Das Phänomen Hitler und der Widerstand
Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker
Das Phänomen Hitler und der Widerstand
Rede von Prof. Dr. Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker am 20. Juli 1974 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir gedenken heute der Menschen, die vor 30Jahren an diesem Ort einen Staatsstreich gegen die Herrschaft Hitlers versucht haben. Der Staatsstreich ist gescheitert. Er wurde kein Erfolg, aber ein Zeichen. Die meisten derer, die ihn getragen haben, haben damit ihr Leben zum Opfer gebracht.
Wir denken an die einzelnen Menschen, vielen unter denen, die heute hier stehen, nahe verbunden, unvergesslich, solange wir leben werden. Es ist unmöglich, ihre Namen vollständig und gerecht aufzuzählen, und doch drängen sich die Namen auf die Lippen. Seien einige für alle genannt: die Brüder Stauffenberg, Oster, Tresckow, Witzleben, Stülpnagel, Leuschner, Leber, Haubach, Mierendorff, Moltke, Delp, die Brüder Bonhoeffer, Dohnanyi, Canaris, Goerdeler, Hassell, Haeften, Yorck, Trott, Schwerin... Aber diese, die für eine Verschwörung nahe genug am Machtzentrum waren, fühlten sich nicht herausgehoben. Unsere Erinnerung muss zu den Tausenden gehen, die an vielen Stellen ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten, als Sozialisten, Kommunisten, als Liberale, Konservative, als Christen, als Deutsche, Polen, Tschechen, Franzosen, Norweger, Griechen, zu den Millionen, die fast ohne Möglichkeit des Widerstands nur Opfer waren, zuerst und zuletzt zu den Juden.
Jeder von uns sieht vor sich die Bilder derer, die er persönlich gekannt, die er persönlich verloren hat. Das ist recht. Aber heute soll zugleich ein Tag des öffentlichen Gedenkens sein. Ist das nötig? Ist das möglich? Das Wort „Gedenken“ ist oft ein Ausdruck der Verlegenheit, wo wir nicht denken. Geschichtsunterricht und Publizistik haben in diesen 30 Jahren den 20. Juli 1944 oft genannt. Die Gedanken der Verschwörer haben gleichwohl die deutsche Nachkriegspolitik wenig beeinflusst. Die Nötigung, sie öffentlich zu ehren, wurde manchmal als peinlich empfunden. Für die heutige Jugend sind sie in die ferne Geschichte versunken.
Dies hat einen tiefen und höchst begreiflichen Grund. Man hat die Erinnerung an die Verschwörung gegen Hitler verdrängt, weil man die Erinnerung an Hitler selbst verdrängte. Hitler als das Symbol unseres moralischen und politischen Scheiterns ist in den halb bewussten seelischen Schichten aller von uns, die ihn noch erlebt haben, so gegenwärtig, er ist zugleich so widerlegt und so unbewältigt, dass wir alle eine Glocke des Schweigens über ihn gesenkt haben. Die Aufklärungsbemühungen der politischen Erziehung, die fortdauernde Erschütterung der heute meistgelesenen Autoren, die manchmal zu schrille Stimme der wenigen, die ihre Verwundetheit in auf die Vergangenheit fixiertes Reden umsetzten, sie alle haben diese Glocke nicht wirklich gehoben. Vielleicht ist die Welle der Hitler-Literatur der letzten Jahre, in all ihrer Fragwürdigkeit, ein Zeichen einer Wandlung. Diese Wandlung wäre nötig. Man könnte die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Krieg als eine Art Heilschlaf unserer Nation auffassen, als ein zeitweiliges Vergessen des noch übermächtig Nahen. Aber auf das Erwachen aus dem Schlaf muss noch eine Beichte folgen. Wir können die Geister dieser Vergangenheit nicht verabschieden, ohne sie noch einmal zu beschwören. Es handelt sich nicht darum, uns unsere Schuld abermals einzubläuen, wodurch unser innerer Widerstand gegen ihre Anerkennung nur verhärtet würde. Im Gegenteil, wir müssen uns unbefangen als die sehen lernen, die wir waren. Es wäre gesund für uns, wenn es keine Schande wäre, zu bekennen, dass wir Hitler gefolgt sind, dass wir, jeder vielleicht in anderem Grade und einer anderen Phase, Glieder eines nationalsozialistischen Volks waren. Wenn der Schuldkomplex von uns fiele, könnte vielleicht aus der bisher unterdrückten Tiefe die verspätete Trauer über uns kommen; und die Unfähigkeit zu trauern ist es ja, die uns von wahrer Freude abschließt und uns in die Ersatzbefriedigungen der Tüchtigkeit, des materiellen Erfolgs und der billigen Genüsse jagt. Wenn die ältere Generation dies nicht leistet, so versperrt sie der Jugend den seelischen Zugang zu unserer nationalen Geschichte, denn der Weg in deren reiche Jahrhunderte geht nicht an den zwölf Jahren des Hitlerreichs vorbei. Bleibt dieser Zugang versperrt, so wird die künftige Überwindung der Nation in einer größeren politischen Einheit nicht ein fruchtbringendes Opfer sein, sondern ein Hinübergleiten aus einer leeren Form in eine andere leere Form.
Deshalb wird die heutige Ansprache in ihrem Mittelstück ein Versuch einer Analyse Hitlers sein. Dann wird sich uns unsere Gemeinschaft mit denen ergeben, die damals den Anfang der Anstrengung machten, ihn zu überwinden. Diese Analyse will ich in einem Hin- und Rückweg von der Nation zur Welt und zurück zur Nation versuchen. Hitler ist ein deutsches Phänomen. Er ist ein europäisches Phänomen. Er ist ein Weltphänomen unseres Jahrhunderts. Von der Weltentwicklung her können wir vielleicht verstehen, wie Europa ihn ermöglichte, von der europäischen Zeitgeschichte her, wie unser Deutschland ihn hervorbrachte.
