können wir genau datieren, wann der Übergang von diesem offenen Bekenntnis zum konspirativen Widerstand endgültig in sein Bewusstsein trat. Natürlich löste der 9. November 1938 eine Erschütterung aus, an dem auch im abgelegenen Pommern, in Köslin, für die jungen Theologen im Sammelvikariat unübersehbar, die Synagoge brannte. Dietrich Bonhoeffer unterstrich in diesen Tagen in seiner Bibel einen Vers aus dem 74. Psalm: „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande“ und schrieb an den Rand: „9.11.38“. Die Fortsetzung aber hob er mit einem Anstrich sowie mit einem Ausrufungszeichen hervor: „Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß wie lange.“ „Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an“, las er in denselben Tagen beim Propheten Sacharja; und die Absolventen seines Predigerseminars wies Bonhoeffer in einem Rundbrief ausdrücklich auf diese Bibelstellen hin. Es wird in dieser Zeit gewesen sein, dass Bonhoeffer den Satz prägte, der seinen Schülern unauslöschlich im Gedächtnis blieb: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Aber es ist auch schon diese Zeit, in welcher der Zweifel wuchs, ob das öffentliche Schreien noch etwas bewirken könne. Bonhoeffer hat die Konsequenzen gezogen, als er im Sommer 1939 eine Möglichkeit ausschlug, in Amerika zu bleiben, und sich stattdessen dazu entschloss, nach Deutschland zurückzukehren.

In Bethges Fall wurde der Übergang vom öffentlichen Bekennen zum konspirativen Widerstand am 17. Juni 1940 offenkundig. Bonhoeffer und Bethge waren nach der Auflösung von Predigerseminar und Sammelvikariat zur Visitation in Ostpreußen und fuhren an einem freien Nachmittag von Memel über das Haff auf die Spitze der Nehrung. Ihr Ziel war ein Kaffeegarten, von dem sie gehört hatten: Lebenslust mitten im Krieg. Was dort geschah, kann man nicht besser schildern als mit Eberhard Bethges eigenen Worten:

„Es war ein herrlicher Tag, und da saßen wir und tranken Kaffee. Es war voll, weil es dort noch Kaffee gab. Gegen drei Uhr ertönten die Fanfaren durch den Lautsprecher, und die Meldung kam: ‘Frankreich hat kapituliert!’ Dann das Deutschlandlied, das Horst-Wessel-Lied. Alles sprang auf, stieg auf die Stühle und Tische, man sang - wilde Begeisterung. Und wir beide da mitten drin. Auch Dietrich stand auf, stellte sich hin und hob die Hand! Und ich war wir gelähmt.

Dietrich stand ja nun schon anderthalb Jahre - schon vor der Sudetenkrise - durch seinen Schwager Dohnanyi in engster Mitwisserschaft von Umsturzvorbereitungen, von Versuchen, Hitler zu stoppen. Also wusste er, was dieser Sieg bedeutete. Ich wusste inzwischen auch, dass mit der Kapitulation Frankreichs das Unerwartetste passiert war. Denn Fachleute, Generäle, hatten es für unmöglich erklärt, dass die Maginotlinie überrannt werden könnte. Man hatte gedacht, der Frankreichfeldzug sei das Ende. Das dauert nicht lange. Statt dessen hatte Hitler nun alle Träume erfüllt, die die Deutschen 25 Jahre zuvor bei der Marne-Schlacht gehabt und zu Grabe hatten tragen müssen. National gesonnene Deutsche haben als dauernde Frustration in den zwanziger und dreißiger Jahren mit sich herumgetragen, dass das im Ersten Weltkrieg schief gegangen war, und jetzt war es Hitler gelungen! Damit waren doch all unsere Hoffnungen, die man mit dem Frankreichfeldzug verbunden hatte, dass nämlich damit das Hitler-Regime zu Ende kommen würde, total gescheitert.

Also, Bonhoeffer stand da, und ich hatte meinen Arm noch nicht hoch, ich weiß nicht warum. Er: „Eberhard, bist zu verrückt, heb den Arm!“ Ich hob den Arm. Dann gingen wir hinaus, und er sagte: „Bist du blödsinnig geworden? Für so was? Jetzt sind andere Dinge dran, wofür wir Opfer zu bringen haben.“ Das bedeutete, er war seit 1938 schon so tief in die Untergrundkonspiration eingetaucht, dass nicht mehr der alte offene Kampf galt, sondern im Untergrund der Versuch gemacht werden musste, dieses Terrorregime unter Tarnungen und Camouflage zu Ende zu bringen; also etwas, was für Dietrich 1934/35 noch undenkbar gewesen wäre, hatte sich in veränderter Lage als notwendig erwiesen.“

So bekam der Übergang vom Widerstand als offenem Bekenntnis zum Widerstand als Konspiration für Eberhard Bethge ein Datum: den 17. Juni 1940, den Tag des größten militärischen Triumphs für Adolf Hitler.

