Was das NS-Regime über den 20. Juli wusste
Das Attentat und der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 scheiterten. Doch ist den Beteiligten und ihren Unterstützern darüber hinaus vieles gelungen, was bei der Beurteilung des Ereignisses und der Betroffenen häufig übersehen wird.
Eine Netzwerkanalyse zeigt beispielsweise, wie erfolgreich die Beteiligten in ihrer konspirativen Kommunikation gewesen sind, denn das umfangreiche und dichte zivil-militärische Beziehungsgeflecht, das über Jahre zum Zweck des Sturzes des NS-Regimes aufgebaut worden war und die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche umfasste, ist trotz Überwachung und ständiger Denunziationsgefahr bis Juli 1944 nicht durch die Gestapo aufgedeckt worden. Und auch danach vermochten viele Beteiligte noch in der Haft zahlreiche Kontakte zu Mitverschwörern zu verschleiern und konnten so zumindest einige ihrer Vertrauten vor Verfolgung und Todesurteilen schützen.
Wie das tatsächliche Netzwerk vom 20. Juli 1944 ausgesehen hat, lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren, denn die konspirativen Kontakte wurden von den Beteiligten in der Regel aus Sicherheitsgründen nicht schriftlich dokumentiert. Es lässt sich jedoch darstellen, was das NS-Regime über das Netzwerk herausgefunden hat. Dokumentiert ist dies vor allem in umfangreichen Ermittlungsberichten, Urteilen und Prozessberichten. Dabei wird deutlich, dass das NS-Regime insgesamt 132 Personen als Beteiligte des 20. Juli 1944 einstufte und 650 Kontakte zwischen diesen ermitteln konnte. Eine daraus resultierende Netzwerkgrafik (Grafik 1) zeigt, dass es einen eklatanten Widerspruch zwischen dem Wissen und der Propaganda des NS-Regimes über das Netzwerk des 20. Juli 1944 gibt.
Schon bald nach dem 20. Juli wusste das Regime, dass es sich bei den Beteiligten nicht nur um »eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere« gehandelt hatte, wie es Hitler in seiner Radioansprache in der Nacht zum 21. Juli formuliert hatte. Den NS-Verfolgern war schnell bewusst, dass das politische Spektrum von konservativ über liberal bis sozialdemokratisch reichte und dass zu den Beteiligten neben Angehörigen des Militärs auch zahlreiche Personen aus zivilen Berufsgruppen gehörten, darunter Diplomaten, Verwaltungsbeamte, Juristen, Gewerkschafter, Unternehmer, Gutsbesitzer, Wissenschaftler und auch Kirchenvertreter. Dennoch hielt das Regime bis zum Kriegsende an der Darstellung einer ganz kleinen vornehmlich militärischen Clique mit reaktionären Zielen fest.
Auch die Behauptung des Regimes, dass es sich im Kern der Verschwörung vor allem um Militärs gehandelt habe, widerspricht den eigentlichen Ermittlungsergebnissen der Gestapo. Vielmehr war gut bekannt, dass auch viele zivile Beteiligte im Zentrum des Netzwerks gut vernetzt waren (Grafik 2). Zu ihnen zählen prominente Vertreter der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften wie Wilhelm Leuschner, Julius Leber und Max Habermann ebenso wie konservative Persönlichkeiten wie Carl Goerdeler, Ulrich von Hassell und Johannes Popitz. Auch ist der Kreisauer Kreis mit Helmuth James Graf von Moltke, Peter Graf Yorck von Wartenburg und Adam von Trott zu Solz im Zentrum des Netzwerks vertreten. Hingegen zählten nur drei aktive Berufssoldaten zu den am stärksten vernetzten Akteuren im Zentrum des Netzwerks: Oberst i. G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, General der Infanterie Friedrich Olbricht und Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim. Generaloberst Ludwig Beck war ab 1938 nicht mehr aktiver Berufssoldat und gehört daher ebenso wie die Reserveoffiziere zum zivil-militärischen Zwischenbereich (in der Grafik blau markiert). Er, der nach dem Umsturz als neues Staatsoberhaupt vorgesehen war, hielt im Kern des Netzwerks die Fäden in der Hand.
Zahlreiche Beteiligte und Unterstützer des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 wurden in den NS-Quellen nicht genannt. Viele von ihnen konnten Dank der Verschwiegenheit ihrer Mitverschwörer unentdeckt bleiben und wurden nicht verhaftet. Zu ihnen zählten bspw. Soldaten, die an Sprengstoffbeschaffungen beteiligt waren (z.B. Philipp Freiherr von Boeselager oder Hans Heinrich Herwarth von Bittenfeld) oder Soldaten, die sich für ein Attentat bereitgestellt hatten (z.B. Eberhard von Breitenbuch oder Axel Freiherr von dem Bussche-Streithorst). Unentdeckt blieben auch zivile Beteiligte, wie die Diplomaten Erich und Theo Kordt, die bereits in der frühen Umsturzphase von 1938 aktiv gewesen waren. Dass auch Angehörige des Kreisauer Kreises an der Umsturz- bzw. Aufbauplanung aktiv mitgewirkt hatten, war dem NS-Regime bekannt, wie aus den Netzwerkgrafiken deutlich wird. Die Beteiligung weiterer Angehöriger dieses Kreises wurde aber übersehen, wie z.B. jene des Juristen und Staatswissenschaftlers Hans Peters.
Einige Personen werden in den Ermittlungsunterlagen genannt, ohne dass sie jedoch vom NS-Regime zu den Beteiligten des Umsturzversuches gerechnet worden sind, sei es aus Unkenntnis oder aus Kalkül – wie bspw. im Fall von prominenten Militärs wie Admiral Wilhelm Canaris oder Generalfeldmarschall Günther von Kluge. Andere Personen wurden verhaftet, ohne dass es jedoch überlieferte Ermittlungsberichte o.ä. über sie geben würde. Während manche nach kurzer Haft wieder entlassen worden sind – wie Johann Adolf Graf von Kielmansegg oder Margarethe von Oven – sind andere über Monate in Haft verblieben und wurden mitunter noch kurz vor Kriegsende ermordet. Zu ihnen zählen bspw. Hans Koch, Ernst Munzinger und Friedrich von Rabenau.
Festzuhalten bleibt, dass das Netzwerk des 20. Juli 1944 umfangreich und komplex war und zahlreiche gesellschaftlichen Kreise umfasste. Es war größer, als das NS-Regime wider besseres Wissen behauptete und es umfasste darüber hinaus noch zahlreiche weitere Personen, die nach aktueller Forschung hinzugerechnet werden können.
Dr. Linda v. Keyserlingk-Rehbein