Hitler ist ein deutsches Phänomen. Sein innenpolitischer Weg zur Macht war ermöglicht durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Hitler markiert objektiv das in der Geschichte häufige Phänomen des Aufbäumens der im Kampf um die Hegemonie besiegten Großmacht zu einem zweiten und letzten Versuch, also das letzte extreme Ausgreifen vor dem Zusammensinken des imperialen Feuers. Auch die Klaviatur seiner politischen Mittel ist bezogen auf den besonderen Zustand der Deutschen, dieser nach westeuropäischem Maßstab sowohl zum Nationalismus wie zur Aufklärung zu spät gekommenen Nation. Das Deutschland des späten 19. Jahrhunderts war altmodisch in seinen Begriffen, hochmodern in seinen technischen Mitteln. Hitlers Ideologie von Blut und Boden, von Antidemokratie und Antikommunismus appellierte an die Abwehr gegen die Modernität, seine Technik der Macht war moderner als die aller seiner Gegner. Seine persönliche Lebensprägung spiegelt Stationen der deutschen Geschichte. Nationalismus und Judenhass seiner Jugend entstammen den Ängsten der aus der bismarckschen Reichsgründung ausgeschlossenen Deutschen in der Habsburger Monarchie, einer Monarchie, die sich in der nationalistischen Ära auf einmal als ein Vielvölkerstaat darstellte. Das Trauma, das Hitler dann in die Politik führte, hat er mit der ihm eigenen Kraft der verräterischen Symbolik selbst dargestellt, als er 1940 die französische Führung zwang, ihre Kapitulation in demselben Salonwagen im Wald von Compiègne zu unterzeichnen, in dem die Deutschen 1918 die ihre unterzeichnet hatten.
Albrecht Haushofer sagte mir damals: „Er ist seelisch an diese Situation fixiert; er wird nicht ruhen, bis er die deutsche Niederlage in einem Zweifrontenkrieg ein zweites Mal herbeigeführt haben wird.“ Diesen Sinn des Symbols freilich verstand damals weder Hitler noch das deutsche Volk.
Hitler war ein europäisches Phänomen. Die zwanziger Jahre entwickelten sich zu einem Krisenjahrzehnt für die Demokratie. Die Niederlage der Kaiserreiche im Ersten Weltkrieg hatte nicht zu neuen stabilen innenpolitischen Formen geführt. In Süd- und Osteuropa setzten sich autoritäre oder, wie man nach dem erfolgreichsten Beispiel zu sagen begann, faschistische Regime durch. Die alten Demokratien des Westens freilich blieben immun. Sie waren die geistig, technisch, wirtschaftlich modernsten Staaten. Man realisierte im Westen nicht genug, dass die deutsche Entscheidung eine Schlüsselrolle spielte. Die verspätete deutsche Demokratie litt unter dem Trauma, von den Siegern eingesetzt zu sein, aber von ihnen – anders als 30 Jahre später unter Adenauer – nicht die notwendige Unterstützung zu erhalten. Zumal die französische Politik verweigerte demokratisch gewählten deutschen Regierungen Erfolge, die sie Hitler nachher widerstandslos gewährte. Das ambivalente Verhalten Frankreichs und Englands gegenüber Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ist psychologisch völlig begreiflich, wenn man bedenkt, dass dieser Krieg tatsächlich den Zusammenbruch des Imperialismus aller drei Nationen einleitete; zum Versuch, Schuld und Schaden auf Deutschland allein abzuwälzen, gab es verständliche Gründe, aber die Kraft reichte nicht mehr aus dazu. Freilich kann man sagen, dass der Wendepunkt in Hitlers Erfolgskurve der Augenblick war, in dem sich die Engländer, anders als die deutschen Konservativen, trotz der Verführung scheinbarer Interessenparallelität, als es ernst wurde, ihm gegenüber unbestechlich erwiesen.
Hitler ist ein Weltphänomen unseres Jahrhunderts. Weltweit war der Vorgang, der ihm schließlich den Weg in die Macht freigab, die Wirtschaftskrise. Der Erste Weltkrieg hatte sichtbar gemacht, dass Amerika von England die Führungsrolle der modernen kapitalistischen Weltwirtschaftsentwicklung übernommen hatte. Die Weltwirtschaftskrise war für Amerika die erste, für Europa nächst dem Krieg die zweite Erschütterung des naiven Glaubens an die Stabilität und Moral dieser Entwicklung. Keynes und Schacht bezeichneten die in ihrem Gedankengut für 40 weitere Jahre ausreichende ökonomisch-finanztechnische Antwort auf die Krise. Roosevelt und Hitler waren politische Antworten, eine demokratisch-intellektualistische und eine antidemokratisch-antiintellektualistische. Hitlers zeitweilige Überlegenheit über alle seine europäischen Partner hing damit zusammen, dass er eine, ebenfalls nur zeitweilige, Antwort auf das Problem war, als dessen hilflose Exponenten sie sich erwiesen.
Aber was war das Problem, und was war seine Antwort? Die europäische Kultur war bis zum Ende des Mittelalters eine unter den großen Weltkulturen, und nicht die bedeutendste unter ihnen. Seitdem hat sie durch ihre technische Rationalität einen großen Teil der Welt politisch erobert und die ganze Welt strukturell radikal umgestaltet. Das kapitalistische Wirtschaftswachstum ist der ökonomische Aspekt dieses Vorgangs. Die unausweichliche innere Krise dieser Willens- und Verstandeswelt konnte solange nach außen verlagert werden, als das System sich durch Wachstum stabilisierte. Dieser Prozess der Verlagerung der Krise nach außen kennzeichnet die Entwicklung Europas im Jahrhundert vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, zumal in seiner zweiten Hälfte. Die Vermeidung eines all-europäischen Krieges in der Phase wirtschaftlicher und imperialer Expansion ist sein sichtbarstes Anzeichen. Der Weltkrieg trat ein, als, um es salopp zu sagen, die europäischen Imperialismen entdeckt hatten, dass die Erde rund ist. Der Krieg von 1914 wurde mit Recht als Ausbruch einer Krise der europäischen Kultur empfunden. 30 Jahre später erwies sich die Krise, wie Krisen so häufig, als noch begrenzt. Die politischen und ökonomischen Formen dieser Kultur, Kapitalismus und Sozialismus, Demokratie, Technokratie und Bürokratie erlebten nun erst ihre größte bisherige Entfaltung. Nur haben die im engeren Sinn europäischen Großmächte die Stafette des imperialen Wettlaufs an Amerika und Russland abgegeben. Wenn die Krise, die sich für dieses erneuerte System heute zusammenbraut, sichtbarer geworden sein wird, werden wir manche Züge der letzten Krise wieder verstehen.
