Ihr Wirken und Streben ist uns immerwährende Verpflichtung.
Karl Wilhelm Berkhan
Ihr Wirken und Streben ist uns immerwährende Verpflichtung.
Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs Karl Wilhelm Berkhan am 20. Juli 1974 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
30 Jahre trennen uns heute von den dramatischen Ereignissen des 20. Juli 1944, des letzten Versuches in fast aussichtsloser militärischer und politischer Lage zur Befreiung unseres Landes von einem tyrannischen Diktator. Der zeitliche Abstand und die runde Jahreszahl legen es nahe, Bilanz zu ziehen. Dabei will ich kritische Fragestellungen nicht scheuen: War es sinnvoll, diesen Tag in unserem Staate zu einem Gedenktag zu machen und in Vereinigungen, Schulen und auch in der Bundeswehr an den deutschen Widerstand zu erinnern? Was ist als Fazit unserer Bemühungen herausgekommen? Was ist geblieben vom Geist des Widerstandes und was bleibt für die Zukunft?
Ganz offen: Froh bin ich, dass aus dem Gedenktag 20. Juli kein Staatsfeiertag geworden ist. Das Schicksal des 17. Juni macht nachdenklich und zugleich dankbar, dass dem 20. Juli ein vergleichbares Los erspart geblieben ist. Ich denke, der 20. Juli blieb dadurch auch in unserem Bewusstsein lebendiger, und er besitzt als Gedenktag – im Gegensatz zum 17. Juni – seine eigene Geschichte.
Die Betrachtungsweise der Hauptfragen des Widerstandes gegen den Diktator und sein verbrecherisches System wechselte in diesen drei Jahrzehnten häufiger, und es lohnt sich, diese Entwicklung noch einmal grob nachzuzeichnen. Die Bundeswehr hatte einen großen Anteil an der Entwicklung. Sie war betroffen, weil in ihr viele Männer dienen bzw. dienten, die als Soldaten am 20. Juli 1944 bereits in der Wehrmacht dienten. Sie mussten sich in der Folge der Ereignisse entscheiden und haben sich so oder so entschieden. Die geistige Auseinandersetzung mit den Vorgängen des 20. Juli 1944 war in der Mitte der 50er Jahre schon aus formalen Gründen eine Pflicht für die jungen Offiziere, die in die neu geschaffene Bundeswehr eintraten. Ich will nicht verhehlen, es ist sicher hierbei auch zu vielen Lippenbekenntnissen gekommen, möchte aber gleichfalls feststellen, dass die jungen Soldaten, insbesondere die Leutnants in den Jahren 1957 und danach, dafür sorgten, dass über diese Vorgänge eine fruchtbare Diskussion in der Bundeswehr mit den älteren, kriegserfahrenen Offizieren geführt wurde. Idealismus, Theorie, moralischer Anspruch prallten auf Lebenserfahrung, schmerzhaftes Erkennen der eigenen Unzulänglichkeit, aber auch auf Unbelehrbarkeit und Uneinsichtigkeit. Ich erinnere an die in jenen Jahren besonders umstrittenen Fragen zur Verbindlichkeit des Eides, an die Frage der moralischen Verpflichtung zum Widerstand und die Berechtigung zum Töten des Tyrannen.
Was aber ist von dieser häufig so leidenschaftlich umstrittenen Beurteilung und Bewertung des deutschen Widerstandes geblieben? Es ermutigt mich, wenn ich in einer militärischen Fachzeitschrift in diesen Tagen lese, wie sich ein junger Hauptmann – ohne von irgendjemand dazu aufgefordert worden zu sein – gegen eine gewisse Lethargie und gegen all jene engagiert, die meinen, es sei genug der Diskussion. Die Bundeswehr hat – und ich glaube feststellen zu können, stets offenen Herzens und ehrlichen Geistes – die Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 20. Juli in besonderem Maße betrieben und dies sicher nicht nur, weil es so befohlen war. Ich glaube, unsere Offiziere, Unteroffiziere und hoffentlich auch die einfachen Soldaten spüren, dass sie als Träger der bewaffneten Macht in der Gesellschaft eine besondere Verpflichtung zur Wachsamkeit im Staate und damit eine ganz besondere Beziehung zum deutschen Widerstand haben.
