"Kommt zu mir alle, die ihr euch müht und unter Lasten stöhnt! Und ich werde euch ausruhen lassen."

Karl Meyer

„Kommt zu mir alle, die ihr euch müht und unter Lasten stöhnt! Und ich werde euch ausruhen lassen.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1995 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Die von der Liturgie der katholischen Kirche für den Tag vorgesehenen Texte waren:

Lesung aus Exodus (2 Mose)3, 13-17.19-20.

In jenen Tagen, als Gott dem Mose aus dem Dornbusch zurief, sagte Mose zu Gott: Ich werde zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen darauf sagen? Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der „Ich-bin-da“. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der „lch-bin-da“ hat mich zu euch gesandt. Weiter sprach Gott zu Mose: ... Geh, versammle die Ältesten Israels und sag ihnen: JHWH, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist mir erschienen und hat mir gesagt: Ich habe sorgsam auf euch geachtet und habe gesehen, was man euch in Ägypten antut. Darum habe ich beschlossen, euch aus dem Elend Ägyptens hinaufzuführen ... in ein Land, in dem Milch und Honig fließen. ... Ich weiß, dass euch der König von Ägypten nicht ziehen lässt, es sei denn, er würde von starker Hand dazu gezwungen. Erst wenn ich meine Hand ausstrecke und Ägypten niederschlage mit allen meinen Wundern, die ich in seiner Mitte vollbringe, wird er euch ziehen lassen.

Evangelium nach Matthäus 11, 28-30:

In jener Zeit sprach Jesus: „Kommt zu mir alle, die ihr euch müht und unter Lasten stöhnt! Und ich werde euch ausruhen lassen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, weil ich sanft bin und demütig von Herzen, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Dem Staat, der weltlichen Gemeinschaft liegt es nahe, der Tat und des Wagnisses zu gedenken. So hatten wir im vergangenen Jahr zur fünfzigsten Wiederkehr des 20. Juli 1944 ein großes öffentliches Gedenken. Der 20. Juli 1995 ist ein stilleres Gedenken. Dieser Tag fasst ein Jahr 50 Jahre alter, schwer erträglicher Erinnerungen zusammen, die nicht zuletzt die Kirche begleiten muss.

Das Jahr, das dem 20. Juli 1944 folgte, war ein dreifaches Jahr:

Ein Jahr der großen Sünde:

Die Zustimmung zu Hitler wächst im deutschen Volk nach dem 20. Juli, das Morden in den Konzentrationslagern findet seinen Höhepunkt, das Ermorden der eigenen Jugend nimmt seinen Lauf bis in den Mai 45, – und das, obwohl der Aufstand der Besten unseres Volkes Verstand und Gewissen hätte aufrütteln können.

Ein Jahr des harten Gerichts:

Unsere schönsten Städte sind nach dem 20. Juli Opfer der Zerstörung geworden, die meisten Kriegstoten sind nach dem 20. Juli 1944 zu beklagen, die Flucht beginnt, fast ein Drittel Deutschlands geht verloren.

Angesichts der Gräuel, die dabei geschehen sind, wird die Frage nach der Schuld der Kriegsgegner immer wieder laut. Sie muss in ihrem eigenen Gewissen aufstehen. Unsere erste Frage gilt uns selbst. Das Gottesvolk Israel ist uns Vorbild. Es hat bei aller Klage über Babylon, das Jerusalem in Schutt und Asche gelegt hatte, zur Erkenntnis gefunden: Das alles ist über uns gekommen, weil wir den Namen des Herrn vergessen haben. Und gerade die Frommen haben sich in Demut dem Gericht nicht entzogen. Jesus weiß über den bevorstehenden zweiten Untergang Jerusalems den einfachen Satz: Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Geier. Man darf wohl sagen: Deutschland war zu Aas und Kadaver geworden, es war Gott zum Abscheu geworden.