Deutschland, Österreich und Russland, als Unterlegene, waren am tiefsten von der Krise getroffen. Die österreichisch-ungarische Monarchie verschwand von der Weltkarte. Russland konnte sich zwei Jahrzehnte in der Weite seines Raums mit sich selbst beschäftigen. Deutschland blieb vom Gedeihen Westeuropas abhängig und entwickelte aus dessen Unfähigkeit, seine Probleme zu lösen, eine wahnsinnige, aber zunächst höchst erfolgreiche Alternative. Niemand kann behaupten, dies sei die einzig mögliche Alternative, Hitler also sei welthistorisch notwendig gewesen. Jedes politische Handeln wäre sinnlos, wenn wir nicht jederzeit bereit wären, zu glauben, dass verschiedene Alternativen möglich sind. Dies gegen jeden Fatalismus zu demonstrieren, war wohl eine der tiefsten Triebkräfte des deutschen Widerstands gegen Hitler. Aber Hitler war die Alternative, die sich faktisch durchsetzte. Warum gerade Hitler?
Seine Verbindung von Wahnsinn und Erfolg hat die Zeitgenossen wie später die Historiker verwirrt. Wer 1923,1933,1939 sah, wie absurd Hitler war, der konnte nicht glauben, er werde weiterhin erfolgreich sein. Wer den Erfolg erlebte, musste sich selbst prüfen, ob er ihn mit Recht für absurd gehalten habe. Viel an diesem Erfolg erklärten gewiss einige seiner persönlichen Eigenschaften, so die tief im Triebhaften wurzelnde Kommunikation des Redners mit den Massen, die opernhafte Phantasie und die taktische Genialität, ungehindert durch normalmenschliche moralische Hemmungen. Und doch reicht ein solches Persönlichkeitsbild zur Erklärung des Erfolgs nicht aus. Die Fachleute hatten mit ihrer Kritik an seinen Lösungsideen zu speziellen Problemen meistens darin Recht, dass seine Lösung mehr Probleme erzeugen als beseitigen würde, kurz, dass sie instabil sei. Hitlers zeitweilige Überlegenheit war, dass ihn diese Instabilität überhaupt nicht störte, da er ohnehin viel weiter reichende Ziele verfolgte. Er stabilisierte seine Politik wie ein Fahrrad, das nur in der Bewegung aufrecht bleibt, oder wie ein Flugzeug, das nur in der Bewegung in der Luft bleibt.
Was aber war das Ziel? Das lässt sich mit wenigen Worten sagen, denn er war trotz taktischer Verschleierungen erstaunlich offen darüber: Es war die Weltherrschaft der nordischen Rasse, gestützt auf ein deutsches Reich im russischen Raum. Es war die Unterwerfung der minderen Rassen und die Vernichtung der bewundernd gehassten Gegenrasse, der Juden. Es war die absolute Macht seiner eigenen Person in Partei, Volk und Welt, da nur er die Kraft zur Durchsetzung dieses Ziels in sich spürte. Es war die Mobilisierung des ganzen Volkes zur Erkenntnis seines unerkannten, aber im Führer zum Bewusstsein gelangten Willens.
Aber die Antwort wirft uns auf die Frage zurück: Wie konnte dieses Wahnsystem zeitweiligen Erfolg haben? Die Erwiderung muss sein, dass sich manchmal in Wahnsystemen Züge der Wirklichkeit spiegeln, die der Verstand der Verständigen nicht sehen will. Nikolaus von Halem, der der Entschlossenheit der Verschwörer nicht traute und seinen eigenen Versuch gegen Hitlers Leben mit dem Tod bezahlt hat, sagte mir 1938: „Was an dieser Unperson bedingt seine historische Rolle? Denken Sie sich Menschen, die durch einen dunklen Wald gehen, in dem Schlangen sind. Plötzlich schreit einer; er ist als Erster von einer Schlange gebissen. Das ist Hitler.“ Die Fachleute wollten stabilisieren. In Hitlers Wahn spiegelt sich die taktische Instabilität des Weltsystems, sein Gezogensein zu einer noch unsichtbaren Einheit. Das Konkurrenzdenken des Kapitalismus hatte sich in den biologischen Theorien vom Kampf ums Dasein niedergeschlagen; Hitler übernahm die oberflächliche Seite dieser Theorien in der unwissenschaftlichen, aber eben darum symbolkräftigen Ideologie der nordischen Rasse. Hitler, der nie eine eigentliche Person war, begriff nur zu leicht, dass individueller Egoismus die Menschen unerfüllt lässt, und gab als Lösung die emotionelle Mobilisierung der Massen im Gemeinschaftserlebnis und im Führerkult.
Diesem Menschen standen die Offiziere, Beamten, Gutsbesitzer, Parteifunktionäre, Geistlichen des Widerstands gegenüber, die Familienväter und Söhne staatstragender Familien, die Personen. Ich möchte noch einmal sagen: Es ist keine Schande, ihm unterlegen gewesen zu sein. Es ist keine Schande, sei es bezaubert von seiner Verführung, sei es widerstrebend in der Tradition des Staatsdienstes, sei es schlicht um eigenes und benachbartes Leben zitternd, ihm gehorcht zu haben; eine Schande ist es nur, dieses Versagen nachträglich nicht zu erkennen, seine Gründe nicht wissen zu wollen. Es ist eine Ehre, Glied des aktiven Widerstands gewesen zu sein – eine Ehre, die ich, um darüber klar zu sprechen, für mich nicht in Anspruch nehmen kann. Wir ehren den Widerstand aber nicht mit dem billigen Lob dessen, der sich nicht mehr in Gefahr fühlt, sondern indem wir auch nach seinen Problemen und nach den Gründen seines Scheiterns fragen.