V.

Als nach 1945 herauskam, dass einzelne evangelische Christen den Weg vom Widerstand als Bekenntnis zum Widerstand als Konspiration gegangen waren, stieß dies nicht nur auf Zustimmung oder gar Begeisterung. Der Stein des Anstoßes war auch im Rückblick auf den 20. Juli 1944 die Bereitschaft zum Tyrannenmord. Die Erinnerung daran, dass der Protestantismus sich schon seit dem 16. Jahrhundert mit diesem Thema beschäftigt hatte, half nicht sonderlich viel weiter. Man sehnte sich unverändert danach, den Bekenntniskampf der Bekennenden Kirche unpolitisch interpretieren zu können.

Man kann das hier vor Ort studieren. Auf den Fürbittenlisten der Bekennenden Kirche war Dietrich Bonhoeffer beispielsweise nie aufgetaucht. Kurt Scharf, der frühere Präses der Bekenntnissynode und spätere Bischof, erklärte immer wieder, das habe Bonhoeffers eigenem Willen entsprochen. Das ist plausibel; denn der konspirative Widerständler fürchtet jede Erwähnung seines Namens, sogar auf einer Fürbittenliste. Aber dass vor wie nach 1945 scharf und unzweideutig zwischen christlichem Märtyrertum und politischem Widerstand getrennt wurde, bleibt problematisch. Diese problematische Trennung zeigt sich exemplarisch in einem Wort der berlin-brandenburgischen Kirchenleitung an die Gemeinden in Berlin und Brandenburg zum 20. Juli 1945. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass dieses Dokument die Handschrift von Otto Dibelius, dem damals erst seit wenigen Wochen im Amt befindlichen berlin-brandenburgischen Bischof, trägt. Man mag sich seinen persönlichen Referenten Eberhard Bethge dabei vorstellen, wie er dem Chef über die Schultern schaute: Ob er wohl akzeptierte, was sein Chef da zu Papier brachte? Es handelt sich um ein kirchliches Votum zur ersten Wiederkehr des 20. Juli 1944, ja um das erste kirchliche Votum zu diesem Thema.

Es beginnt mit folgenden Sätzen: „Die Wiederkehr des 20. Juli, an dem die Gegnerschaft deutscher Männer gegen die damalige Staatsführung zu gewaltsamer Entladung kam, lenkt die Blicke der Kirche zurück auf die Ungezählten, die um ihres christlichen Gewissens willen dem System des letzten Jahrzehntes widerstanden und diesen Widerstand mit ihrem Leben bezahlt haben. Unter ihnen sind Märtyrer im vollen Sinne dieses Wortes. Wir nennen als einen für alle den Namen des Pfarrers Paul Schneider aus Dickenschied im Rheinland, der sich von der ihm anvertrauten Gemeinde nicht trennen lassen wollte und dann im Konzentrationslager Buchenwald seinen Mitgefangenen, allen Misshandlungen zum Trotz, Gottes Wort laut und fröhlich verkündete, bis er schließlich den Misshandlungen erlag.“

Neben Schneider als dem exemplarischen Märtyrer werden zweitens die genannt, die in ihrem weltlichen Beruf zu ihrer Pflicht als Christen standen und sich ausdrücklich gegen die Judenverfolgung und die so genannten Euthanasieprogramme wehrten.

Drittens werden „endlich die“ genannt, „die versucht haben, ihrem Volk ein anderes Regiment zu schaffen, ehe die letzte deutsche Stadt in Trümmern gehe.“ Ausdrücklich wird hinzugesetzt: „Die Kirche Jesu Christi kann einen Anschlag auf das Leben eines Menschen niemals gutheißen, in welcher Absicht er auch ausgeführt werden mag. Aber unter denen, die haben leiden müssen, waren Ungezählte, die einen solchen Anschlag niemals gewollt haben; sie wurden trotzdem zu Tode gebracht, ohne dass ein Wort christlicher Seelsorge auf ihrem letzten Gang oder an ihrem Grabe gesprochen werden durfte.“

