Das Erbe des Widerstands erfüllen
Christine Bergmann
Das Erbe des Widerstands erfüllen
Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Dr. Christine Bergmann am 20. Juli 1995 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
„Die letztlich verantwortliche Frage ist nicht die, wie ich mich heroisch aus der Affaire ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll!”
Ein mutiger, ein selbstloser und ein nachdenklicher Mensch, Dietrich Bonhoeffer, formulierte diesen Appell. Er reicht aus dem vermeintlich Vergangenen mitten in unsere Gegenwart hinein.
Wir sind heute wieder zusammengekommen, um der mutigen Frauen und Männer zu gedenken, die der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Widerstand entgegensetzten. Wir fühlen uns in dieser Stunde besonders verbunden mit ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen und ich freue mich, dass einige von Ihnen heute unter uns sein können.
Wir gedenken derjenigen, die mit dem 20. Juli verbunden sind, und wir gedenken derjenigen, die „stille Helden” waren. Die Motivation, aus der heraus Widerstand geleistet wurde, war unendlich vielfältig. Für ihren Einsatz haben viele von ihnen letztendlich mit dem höchstdenkbaren Preis gezahlt – ihrem Leben. Welchen dramatischen Verlust an aufrechter Menschlichkeit hat Deutschland in jenen Jahren erlitten?!
Ihnen allen schulden wir Dank für ein helles Licht, das für Freiheit und Menschenwürde leuchtete und für einen kurzen Moment die Dunkelheit verdrängte, die in Deutschland regierte.
Berlin war der „Vorhof zur Hölle”. Die Hauptstadt Deutschlands war die Zentrale des unmenschlichen Unterdrückungsapparates des NS-Regimes, verbunden mit Orten des Schreckens wie der Gestapo-Hauptzentrale in der Prinz-Albrecht-Straße, wie Sachsenhausen, wie dem Ort der Wannsee-Konferenz und wie dem Ort, an dem wir uns heute versammelt haben. Die Aufzählung lässt ahnen, welchen unglaublichen Mut es verlangte, diesem System zu widerstehen.
Berlin war aber dennoch auch eine Stadt, in der Berliner und Berlinerinnen halfen und in unmenschlicher Zeit Menschen blieben.
Inge Deutschkron, die mit dieser Hilfe überlebte, berichtet von einem Beispiel von Zivilcourage:
„Ein kleiner, untersetzter Mann erhob sich von seinem Sitzplatz in der U-Bahn. Ich bitte Sie darum, sich sofort zu setzen, sagte er sehr laut und energisch, indem er mit seiner linken Hand auf den Sitzplatz wies, den er mit anbot. Die meisten anderen Fahrgäste taten so, als hörten sie nichts. Die U-Bahn war voll besetzt, wie an jedem Morgen um diese Zeit vor Beginn der Arbeit. Ich war nur eine von vielen, die stehen mußten. Sicherlich hätte der Mann nicht gerade mir seinen Platz angeboten, wenn ich nicht an jenem Morgen das erste Mal einen Judenstern getragen hätte.“
Wie viel einfacher wäre es gewesen, wegzugucken, opportun zu schweigen, Gleichgültigkeit zu zeigen, sich herauszuhalten, als kritisch Anteil zu nehmen und Solidarität zu beweisen?
Eine Fragestellung von damals, die aber heute genauso aktuell ist. Es ist beschämend, dass es in Deutschland immer wieder Beispiele von Hassparolen und unerträglichen Gewalttaten gab und gibt. Und wie unendlich erschreckend ist die Situation im ehemaligen Jugoslawien, wo der Krieg in erbarmungsloser Grausamkeit und Brutalität zeigt, dass die Unmenschlichkeit nach wie vor nicht besiegt ist.
Das Erbe des Widerstands erfüllen heißt, mit aller Entschiedenheit abzuwehren, was eine Wiederholung von Unrecht und Schrecken bringen könnte. Für Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit müssen wir aktiv eintreten.
Dieses Jahr 1995 war reich an Gedenktagen, und ich erinnere an den bewegenden 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Erinnern und Gedenken, so möchte ich meinen, finden keinen „Abschluss”. Im Gegenteil, sie bedeuten immer wieder Rückbesinnung, Aufbruch und Überprüfung der Maßstäbe eigenen Handelns.
Die Diskussion, die in diesen Tagen und Wochen in Berlin um das Holocaust-Mahnmal in Berlins Mitte geführt wird, verdeutlicht die Schmerzhaftigkeit des Erinnerns in Deutschland. Es ist wichtig, dieser Diskussion Raum zu geben und sie in aller Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit zu führen. Aber genauso wie der Widerstand keine Inanspruchnahmen und Ausgrenzungen erlaubt, gilt dieses für die sehr vielen Wege des Erinnerns und Trauerns.
Wir erinnern uns heute der Männer und Frauen, die am 20. Juli 1944 weithin sichtbar gegen Terror, Krieg und Unrecht aufgestanden sind. Es war ein „Aufstand des Gewissens”. Ihr Opfer darf nicht umsonst gewesen sein.
Deswegen sind wir verpflichtet, uns die Frage zu stellen, welche Bedeutung wir dem Erinnern für die Gegenwart beimessen.
Richard von Weizsäckers Mahnung „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.” soll uns die Richtschnur für ihre Beantwortung sein.
Das Gedenken an das Vergangene ist unverzichtbar.