Die meisten, die zuletzt an der Verschwörung beteiligt waren, haben sich nur langsam zum Widerstand entschlossen. Man hat ihnen das manchmal zum Vorwurf gemacht. Man hat gesagt, sie hätten gar nicht Hitlers Ziele, sondern nur seine dilettantische Art der Verfolgung dieser Ziele missbilligt, denn seine Ziele seien die der alten herrschenden Klasse gewesen. Das ist ein nahe liegender, aber tiefer Irrtum. Hitler hat spätestens 1923 erkannt, dass er die Duldung der in Deutschland noch immer mächtigen Konservativen und insbesondere des Militärs brauchte, um zur Macht zu kommen. Dies war eine deutsche und eine hitlersche Version der funktionalen Erkenntnis, dass ein moderner Staat nicht von der Straße aus, sondern nur von innen her erobert werden kann. Es fiel Hitler leicht, die Konservativen über seine Ziele zu täuschen, da er den Staat, den wiederherzustellen ihr Ziel war, seinerseits als Mittel brauchte. Man kann auch die These vertreten, die innere Logik des Imperialismus habe schon das Kaiserreich in jene Richtung gedrängt, in der Hitler dann hemmungslos voranschritt. Aber wohl bei jedem der Verschwörer des 20. Juli geschah der radikale Bruch mit Hitler nicht an der Frage nach der Zweckmäßigkeit der Mittel oder des Maßes der Ziele, sondern an der Stelle der Moral. Dies wird vielleicht am deutlichsten an der Tatsache, dass der unbedingte Entschluss zum Attentat erst in dem Augenblick gefasst wurde, in dem gewiss war, dass es am politischen Schicksal des Reiches kaum mehr etwas ändern konnte.
Verfolgen wir am Ende den Weg zu diesem Entschluss! Die parlamentarische Demokratie war 1933 wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Sozialdemokraten und Kommunisten waren in die Illegalität und damit in die Erfolglosigkeit gedrängt. In den Kirchen gab es teilweise erfolgreichen Widerstand gegen Eingriffe in ihre innere Struktur, aber wenig Widerstand gegen Hitlers Politik selbst, und dieser Widerstand prägte sich bekennerisch und eben darum nicht konspirativ aus. Als Dietrich Bonhoeffer in den Kreis der Verschwörer eingetreten war, verwandelten sich ihm alle Werturteile darüber, was man sagen oder nicht sagen sollte, und er wurde manchen seiner Freunde aus der Bekennenden Kirche unverständlich. In der Tat war der Entschluss zum Staatsstreich und Attentat für die Menschen überlieferter Prägung ein schweres moralisches Problem. Die tiefe moralische Erschütterung über die Komplizenschaft im Verbrechen, in die das Regime jeden zu verwickeln trachtete, war nötig, um die Skrupel wegen Diensteid und Tyrannenmord bei einigen von ihnen zu überwinden. Das tiefste Problem sprach wohl Werner von Trott aus, der nicht wie sein Bruder Adam an der Verschwörung teilnahm. Er, ein mir bis zu diesem Moment Unbekannter, trat 1940 in mein Zimmer und sagte in einem seiner ersten Sätze: „Sie stimmen sicher mit mir überein, dass nur eine unbeschönigte totale Niederlage unser Volk moralisch aus seiner Selbstbelügung retten kann.“
Der Verschwörerkreis, der sich allmählich bildete, dachte nicht so und konnte nicht so denken. Er fühlte sich verpflichtet, praktikable nächste Schritte nach der politischen Elimination Hitlers vorweg zu planen. Das war ein Gebot überlieferten politischen Verstandes. Es war aber wohl zugleich der Grund dafür, dass es zu diesem rechtzeitigen Staatsstreich nicht kam. Freilich kamen auf eine fast unbegreifliche Weise Zufälle dazwischen, so im aussichtsreichsten Augenblick 1938 die Münchener Konferenz, oder dann im Krieg bei den Attentatsversuchen Schlabrendorffs und Bussches technisches Versagen und Luftangriffe. Es kam nicht dazu, dass einmal einer der Verschworenen Hitler in die Augen gesehen und ihn niedergeschossen hätte. Die unbedingte Entschlossenheit, mit der Stauffenberg schließlich handelte, beruhte auf dem Gedanken, jetzt gehe es nicht mehr darum, den günstigsten Augenblick zu finden, sondern darum, zu beweisen, dass es hier Menschen gegeben hat, die bereit waren, das Böse auch mit Opferung ihres Lebens zu bekämpfen. Die feudale Führungsschicht war durch Hitler diskreditiert und damit politisch endgültig überwunden; moralisch fand sie in diesen ihren Vertretern zu sich zurück.
In jener Zeit wurden viele Sonette geschrieben. Ihr literarischer Wert ist meist nicht groß, aber sie können als authentische Zeugnisse des Erlebten dienen. Es sei mir erlaubt, eines zu zitieren.
Ihr Alten, deren zögernd klugen Händen
ein Stärkerer die Zügel längst entwunden,
die dienend hofften, durch die Pflicht gebunden,
ein unaufhaltsam Unheil abzuwenden,
Ihr Jungen, die ihr in den Bränden
der Zeit des Meineids und der tausend Wunden
wohl einen Glauben und ein Ziel gefunden,
doch keinen Weg, die Schrecken zu beenden,
Zu spät wars, als Verzweiflung euch gebot,
das fast vollendete Geschick zu beugen,
mit Menschenkraft zu treffen die Dämonen.
Doch unvergesslich macht euch euer Tod.
Gemartert und verleumdet bliebt ihr Zeugen.
Nun tragt auch ihr die kostbarste der Kronen.
Die kostbarste Krone ist die Märtyrerkrone. Es steht uns objektiv nicht zu, sie unseren im Verfolg eines Staatsstreichs gefallenen Freunden zuzusprechen. Aber uns ist erlaubt, so zu empfinden.