Der dreifachen Beschreibung des Widerstands entspricht ein dreifacher Kommentar der Überlebenden: Das Erste in ein Wort der eigenen Buße. Hätte die Christenheit mehr Glauben und mehr Bekennermut gehabt, so wäre es zu dem Geschehenen nicht gekommen. Das Zweite ist ein Wort des Dankes gegenüber all denen, die widerstanden und ein offenes Bekenntnis gewagt haben. Das Dritte aber ist ein Wort des Trostes: Denen, „die ihre Männer und Väter und Söhne in diesen bitteren Kämpfen haben dahingeben müssen, verkündigen wir den ganzen Trost des Evangeliums.“

Der einzige Satz, der in diesem Wort vom 20. Juli 1945 dem Umsturz vom 20. Juli 1944 gewidmet ist, ist ein Satz der Distanzierung. Die Kirche könne einen Anschlag auf das Leben eines Menschen niemals gutheißen, in welcher Absicht er auch immer ausgeführt sei. Wenn diesem Satz beigefügt wäre, dass es Situationen einer unausweichlichen Schuldübernahme gibt, in der zu dem Anschlag auf das Leben, der niemals gutgeheißen werden kann, keine Alternative erkennbar ist, Situationen, in denen nur noch das Wagnis der Tat unausweichlich ist, Situationen, in denen es darum geht, dem Rad in die Speichen zu fallen - wenn all das gesagt worden wäre, wäre das klare Urteil über die Unantastbarkeit menschlichen Lebens an seinem Ort gewesen. Nun konnte der Berliner Bischof Bonhoeffers Überlegungen zur Schuldübernahme, 1942 in den Manuskripten zur Ethik niedergelegt, noch nicht kennen. Und dennoch erschreckt es uns Spätere, dass zum ersten Jahrestag des 20. Juli von kirchlicher Seite nicht mehr laut wurde als dieses Wort der Distanzierung. Es war gewiss gut, Paul Schneider zu erwähnen. Aber dass all die ungenannt blieben, die noch um den 9. April 1945 ihr Leben verloren, dass die christliche Motivation der Verschwörer des 20. Juli ohne jedes Echo blieb, schmerzt noch heute. Und deshalb ist es auch heute noch nötig, darauf hinzuweisen: Der Weg vom offenen Bekenntnis zum konspirativen Widerstand wurde um dieses Bekenntnisses willen beschritten. Die ihn gingen, wussten, dass Gott selbst geschändet wird, wenn sein Ebenbild, der Mensch, geschändet wird.

Auch in den Nachkriegsjahren blieb es bei dem geschilderten Urteil. Im Vorwort zu dem 1949 von Bernhard Heinrich Forck, dem Vater des späteren Bischofs, herausgegebenen „Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche“ beispielsweise heißt es: „Der Unterschied zur Widerstandsbewegung liegt aber darin, dass der Ansatzpunkt des Kampfes nicht in der Politik, sondern ausschließlich im Bekenntnis der Kirche lag. Alle, von denen in diesem Buch die Rede ist ..., haben ihre Leiden nicht darum auf sich genommen, weil sie mit der Politik des Dritten Reiches nicht einverstanden waren ..., sondern nur und ganz ausschließlich aus dem Grunde, weil sie das Bekenntnis der Kirche angegriffen sahen.“ Nur darauf also richtet sich dann auch der Titel dieses Buches, die Aufforderung nämlich: „Und folget ihrem Glauben nach!“

Dass auf Grund eines solchen Auswahlkriteriums Dietrich Bonhoeffer in Forcks Gedenkbuch überhaupt Erwähnung fand, erstaunt. Denn einer solchen Alternative zwischen dem politischen Widerstand und dem Bekenntnis der Kirche fügte sich sein Leben nicht. Wenn Eberhard Bethge immer wieder darauf insistierte, dass Bonhoeffer als christlicher Märtyrer gewürdigt werden müsse, dann lag die Stoßrichtung eines solchen Plädoyers nicht in irgendeiner Art von Heiligenverehrung, sondern allein darin, dass die Glaubensmotive des politischen Widerstands nicht verschwiegen, geleugnet und ihrer inneren Legitimität beraubt werden sollten - jene Glaubensmotive, die am allerkürzesten in dem Satz aufscheinen: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“

Ein solcher Hinweis hat seinen Sinn ja nicht darin, dass er denen, die sich aus einer christlichen Glaubenshaltung zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Gewaltregime entschlossen, in irgendeinem Sinn einen Vorsprung oder eine höhere Dignität im Verhältnis zu denen zuerkennt, die aus einer anderen Überzeugung zu einem solchen Entschluss kamen. Eher wächst durch einen solchen Hinweis das Erschrecken über die übergroße Zahl derer, die sich der elementaren Einsicht entzogen, dass jede gleichgültige Hinnahme oder aktive Unterstützung der nationalsozialistischen Mordpolitik ein Angriff auf die Ehre Gottes selber war.