Sich dieser Einsicht zu stellen, ist schwer. Diese Einsicht haben wir aber schon früh als Bekenntnis bei Menschen des Widerstands. Paul Lejeune-Jung hatte schon 1934 gesagt: „Der Bruch der rechtsstaatlichen Ordnung wird das Reich bis zum bittersten Ende einem Wahnsinnigen ausliefern.“ Admiral Canaris hatte Anfang des Krieges von der göttlichen Gerechtigkeit, die über uns kommen wird, gesprochen und 1944 gesagt, dass Deutschland nach allem schuldhaften Geschehen den Weg bis zum bitteren Ende werde gehen müssen. Henning von Tresckow hat Deutschland mit Sodom und Gomorrha verglichen. Peter Graf Yorck hat vom „Gefühl der alle niederbeugenden Schuld“ und von der „Gottesferne unserer Zeit“ gesprochen und von seinem Tod „als Sühneopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen.“

Hans Oster lässt nicht seine Beziehungen spielen, um seinen Sohn aus dem Kessel von Stalingrad herauszuholen, mit der Begründung: „Das Leid und die Not müssen von allen getragen werden.“ Und die Attentäter gegen Hitler haben für dieses Deutschland den Tod angenommen.

Ein Jahr der rettenden Gerechtigkeit Gottes:

Das wollen wir vor allem dankbar sagen.

Das Jahr nach dem 20. Juli ist mitten in aller Unmenschlichkeit ein Jahr wunderbarer Menschlichkeit, die der Schöpfer uns bewahrt hat: In diesem Jahr wird uns in Abschiedsworten und Abschiedsbriefen ein Schatz von Zeugnissen der in Zucht, Tat und Leiden schon in jungen Jahren gewonnenen reifen Menschlichkeit vermacht. In der Zusammenschau ihres Lebens zeigen die zum Tod Verurteilten uns die Quellen des Lebens auf.

Manche konnten dieser unzerstörbaren Quelle des Lebens den schönen Namen Jesus geben.

So ist noch einmal dieses Jahr zusammen mit den vorhergehenden ein Jahr der rettenden Gerechtigkeit Gottes, der seinen Kindern in aller Not den Glauben an sich und an Jesus bewahrt hat und sie in sein Reich holt.

Und wir haben wirklich einen Schatz an Zeugnissen tiefen, demütigen und vertrauensvollen Glaubens.

Jesu Zeugen sprechen deswegen vom Gericht Gottes und gleichzeitig davon, dass sie ein gnädiges Gericht erhoffen. Ja, die 23jährige Maria Terwiel – sie hat Jura studiert, Recht ist ihre ureigene Sache, im Gefängnis setzt sie für polnische Mithäftlinge Gnadengesuche auf – schreibt in ihrem Testament am 29. Januar 1943: „Ich habe absolut keine Angst vor dem Tode, und schon mal gar nicht vor der göttlichen Gerechtigkeit, denn die brauchen wir jedenfalls nicht zu fürchten.“

Es sind Zeugnisse von Erfahrungen dass der „Ich-bin-da“ sich nicht nur Mose und Israel in Ägypten bekundet hat, sondern seine Macht endgültig in Jesu Tod und Auferstehung erwiesen hat und sich auch heute noch zeigt.

Es sind Bekenntnisse dazu, dass Jesus mit Recht sagt:

Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.

Friedrich Justus Perels schreibt am Karfreitag 1945 an seine Frau:

„Heute steht der ganze große Trost des Kreuzes Jesu Christi unmittelbar vor unseren Augen. Das ist eine starke und ewige Gewissheit, dass Er für unsere Sünden dahingegeben ist und dass wir durch seine Wunden geheilt sind. Diese Gewissheit gibt er uns und macht uns damit in der großen Trübsal fröhlich und reißt uns aus der Angst und Qual. Das erfahre ich hier in ganz reichem Maße. Und daran und an nichts anderes dürft und sollt ihr euch auch halten.“

Wie sollen wir diesen Zeugnissen gerecht werden?

Diese Zeugnisse wollen in Stille erinnert und so in die Mitte des Herzens vorgelassen werden, damit sie aus der Mitte heraus wirken. Das ist sehr schön – aber auch erschreckend.

Johann Baptist Metz hat vom christlichen Glauben als von der „gefährlichen Erinnerung“ gesprochen:

„Sich der Erinnerung an Jesu Leben und Sterben zu stellen bleibt für die eigenen Lebensvorstellungen, für die eigene Lebensgestalt gefährlich. Sich der Erinnerung an die Zeugen Jesu, die Ihn vergegenwärtigen, und an ihr Leben und Sterben zu stellen, ist gefährlich.“

Justus Delbrück hat aus dem Moabiter Gefängnis geschrieben:

„Wenn Gott will, kann er durch den Tod eines Menschen mehr sagen als durch sein Leben.“

Viele von denen, die den Widerstand gegen Hitler gewagt haben, waren noch jung, hatten noch eine Zukunft vor sich, hätten durch ihr Leben gern noch viel mehr gesagt, wie es Adam von Trott zu Solz schreibt.