Das Phänomen Hitler und der Widerstand
Rede von Prof. Dr. Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker am 20. Juli 1974 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir gedenken heute der Menschen, die vor 30Jahren an diesem Ort einen Staatsstreich gegen die Herrschaft Hitlers versucht haben. Der Staatsstreich ist gescheitert. Er wurde kein Erfolg, aber ein Zeichen. Die meisten derer, die ihn getragen haben, haben damit ihr Leben zum Opfer gebracht.
Wir denken an die einzelnen Menschen, vielen unter denen, die heute hier stehen, nahe verbunden, unvergesslich, solange wir leben werden. Es ist unmöglich, ihre Namen vollständig und gerecht aufzuzählen, und doch drängen sich die Namen auf die Lippen. Seien einige für alle genannt: die Brüder Stauffenberg, Oster, Tresckow, Witzleben, Stülpnagel, Leuschner, Leber, Haubach, Mierendorff, Moltke, Delp, die Brüder Bonhoeffer, Dohnanyi, Canaris, Goerdeler, Hassell, Haeften, Yorck, Trott, Schwerin... Aber diese, die für eine Verschwörung nahe genug am Machtzentrum waren, fühlten sich nicht herausgehoben. Unsere Erinnerung muss zu den Tausenden gehen, die an vielen Stellen ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten, als Sozialisten, Kommunisten, als Liberale, Konservative, als Christen, als Deutsche, Polen, Tschechen, Franzosen, Norweger, Griechen, zu den Millionen, die fast ohne Möglichkeit des Widerstands nur Opfer waren, zuerst und zuletzt zu den Juden.
Jeder von uns sieht vor sich die Bilder derer, die er persönlich gekannt, die er persönlich verloren hat. Das ist recht. Aber heute soll zugleich ein Tag des öffentlichen Gedenkens sein. Ist das nötig? Ist das möglich? Das Wort „Gedenken“ ist oft ein Ausdruck der Verlegenheit, wo wir nicht denken. Geschichtsunterricht und Publizistik haben in diesen 30 Jahren den 20. Juli 1944 oft genannt. Die Gedanken der Verschwörer haben gleichwohl die deutsche Nachkriegspolitik wenig beeinflusst. Die Nötigung, sie öffentlich zu ehren, wurde manchmal als peinlich empfunden. Für die heutige Jugend sind sie in die ferne Geschichte versunken.
Dies hat einen tiefen und höchst begreiflichen Grund. Man hat die Erinnerung an die Verschwörung gegen Hitler verdrängt, weil man die Erinnerung an Hitler selbst verdrängte. Hitler als das Symbol unseres moralischen und politischen Scheiterns ist in den halb bewussten seelischen Schichten aller von uns, die ihn noch erlebt haben, so gegenwärtig, er ist zugleich so widerlegt und so unbewältigt, dass wir alle eine Glocke des Schweigens über ihn gesenkt haben. Die Aufklärungsbemühungen der politischen Erziehung, die fortdauernde Erschütterung der heute meistgelesenen Autoren, die manchmal zu schrille Stimme der wenigen, die ihre Verwundetheit in auf die Vergangenheit fixiertes Reden umsetzten, sie alle haben diese Glocke nicht wirklich gehoben. Vielleicht ist die Welle der Hitler-Literatur der letzten Jahre, in all ihrer Fragwürdigkeit, ein Zeichen einer Wandlung. Diese Wandlung wäre nötig. Man könnte die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Krieg als eine Art Heilschlaf unserer Nation auffassen, als ein zeitweiliges Vergessen des noch übermächtig Nahen. Aber auf das Erwachen aus dem Schlaf muss noch eine Beichte folgen. Wir können die Geister dieser Vergangenheit nicht verabschieden, ohne sie noch einmal zu beschwören. Es handelt sich nicht darum, uns unsere Schuld abermals einzubläuen, wodurch unser innerer Widerstand gegen ihre Anerkennung nur verhärtet würde. Im Gegenteil, wir müssen uns unbefangen als die sehen lernen, die wir waren. Es wäre gesund für uns, wenn es keine Schande wäre, zu bekennen, dass wir Hitler gefolgt sind, dass wir, jeder vielleicht in anderem Grade und einer anderen Phase, Glieder eines nationalsozialistischen Volks waren. Wenn der Schuldkomplex von uns fiele, könnte vielleicht aus der bisher unterdrückten Tiefe die verspätete Trauer über uns kommen; und die Unfähigkeit zu trauern ist es ja, die uns von wahrer Freude abschließt und uns in die Ersatzbefriedigungen der Tüchtigkeit, des materiellen Erfolgs und der billigen Genüsse jagt. Wenn die ältere Generation dies nicht leistet, so versperrt sie der Jugend den seelischen Zugang zu unserer nationalen Geschichte, denn der Weg in deren reiche Jahrhunderte geht nicht an den zwölf Jahren des Hitlerreichs vorbei. Bleibt dieser Zugang versperrt, so wird die künftige Überwindung der Nation in einer größeren politischen Einheit nicht ein fruchtbringendes Opfer sein, sondern ein Hinübergleiten aus einer leeren Form in eine andere leere Form.
Deshalb wird die heutige Ansprache in ihrem Mittelstück ein Versuch einer Analyse Hitlers sein. Dann wird sich uns unsere Gemeinschaft mit denen ergeben, die damals den Anfang der Anstrengung machten, ihn zu überwinden. Diese Analyse will ich in einem Hin- und Rückweg von der Nation zur Welt und zurück zur Nation versuchen. Hitler ist ein deutsches Phänomen. Er ist ein europäisches Phänomen. Er ist ein Weltphänomen unseres Jahrhunderts. Von der Weltentwicklung her können wir vielleicht verstehen, wie Europa ihn ermöglichte, von der europäischen Zeitgeschichte her, wie unser Deutschland ihn hervorbrachte.