Freilich dominierte schon in der Bekennenden Kirche selbst die Haltung, die dann auch im Nachhinein in einem Gedenkbuch wie demjenigen von Bernhard Heinrich Forck seinen Niederschlag findet. Die Fragen des kirchlichen Bekenntnisses und des politischen Widerstands wurden voneinander getrennt. Schärfer noch muss man sagen: Während in einem Teil des Protestantismus die Zustimmung zur „nationalen Erhebung“ zur Folge hatte, dass man auch den Eingriffen des Staates in die kirchliche Selbstbestimmung und den Versuchen einer Gleichschaltung der Kirche zustimmte, war der andere, kleinere Teil lediglich darauf aus, die Integrität der Kirche selbst zu bewahren. Mit einem Einspruch gegen das politische Handeln des Staates hatte das lange Zeit nichts zu tun.

Man kann als symbolisch dafür eine frühe Auseinandersetzung ansehen, nämlich die Auseinandersetzung im Frühjahr 1933 in Mecklenburg-Schwerin. Zwar richtete sich ein vehementer kirchlicher Protest gegen den staatlichen Versuch, durch die Absetzung des Landesbischofs Heinrich Rendtorff eine Gleichschaltung der Kirche zu erreichen. Dieser Protest erreichte sein Ziel; er führte zur Rücknahme dieser Maßnahme. Dass dieser Protest indessen nicht politisch gemeint war, dokumentierte Landesbischof Rendtorff selbst dadurch, dass er wenige Tage nach dieser Auseinandersetzung demonstrativ der NSDAP beitrat.

Dass auch diejenigen, die sich gegen die Versuche zur Gleichschaltung der Kirche zur Wehr setzten, damit keinen Widerspruch gegen das politische Programm der neuen Machthaber meinten, erklärte sich insbesondere daraus, dass sie sich mit ihnen in der Zielsetzung verbunden wussten, Deutschland „vor dem Bolschewismus zu bewahren“. Verschweigen kann man aber nicht, dass auch der nationalsozialistische Antisemitismus bei vielen in den Kirchen auf bereite und vorbereitete Ohren stieß. So waren auch bei den Bekennern die blinden Flecke unverkennbar. Das erklärt, warum nur so wenige von ihnen den Weg in den Widerstand mitgingen. Und es erklärt auch, warum die Anknüpfung an das Erbe der Bekennenden Kirche nach 1945 weithin den politischen Widerstand aussparte, in den der christlich begründete Widerstand gegen das Naziregime mündete.

VI.

Das Erbe dieser Zeit holt uns immer wieder ein. Auch was bekannt war, tritt uns immer wieder neu und überraschend vor Augen. In diesen Wochen geschieht es am Beispiel des Zwangsarbeiterthemas.

Das Ausmaß, in dem in Deutschland Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, ist gewiss keine neue Einsicht. Und doch haben wir die politische Verantwortung für diesen Einsatz lange verdrängt. Nur vereinzelt wurde zu überlebenden Zwangsarbeitern der Kontakt aufgenommen. Nur in wenigen Fällen wurde denen, die einen wichtigen Teil ihres Lebens oft unter entwürdigenden Umständen in Deutschland verbracht hatten, die Möglichkeit der Spurensuche eröffnet. Die Aufgabe einer jedenfalls symbolischen Wiedergutmachung ist erst in den letzten Tagen in einer Weise gelöst worden, die mir jedenfalls Respekt abverlangt. Der Respekt wird noch größer sein, wenn der Beitrag zu dem Entschädigungsfonds von 10 Milliarden Mark, der auf die deutsche Wirtschaft entfällt, erbracht sein wird.

Aber was man allgemein weiß, nimmt noch einmal ein anderes Gesicht an, wenn es einem in persönlicher Gestalt naherückt. Deshalb hat es mich erschüttert, als ich zum ersten Mal ein Dokument in der Hand hielt, das die Namen von 47 „Ostarbeitern“ verzeichnet. Sie gehören zu den ungefähr hundert Zwangsarbeitern, die hier in Berlin in einem eigenen kirchlichen Arbeitslager untergebracht waren. An der Hermannstraße war es gelegen, auf dem Gelände der Jerusalems- und Neuen Gemeinde. Insgesamt 26 evangelische und zwei katholische Gemeinden waren an diesem Lager beteiligt. Von dort bezogen sie die Friedhofsarbeiter, die in der Zeit zwischen 1943 und 1945 Gräber aushoben und wieder schlossen, eine durch die Bombennächte wachsende Zahl von Gräbern.