Was sagt Gott uns durch ihren frühen Tod?

Er stößt uns ganz unübersehbar auf den Psalmvers: „Herr, Deine Huld ist besser als das Leben.“

Unser hiesiges Leben ist heute zu solch einem hohen Wert geworden, dass wir geneigt sind, alles dafür einsetzen, auch das Leben anderer. Und diese Lebenssucht ist wie ein Netz, das immer mehr Menschen in Bann schlägt. Das ist zum öffentlichen Maßstab geworden.

Eintreten für das Leben erschöpft sich heute häufig in wohlfeilem Protest. Es kostet nichts, statt auf der Shell-Tankstelle auf einer anderen zu tanken, und dabei kommt häufig genug das Benzin aller Tankstellen einer Region aus derselben Raffinerie. Alibi-Verhalten und Selbstbetrug gehen heute auf Stelzen.

Und gleichzeitig wird das Lebensrecht von Menschen mit Füßen getreten. Am deutlichsten wird es an dem Skandal, dass sich in Deutschland kein Gesetz zum wirksamen Schutz ungeborener Menschen machen lässt.

Es wird Tag für Tag über Arbeitslosigkeit geredet, aber was wird sich ändern, solange man nichts von den eigenen Lebenschancen mit den Arbeitslosen teilt? Wir sind aber dabei, die eigenen Lebensmöglichkeiten ständig auszuweiten und sie uns immer mehr kosten zu lassen, so dass wir nichts mehr zum Teilen übrig haben.

Gott erinnert uns durch den gewaltsamen Tod seiner Zeugen daran, dass es Sünde gibt und Gericht:

Das ganze Leben wird eines Tages verloren, weil zu lange nichts oder doch viel zu wenig vom Leben mitgeteilt wurde. Die großen bitteren Entscheidungen zum Ganzopfer müssen eines Tages getroffen werden, wenn zu lange die kleinen Entscheidungen für das Leben nicht getroffen wurden.

Gott stellt viele unserer Lebensperspektiven in Frage und fragt uns durch den frühen Tod seiner Zeugen:

Habe ich euch nicht reichlich beschenkt? Wann wollt ihr beginnen, Leben zu verschenken? Wann wollt ihr beginnen, etwas von der Gestalt eures Lebens zu lassen, damit neues Leben werden kann?

Gott erinnert uns durch die Weise, wie seine Zeugen den Tod angenommen haben, daran, dass Er reich ist jenseits irdischen Reichtums, dass Er Trost hat mitten im Leid, dass Er Leben hat mitten im Tod, dass Er nicht nur eine Erde hat, sondern auch einen Himmel.

Liebe Schwestern und Brüder!

Lassen Sie mich genau in diesem Zusammenhang noch auf eine konkrete Frage eingehen, die sich unseren Kirchen hier besonders deutlich stellt: die Frage der Trennung.

Einige von Ihnen, deren Verwandte hier ermordet worden sind und die bis heute hier tief leiden, stellen mir die Frage:

Unsere Männer und Väter – katholisch und evangelisch – haben hier gemeinsam ihr Leben gelassen, und wir feiern hier nicht zusammen. Was soll ich dagegen sagen? Es ist ja ein Skandal.

Und dann lese ich in der neuen Enzyklika „Ut unum sint“ über die Einheit der Kirche von Papst Johannes Paul II. sofort zu Beginn diese Sätze:

„Das mutige Zeugnis so vieler Märtyrer unseres Jahrhunderts, die auch anderen nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche befindlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften angehören, ... erinnert uns an die Verpflichtung, (die) Aufforderung (des 2. Vatikanischen Konzils zur Einheit der Christen) anzunehmen und in die Tat umzusetzen. Vereint in der hochherzigen Hingabe ihres Lebens für das Reich Gottes sind diese unsere Brüder und Schwestern der bedeutendste Beweis dafür, dass in der Ganzhingabe seiner selbst an die Sache des Evangeliums jedes Element der Spaltung bewältigt und überwunden werden kann.“

Und weiter unten heißt es:

„Alle christlichen Gemeinschaften wissen, dass die Überwindung der Hindernisse die der Einheit im Weg stehen, mit Hilfe der Kraft, die der Geist schenkt, nicht außerhalb ihrer Reichweite liegen. Denn alle besitzen ja Märtyrer des christlichen Glaubens. Trotz des Dramas der Spaltung haben diese Brüder und Schwestern in sich eine so radikale und absolute Hingabe an Christus und an seinen Vater bewahrt, dass sie so weit zu gehen vermochten, ihr Blut zu vergießen.“

Ist das, was der Papst sagt, nicht genau das, was Peter Graf Yorck von Wartenburg erfahren hat, wenn er an seine Frau schreibt: „Als wir vom letzten Abendmahl weggingen, da fühlte ich eine fast unheimliche Erhabenheit, ich möchte es eigentlich Christusnähe nennen. Rückblickend scheint sie mir als ein Ruf.“

Angenommener Ruf in die Christusnähe: Der Papst sieht, dass die real zwischen unseren Kirchen gegebene Gemeinschaft im Märtyrertod unserer gemeinsamen Zeugen bereits vollkommen ist. „Denn sie ist die intensivste Gemeinschaft, die es mit Christus geben kann, der sein Blut vergießt und durch dieses Opfer jene, die einst in der Ferne waren, in die Nähe kommen lässt.“ (vgl. Eph 2,13) Und er sagt dann: „Diese Allgegenwart der Heiligen ist Zeichen und Beweis für den Sieg Gottes über die Kräfte des Bösen, die die Menschheit spalten.“

Diejenigen, die den Skandal unserer Trennung spüren und aussprechen, weisen mit dem rechten Glaubenssinn auf die Würde dieses Ortes hin. Wir stehen hier in Plötzensee an einem Platz, wo Christus im Heiligen Geist ein Tor für die Einheit im Glauben aufgestoßen hat.

Aber zu meinen, wir könnten die Gedächtnisfeier des Todes Jesu einfach zusammenlegen und danach wieder schiedlich friedlich nebeneinander herleben, entspricht nicht der Botschaft derer, die ihren letzten Hauch in diesem Raum vermischt haben. Sie haben mit diesem Hauch ihre junge und noch so verheißungsvolle Lebens-Gestalt verlassen in der Hoffnung, dass Christus ihnen Anteil an seiner neuen gewandelten Gestalt geben werde. Feier muss dem Leben entsprechen. Die Una Sancta, die eine, dem Willen Gottes entsprechende Kirche erfordert, dass wir uns wandeln lassen, uns auf eine neue Gestalt hin verlassen, die ererbten Denkformen unserer Kirchen zur Disposition stellen. Die Una Sancta erfordert, dass wir Christen in den verschiedenen Konfessionen 500 Jahre Selbstbehauptungsgeschichte gegeneinander in Bekehrung zu Gott aufgeben.

Das ist nicht einfach zu haben. Max Josef Metzger, der Gründer der Una Sancta- Bewegung wusste das, wenn er vor seiner Hinrichtung in Brandenburg schreibt:

„Ich habe mein Leben Gott angeboten für den Frieden der Welt und die Einheit der Kirche.“

Lassen wir uns heute durch die Erinnerung an das letzte Abendmahl von Peter Graf Yorck die Frage stellen: Mit welchem Herzen treten wir zum Abendmahl hinzu, gehen wir zur Kommunion? Ist unser Herz bereit, die Nähe des Herrn zuzulassen, seinen Ruf anzunehmen, auch wenn es Opfer bedeutet? Was tun wir für die Einheit, damit die Welt glaube?

Durch den Tod seiner Zeugen dringt ein Ruf der Mahnung zu uns hin. Jeder, der den Ruf hört, wird vor den Konsequenzen zurückschrecken. Wer sich auf den Ruf einlässt und zögernde Schritte macht, wird mitten in der Mahnung immer deutlicher die Einladung hören:

„Kommt zu mir alle, die ihr euch müht und unter Lasten stöhnt! Und ich werde euch ausruhen lassen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, weil ich sanft bin und demütig von Herzen, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“ (Mt 11, 28-30)

Man muss in der Tat Schritte gehen, um in Hörweite dieser zärtlichen Einladung zu kommen. Er selbst mache uns dafür behände und hellhörig!

Amen







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