Hitler ist ein deutsches Phänomen. Sein innenpolitischer Weg zur Macht war ermöglicht durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Hitler markiert objektiv das in der Geschichte häufige Phänomen des Aufbäumens der im Kampf um die Hegemonie besiegten Großmacht zu einem zweiten und letzten Versuch, also das letzte extreme Ausgreifen vor dem Zusammensinken des imperialen Feuers. Auch die Klaviatur seiner politischen Mittel ist bezogen auf den besonderen Zustand der Deutschen, dieser nach westeuropäischem Maßstab sowohl zum Nationalismus wie zur Aufklärung zu spät gekommenen Nation. Das Deutschland des späten 19. Jahrhunderts war altmodisch in seinen Begriffen, hochmodern in seinen technischen Mitteln. Hitlers Ideologie von Blut und Boden, von Antidemokratie und Antikommunismus appellierte an die Abwehr gegen die Modernität, seine Technik der Macht war moderner als die aller seiner Gegner. Seine persönliche Lebensprägung spiegelt Stationen der deutschen Geschichte. Nationalismus und Judenhass seiner Jugend entstammen den Ängsten der aus der bismarckschen Reichsgründung ausgeschlossenen Deutschen in der Habsburger Monarchie, einer Monarchie, die sich in der nationalistischen Ära auf einmal als ein Vielvölkerstaat darstellte. Das Trauma, das Hitler dann in die Politik führte, hat er mit der ihm eigenen Kraft der verräterischen Symbolik selbst dargestellt, als er 1940 die französische Führung zwang, ihre Kapitulation in demselben Salonwagen im Wald von Compiègne zu unterzeichnen, in dem die Deutschen 1918 die ihre unterzeichnet hatten.
Albrecht Haushofer sagte mir damals: „Er ist seelisch an diese Situation fixiert; er wird nicht ruhen, bis er die deutsche Niederlage in einem Zweifrontenkrieg ein zweites Mal herbeigeführt haben wird.“ Diesen Sinn des Symbols freilich verstand damals weder Hitler noch das deutsche Volk.
Hitler war ein europäisches Phänomen. Die zwanziger Jahre entwickelten sich zu einem Krisenjahrzehnt für die Demokratie. Die Niederlage der Kaiserreiche im Ersten Weltkrieg hatte nicht zu neuen stabilen innenpolitischen Formen geführt. In Süd- und Osteuropa setzten sich autoritäre oder, wie man nach dem erfolgreichsten Beispiel zu sagen begann, faschistische Regime durch. Die alten Demokratien des Westens freilich blieben immun. Sie waren die geistig, technisch, wirtschaftlich modernsten Staaten. Man realisierte im Westen nicht genug, dass die deutsche Entscheidung eine Schlüsselrolle spielte. Die verspätete deutsche Demokratie litt unter dem Trauma, von den Siegern eingesetzt zu sein, aber von ihnen – anders als 30 Jahre später unter Adenauer – nicht die notwendige Unterstützung zu erhalten. Zumal die französische Politik verweigerte demokratisch gewählten deutschen Regierungen Erfolge, die sie Hitler nachher widerstandslos gewährte. Das ambivalente Verhalten Frankreichs und Englands gegenüber Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ist psychologisch völlig begreiflich, wenn man bedenkt, dass dieser Krieg tatsächlich den Zusammenbruch des Imperialismus aller drei Nationen einleitete; zum Versuch, Schuld und Schaden auf Deutschland allein abzuwälzen, gab es verständliche Gründe, aber die Kraft reichte nicht mehr aus dazu. Freilich kann man sagen, dass der Wendepunkt in Hitlers Erfolgskurve der Augenblick war, in dem sich die Engländer, anders als die deutschen Konservativen, trotz der Verführung scheinbarer Interessenparallelität, als es ernst wurde, ihm gegenüber unbestechlich erwiesen.
Hitler ist ein Weltphänomen unseres Jahrhunderts. Weltweit war der Vorgang, der ihm schließlich den Weg in die Macht freigab, die Wirtschaftskrise. Der Erste Weltkrieg hatte sichtbar gemacht, dass Amerika von England die Führungsrolle der modernen kapitalistischen Weltwirtschaftsentwicklung übernommen hatte. Die Weltwirtschaftskrise war für Amerika die erste, für Europa nächst dem Krieg die zweite Erschütterung des naiven Glaubens an die Stabilität und Moral dieser Entwicklung. Keynes und Schacht bezeichneten die in ihrem Gedankengut für 40 weitere Jahre ausreichende ökonomisch-finanztechnische Antwort auf die Krise. Roosevelt und Hitler waren politische Antworten, eine demokratisch-intellektualistische und eine antidemokratisch-antiintellektualistische. Hitlers zeitweilige Überlegenheit über alle seine europäischen Partner hing damit zusammen, dass er eine, ebenfalls nur zeitweilige, Antwort auf das Problem war, als dessen hilflose Exponenten sie sich erwiesen.
Aber was war das Problem, und was war seine Antwort? Die europäische Kultur war bis zum Ende des Mittelalters eine unter den großen Weltkulturen, und nicht die bedeutendste unter ihnen. Seitdem hat sie durch ihre technische Rationalität einen großen Teil der Welt politisch erobert und die ganze Welt strukturell radikal umgestaltet. Das kapitalistische Wirtschaftswachstum ist der ökonomische Aspekt dieses Vorgangs. Die unausweichliche innere Krise dieser Willens- und Verstandeswelt konnte solange nach außen verlagert werden, als das System sich durch Wachstum stabilisierte. Dieser Prozess der Verlagerung der Krise nach außen kennzeichnet die Entwicklung Europas im Jahrhundert vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, zumal in seiner zweiten Hälfte. Die Vermeidung eines all-europäischen Krieges in der Phase wirtschaftlicher und imperialer Expansion ist sein sichtbarstes Anzeichen. Der Weltkrieg trat ein, als, um es salopp zu sagen, die europäischen Imperialismen entdeckt hatten, dass die Erde rund ist. Der Krieg von 1914 wurde mit Recht als Ausbruch einer Krise der europäischen Kultur empfunden. 30 Jahre später erwies sich die Krise, wie Krisen so häufig, als noch begrenzt. Die politischen und ökonomischen Formen dieser Kultur, Kapitalismus und Sozialismus, Demokratie, Technokratie und Bürokratie erlebten nun erst ihre größte bisherige Entfaltung. Nur haben die im engeren Sinn europäischen Großmächte die Stafette des imperialen Wettlaufs an Amerika und Russland abgegeben. Wenn die Krise, die sich für dieses erneuerte System heute zusammenbraut, sichtbarer geworden sein wird, werden wir manche Züge der letzten Krise wieder verstehen.