Ich hatte schon zuvor von mir aus die diakonischen Einrichtungen unserer Kirche aufgefordert, für ihren Bereich nachzuforschen, inwieweit Zwangsarbeiter beschäftigt worden waren. Eine Reihe von Einzelfällen ist dabei bekannt geworden. Doch an die kirchlichen Friedhöfe hatte ich nicht als Erstes gedacht. Dabei ist der Gedanke naheliegend: Die Männer waren an der Front, die Frauen zu „kriegswichtigen“ Arbeiten eingezogen. Das Ausheben von Gräbern gehörte dazu nicht, obwohl es der Krieg war, der auch die Zahl der Toten anschwellen ließ. Also waren es die so genannten Ostarbeiter, die Bombenopfer und andere Tote unter die Erde brachten. Man kann nachvollziehen, warum sich daran so viele Gemeinden beteiligten. Die Verantwortung für die Kirchhöfe nahm ihnen niemand ab. Aber entschuldigen kann man es nicht. Denn es bleibt eine Beteiligung an dem Gewaltsystem, das der Nationalsozialismus geschaffen hatte. Der Krieg zog seine grausame Spur bis auf die Friedhöfe.

Unsere Kirche bekennt sich dazu, in diese Schuld verflochten zu sein. Wir gehen von uns aus diesen Vorgängen weiter nach. Soweit wir sie kennen, haben wir sie von uns aus öffentlich bekannt gemacht. Die Evangelische Kirche in Deutschland beteiligt sich an der Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern mit einem Betrag von zehn Millionen Mark. Damit wollen wir auch unterstreichen: Alle miteinander tragen wir Verantwortung für die Folgen der damaligen Schuld.

„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - so heißt der Name der Stiftung, die in diesem Monat eingerichtet wird. In der vergangenen Woche hat der Bundestag das beschlossen. Zu Beginn dieser Woche sind die entsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet worden. „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - das ist ein guter Name. Er unterstreicht, worum es geht: Wir wollen uns den überlebenden Opfern zuwenden und sie wenigstens mit einem kleinen Betrag auf der Strecke ihres Lebens unterstützen, die noch vor ihnen liegt. Und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass sich Vergleichbares nicht wiederholt: ein Kriegs-

system, das seine Spur bis auf die Friedhöfe zieht und uns alle in die Schuld mit hineinzieht, die Kirchen eingeschlossen. Auch das ist ein Grund dafür, warum das offene Bekenntnis des Glaubens und die Bereitschaft, aus ihm politische Konsequenzen zu ziehen, niemals mehr auseinander gerissen werden sollte.

„Unterlassene Schritte vom Bekennen zum Widerstehen enden bei der Duldung des Verbrechens; sie machen aus dem Bekenntnis Alibi-Worte; sie richten sich angesichts des geschehenen Unrechts als unstillbare Anklage gegen die Bekenner.“ So endet der Aufsatz von Eberhard Bethge, der auch meinem heutigen Vortrag den Titel gab: „Zwischen Bekenntnis und Widerstand“. Das Bekenntnis als öffentliche Angelegenheit und der Widerstand mit seinen Stufen des Verheimlichens, das Bekenntnis mit der Eindeutigkeit der Bindung an Christus und der Widerstand mit seinem politischen Kalkül, dem rationalen Bedenken des Erfolgs bleiben unterschieden. Aber auseinander reißen darf man sie nicht. Auch das gehört zu den Lehren des 20. Juli; und es gehört zu den Einsichten, die Eberhard Bethge uns anvertraut hat.

Es war der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem Visser’t

Hooft, der 1945 im Blick auf die Widerstandsgruppe um Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Die Nihilisten des Dritten Reiches sind im Hause Bonhoeffer auf ein Zentrum hochgesinnten Geistes von bester deutscher Überlieferung gestoßen, eines Geistes, der mit ihrem Ungeist weder paktieren konnte noch wollte.“ Wie wäre es, wenn wir uns stolz in die Tradition eines solchen Geistes stellten, anstatt ihn widerspruchslos als „konservativ“, „elitär“ oder sogar als „antidemokratisch“ denunzieren zu lassen, wie dies immer wieder geschieht? Meine Überzeugung ist: Ohne Menschen, die den Mut zu geistiger Existenz in dem von Visser’t Hooft beschriebenen Sinn haben, kann Demokratie auch heute nicht gelingen. Ohne Menschen, die diese geistige Existenz im Bekenntnis ihres Glaubens verwurzeln, auch nicht. Das Thema bleibt uns auch heute aufgegeben: Zwischen Bekenntnis und Widerstand.