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Das Erbe des Widerstands erfüllen
Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Dr. Christine Bergmann am 20. Juli 1995 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
„Die letztlich verantwortliche Frage ist nicht die, wie ich mich heroisch aus der Affaire ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll!”
Ein mutiger, ein selbstloser und ein nachdenklicher Mensch, Dietrich Bonhoeffer, formulierte diesen Appell. Er reicht aus dem vermeintlich Vergangenen mitten in unsere Gegenwart hinein.
Wir sind heute wieder zusammengekommen, um der mutigen Frauen und Männer zu gedenken, die der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Widerstand entgegensetzten. Wir fühlen uns in dieser Stunde besonders verbunden mit ihren Familienangehörigen und Hinterbliebenen und ich freue mich, dass einige von Ihnen heute unter uns sein können.
Wir gedenken derjenigen, die mit dem 20. Juli verbunden sind, und wir gedenken derjenigen, die „stille Helden” waren. Die Motivation, aus der heraus Widerstand geleistet wurde, war unendlich vielfältig. Für ihren Einsatz haben viele von ihnen letztendlich mit dem höchstdenkbaren Preis gezahlt – ihrem Leben. Welchen dramatischen Verlust an aufrechter Menschlichkeit hat Deutschland in jenen Jahren erlitten?!
Ihnen allen schulden wir Dank für ein helles Licht, das für Freiheit und Menschenwürde leuchtete und für einen kurzen Moment die Dunkelheit verdrängte, die in Deutschland regierte.
Berlin war der „Vorhof zur Hölle”. Die Hauptstadt Deutschlands war die Zentrale des unmenschlichen Unterdrückungsapparates des NS-Regimes, verbunden mit Orten des Schreckens wie der Gestapo-Hauptzentrale in der Prinz-Albrecht-Straße, wie Sachsenhausen, wie dem Ort der Wannsee-Konferenz und wie dem Ort, an dem wir uns heute versammelt haben. Die Aufzählung lässt ahnen, welchen unglaublichen Mut es verlangte, diesem System zu widerstehen.
Berlin war aber dennoch auch eine Stadt, in der Berliner und Berlinerinnen halfen und in unmenschlicher Zeit Menschen blieben.
Inge Deutschkron, die mit dieser Hilfe überlebte, berichtet von einem Beispiel von Zivilcourage:
„Ein kleiner, untersetzter Mann erhob sich von seinem Sitzplatz in der U-Bahn. Ich bitte Sie darum, sich sofort zu setzen, sagte er sehr laut und energisch, indem er mit seiner linken Hand auf den Sitzplatz wies, den er mit anbot. Die meisten anderen Fahrgäste taten so, als hörten sie nichts. Die U-Bahn war voll besetzt, wie an jedem Morgen um diese Zeit vor Beginn der Arbeit. Ich war nur eine von vielen, die stehen mußten. Sicherlich hätte der Mann nicht gerade mir seinen Platz angeboten, wenn ich nicht an jenem Morgen das erste Mal einen Judenstern getragen hätte.“
Wie viel einfacher wäre es gewesen, wegzugucken, opportun zu schweigen, Gleichgültigkeit zu zeigen, sich herauszuhalten, als kritisch Anteil zu nehmen und Solidarität zu beweisen?
Eine Fragestellung von damals, die aber heute genauso aktuell ist. Es ist beschämend, dass es in Deutschland immer wieder Beispiele von Hassparolen und unerträglichen Gewalttaten gab und gibt. Und wie unendlich erschreckend ist die Situation im ehemaligen Jugoslawien, wo der Krieg in erbarmungsloser Grausamkeit und Brutalität zeigt, dass die Unmenschlichkeit nach wie vor nicht besiegt ist.
Das Erbe des Widerstands erfüllen heißt, mit aller Entschiedenheit abzuwehren, was eine Wiederholung von Unrecht und Schrecken bringen könnte. Für Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit müssen wir aktiv eintreten.
Dieses Jahr 1995 war reich an Gedenktagen, und ich erinnere an den bewegenden 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Erinnern und Gedenken, so möchte ich meinen, finden keinen „Abschluss”. Im Gegenteil, sie bedeuten immer wieder Rückbesinnung, Aufbruch und Überprüfung der Maßstäbe eigenen Handelns.
Die Diskussion, die in diesen Tagen und Wochen in Berlin um das Holocaust-Mahnmal in Berlins Mitte geführt wird, verdeutlicht die Schmerzhaftigkeit des Erinnerns in Deutschland. Es ist wichtig, dieser Diskussion Raum zu geben und sie in aller Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit zu führen. Aber genauso wie der Widerstand keine Inanspruchnahmen und Ausgrenzungen erlaubt, gilt dieses für die sehr vielen Wege des Erinnerns und Trauerns.
Wir erinnern uns heute der Männer und Frauen, die am 20. Juli 1944 weithin sichtbar gegen Terror, Krieg und Unrecht aufgestanden sind. Es war ein „Aufstand des Gewissens”. Ihr Opfer darf nicht umsonst gewesen sein.
Deswegen sind wir verpflichtet, uns die Frage zu stellen, welche Bedeutung wir dem Erinnern für die Gegenwart beimessen.
Richard von Weizsäckers Mahnung „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.” soll uns die Richtschnur für ihre Beantwortung sein.
Das Gedenken an das Vergangene ist unverzichtbar.
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