Deutschland, Österreich und Russland, als Unterlegene, waren am tiefsten von der Krise getroffen. Die österreichisch-ungarische Monarchie verschwand von der Weltkarte. Russland konnte sich zwei Jahrzehnte in der Weite seines Raums mit sich selbst beschäftigen. Deutschland blieb vom Gedeihen Westeuropas abhängig und entwickelte aus dessen Unfähigkeit, seine Probleme zu lösen, eine wahnsinnige, aber zunächst höchst erfolgreiche Alternative. Niemand kann behaupten, dies sei die einzig mögliche Alternative, Hitler also sei welthistorisch notwendig gewesen. Jedes politische Handeln wäre sinnlos, wenn wir nicht jederzeit bereit wären, zu glauben, dass verschiedene Alternativen möglich sind. Dies gegen jeden Fatalismus zu demonstrieren, war wohl eine der tiefsten Triebkräfte des deutschen Widerstands gegen Hitler. Aber Hitler war die Alternative, die sich faktisch durchsetzte. Warum gerade Hitler?
Seine Verbindung von Wahnsinn und Erfolg hat die Zeitgenossen wie später die Historiker verwirrt. Wer 1923,1933,1939 sah, wie absurd Hitler war, der konnte nicht glauben, er werde weiterhin erfolgreich sein. Wer den Erfolg erlebte, musste sich selbst prüfen, ob er ihn mit Recht für absurd gehalten habe. Viel an diesem Erfolg erklärten gewiss einige seiner persönlichen Eigenschaften, so die tief im Triebhaften wurzelnde Kommunikation des Redners mit den Massen, die opernhafte Phantasie und die taktische Genialität, ungehindert durch normalmenschliche moralische Hemmungen. Und doch reicht ein solches Persönlichkeitsbild zur Erklärung des Erfolgs nicht aus. Die Fachleute hatten mit ihrer Kritik an seinen Lösungsideen zu speziellen Problemen meistens darin Recht, dass seine Lösung mehr Probleme erzeugen als beseitigen würde, kurz, dass sie instabil sei. Hitlers zeitweilige Überlegenheit war, dass ihn diese Instabilität überhaupt nicht störte, da er ohnehin viel weiter reichende Ziele verfolgte. Er stabilisierte seine Politik wie ein Fahrrad, das nur in der Bewegung aufrecht bleibt, oder wie ein Flugzeug, das nur in der Bewegung in der Luft bleibt.
Was aber war das Ziel? Das lässt sich mit wenigen Worten sagen, denn er war trotz taktischer Verschleierungen erstaunlich offen darüber: Es war die Weltherrschaft der nordischen Rasse, gestützt auf ein deutsches Reich im russischen Raum. Es war die Unterwerfung der minderen Rassen und die Vernichtung der bewundernd gehassten Gegenrasse, der Juden. Es war die absolute Macht seiner eigenen Person in Partei, Volk und Welt, da nur er die Kraft zur Durchsetzung dieses Ziels in sich spürte. Es war die Mobilisierung des ganzen Volkes zur Erkenntnis seines unerkannten, aber im Führer zum Bewusstsein gelangten Willens.
Aber die Antwort wirft uns auf die Frage zurück: Wie konnte dieses Wahnsystem zeitweiligen Erfolg haben? Die Erwiderung muss sein, dass sich manchmal in Wahnsystemen Züge der Wirklichkeit spiegeln, die der Verstand der Verständigen nicht sehen will. Nikolaus von Halem, der der Entschlossenheit der Verschwörer nicht traute und seinen eigenen Versuch gegen Hitlers Leben mit dem Tod bezahlt hat, sagte mir 1938: „Was an dieser Unperson bedingt seine historische Rolle? Denken Sie sich Menschen, die durch einen dunklen Wald gehen, in dem Schlangen sind. Plötzlich schreit einer; er ist als Erster von einer Schlange gebissen. Das ist Hitler.“ Die Fachleute wollten stabilisieren. In Hitlers Wahn spiegelt sich die taktische Instabilität des Weltsystems, sein Gezogensein zu einer noch unsichtbaren Einheit. Das Konkurrenzdenken des Kapitalismus hatte sich in den biologischen Theorien vom Kampf ums Dasein niedergeschlagen; Hitler übernahm die oberflächliche Seite dieser Theorien in der unwissenschaftlichen, aber eben darum symbolkräftigen Ideologie der nordischen Rasse. Hitler, der nie eine eigentliche Person war, begriff nur zu leicht, dass individueller Egoismus die Menschen unerfüllt lässt, und gab als Lösung die emotionelle Mobilisierung der Massen im Gemeinschaftserlebnis und im Führerkult.
Diesem Menschen standen die Offiziere, Beamten, Gutsbesitzer, Parteifunktionäre, Geistlichen des Widerstands gegenüber, die Familienväter und Söhne staatstragender Familien, die Personen. Ich möchte noch einmal sagen: Es ist keine Schande, ihm unterlegen gewesen zu sein. Es ist keine Schande, sei es bezaubert von seiner Verführung, sei es widerstrebend in der Tradition des Staatsdienstes, sei es schlicht um eigenes und benachbartes Leben zitternd, ihm gehorcht zu haben; eine Schande ist es nur, dieses Versagen nachträglich nicht zu erkennen, seine Gründe nicht wissen zu wollen. Es ist eine Ehre, Glied des aktiven Widerstands gewesen zu sein – eine Ehre, die ich, um darüber klar zu sprechen, für mich nicht in Anspruch nehmen kann. Wir ehren den Widerstand aber nicht mit dem billigen Lob dessen, der sich nicht mehr in Gefahr fühlt, sondern indem wir auch nach seinen Problemen und nach den Gründen seines Scheiterns fragen.
Die meisten, die zuletzt an der Verschwörung beteiligt waren, haben sich nur langsam zum Widerstand entschlossen. Man hat ihnen das manchmal zum Vorwurf gemacht. Man hat gesagt, sie hätten gar nicht Hitlers Ziele, sondern nur seine dilettantische Art der Verfolgung dieser Ziele missbilligt, denn seine Ziele seien die der alten herrschenden Klasse gewesen. Das ist ein nahe liegender, aber tiefer Irrtum. Hitler hat spätestens 1923 erkannt, dass er die Duldung der in Deutschland noch immer mächtigen Konservativen und insbesondere des Militärs brauchte, um zur Macht zu kommen. Dies war eine deutsche und eine hitlersche Version der funktionalen Erkenntnis, dass ein moderner Staat nicht von der Straße aus, sondern nur von innen her erobert werden kann. Es fiel Hitler leicht, die Konservativen über seine Ziele zu täuschen, da er den Staat, den wiederherzustellen ihr Ziel war, seinerseits als Mittel brauchte. Man kann auch die These vertreten, die innere Logik des Imperialismus habe schon das Kaiserreich in jene Richtung gedrängt, in der Hitler dann hemmungslos voranschritt. Aber wohl bei jedem der Verschwörer des 20. Juli geschah der radikale Bruch mit Hitler nicht an der Frage nach der Zweckmäßigkeit der Mittel oder des Maßes der Ziele, sondern an der Stelle der Moral. Dies wird vielleicht am deutlichsten an der Tatsache, dass der unbedingte Entschluss zum Attentat erst in dem Augenblick gefasst wurde, in dem gewiss war, dass es am politischen Schicksal des Reiches kaum mehr etwas ändern konnte.
Verfolgen wir am Ende den Weg zu diesem Entschluss! Die parlamentarische Demokratie war 1933 wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Sozialdemokraten und Kommunisten waren in die Illegalität und damit in die Erfolglosigkeit gedrängt. In den Kirchen gab es teilweise erfolgreichen Widerstand gegen Eingriffe in ihre innere Struktur, aber wenig Widerstand gegen Hitlers Politik selbst, und dieser Widerstand prägte sich bekennerisch und eben darum nicht konspirativ aus. Als Dietrich Bonhoeffer in den Kreis der Verschwörer eingetreten war, verwandelten sich ihm alle Werturteile darüber, was man sagen oder nicht sagen sollte, und er wurde manchen seiner Freunde aus der Bekennenden Kirche unverständlich. In der Tat war der Entschluss zum Staatsstreich und Attentat für die Menschen überlieferter Prägung ein schweres moralisches Problem. Die tiefe moralische Erschütterung über die Komplizenschaft im Verbrechen, in die das Regime jeden zu verwickeln trachtete, war nötig, um die Skrupel wegen Diensteid und Tyrannenmord bei einigen von ihnen zu überwinden. Das tiefste Problem sprach wohl Werner von Trott aus, der nicht wie sein Bruder Adam an der Verschwörung teilnahm. Er, ein mir bis zu diesem Moment Unbekannter, trat 1940 in mein Zimmer und sagte in einem seiner ersten Sätze: „Sie stimmen sicher mit mir überein, dass nur eine unbeschönigte totale Niederlage unser Volk moralisch aus seiner Selbstbelügung retten kann.“
Der Verschwörerkreis, der sich allmählich bildete, dachte nicht so und konnte nicht so denken. Er fühlte sich verpflichtet, praktikable nächste Schritte nach der politischen Elimination Hitlers vorweg zu planen. Das war ein Gebot überlieferten politischen Verstandes. Es war aber wohl zugleich der Grund dafür, dass es zu diesem rechtzeitigen Staatsstreich nicht kam. Freilich kamen auf eine fast unbegreifliche Weise Zufälle dazwischen, so im aussichtsreichsten Augenblick 1938 die Münchener Konferenz, oder dann im Krieg bei den Attentatsversuchen Schlabrendorffs und Bussches technisches Versagen und Luftangriffe. Es kam nicht dazu, dass einmal einer der Verschworenen Hitler in die Augen gesehen und ihn niedergeschossen hätte. Die unbedingte Entschlossenheit, mit der Stauffenberg schließlich handelte, beruhte auf dem Gedanken, jetzt gehe es nicht mehr darum, den günstigsten Augenblick zu finden, sondern darum, zu beweisen, dass es hier Menschen gegeben hat, die bereit waren, das Böse auch mit Opferung ihres Lebens zu bekämpfen. Die feudale Führungsschicht war durch Hitler diskreditiert und damit politisch endgültig überwunden; moralisch fand sie in diesen ihren Vertretern zu sich zurück.
In jener Zeit wurden viele Sonette geschrieben. Ihr literarischer Wert ist meist nicht groß, aber sie können als authentische Zeugnisse des Erlebten dienen. Es sei mir erlaubt, eines zu zitieren.
Ihr Alten, deren zögernd klugen Händen
ein Stärkerer die Zügel längst entwunden,
die dienend hofften, durch die Pflicht gebunden,
ein unaufhaltsam Unheil abzuwenden,
Ihr Jungen, die ihr in den Bränden
der Zeit des Meineids und der tausend Wunden
wohl einen Glauben und ein Ziel gefunden,
doch keinen Weg, die Schrecken zu beenden,
Zu spät wars, als Verzweiflung euch gebot,
das fast vollendete Geschick zu beugen,
mit Menschenkraft zu treffen die Dämonen.
Doch unvergesslich macht euch euer Tod.
Gemartert und verleumdet bliebt ihr Zeugen.
Nun tragt auch ihr die kostbarste der Kronen.
Die kostbarste Krone ist die Märtyrerkrone. Es steht uns objektiv nicht zu, sie unseren im Verfolg eines Staatsstreichs gefallenen Freunden zuzusprechen. Aber uns ist erlaubt, so zu empfinden.