Man kann feststellen, dass auch die Bundeswehr, genau wie andere, in den ersten Jahren der Nachkriegszeit zu sehr fixiert war auf die ausschließliche Betrachtung der Ereignisse des 20. Juli 1944. Der deutsche Widerstand gegen Hitler war jedoch breiter und komplexer angelegt, als wir es zunächst gesehen haben. Es war in Vergessenheit geraten, dass es auch in Deutschland Widerstand gegen Obrigkeiten gegeben hat seit es Obrigkeiten gibt. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss hat vor 20 Jahren in seiner lesenswerten Rede zur 10-jährigen Wiederkehr des 20. Juli hier in Berlin an die Tatsache erinnert, dass durch die Nationalsozialisten Schillers „Tell“ aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen wurde, weil Friedrich von Schiller das Recht zum Widerstand 1804 in seinem Wilhelm Tell als ein Naturrecht ansieht. Er lässt Stauffacher sagen:
„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
Und holt herunter seine ewgen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst. –“
So weit zitierte Theodor Heuss. Ich möchte die weiteren vier Zeilen heute hinzufügen:
„Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“
Mit dem zeitlichen Abstand von den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 erkennt man deutlicher, dass die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler eine beachtliche Summe von Einzel- und Gruppenaktionen gegen das totalitäre Regime darstellt, an der viele Tausende, vielleicht Zehntausende von Menschen beteiligt waren. Es muss in unsrem Bewusstsein fest verankert werden, dass es Widerstand in kirchlichen, sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen, bürgerlichen, in zivilen und militärischen Kreisen gab, auch in kommunistischen Kreisen, ich will das nicht verschweigen. Die Intensität war unterschiedlich, aus unterschiedlichen Motiven heraus wurde gehandelt, zum Teil für unterschiedliche Ziele und sicher mit unterschiedlichem Erfolg gekämpft.
Warnen möchte ich vor der einseitigen Betrachtungsweise derer, die den deutschen Widerstand ausschließlich nach seinen schriftlichen Dokumenten beurteilen und werten. Jedes dieser Dokumente war damals eine Möglichkeit zur Anklage wegen Hochverrat. Man erfasst damit schon gar nicht das Feld des passiven Widerstandes, dessen Abgrenzung sehr schwer fällt: Es reicht vom Rücktritt über die Emigration, Sabotage, politische Aktion im Untergrund bis zu Desertion und vielleicht sogar bis zum Selbstmord. Wer will den Stab brechen über gewisse Formen der Kollaboration, also die Handlungsweise derer, die im Amte blieben „um Schlimmeres zu verhüten“? Heute noch scheiden sich an der Beurteilung der radikalen, aber konsequenten Handlungsweise des Generals Oster die Geister. Aber gilt nicht hier, was Sophie Scholl dem Volksgerichtshof entgegenhielt: „Was wir geschrieben und gesagt haben, das denkt Ihr ja auch, nur fehlt Euch der Mut, es auszusprechen!”
Hat nicht die oft etwas pharisäerhafte Leugnung des Widerstandes der „Linken“ und des Nationalkomitees Freies Deutschland dazu geführt, dass uns heute der andere Teil Deutschlands diese Versäumnisse vorhält? Richtig bleibt, dass trotz der Freiheitsbewegungen von 1813 und 1848, trotz Schiller und Fichte, von der deutschen Tradition her Professoren und Bürger so wenig wie Generale ausreichend gerüstet waren für die Notwendigkeit des Widerstandes gegen Diktatur, Tyrannei und Unrecht.
Aber Gustav Heinemann – noch als Bundespräsident – hat vor einigen Wochen bei der Einweihung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt darauf hingewiesen, dass hier ein Nachholbedarf an deutscher Geschichtsschreibung besteht und festgestellt, unsere Geschichte sei gar nicht so arm an Freiheitsbewegungen, wie wir und andere es uns oftmals einreden wollten. Das Wissen hierüber sei nur verschüttet und es gelte, es wieder auszugraben und ständig im Bewusstsein zu halten. Dies gilt sinngemäß, meine ich, auch für den Widerstand gegen Hitler. Und es wäre falsch, hierbei eine Gruppe, aus welchen Gründen auch immer, zu vernachlässigen.
Eine unserer Aufgaben ist es, der Jugend, die kein Drittes Reich, keine Diktatur, keinen Krieg und keine Not mehr aus eigenem Erleben kennt, die Verpflichtung zum Handeln gegen Ungerechtigkeit, Willkür und Diktatur deutlich zu machen. Und welche Tradition wäre hierzu geeigneter als die des deutschen Widerstandes gegen den Diktator Hitler.
Angesichts der Tatsache, dass die zwei Jahrzehnte zwischen 1930 und 1950 für den jungen Staatsbürger eine unbekannte Welt sind, bedarf es besonderer Anstrengungen, ihnen die Bedeutung des Handelns von Männern wie Graf Stauffenberg, von Tresckow, Pater Delp, Dietrich Bonhoeffer, Julius Leber und anderer deutlich zu machen. Die religiösen und moralischen Skrupel von damals gegenüber dem Tyrannenmord können heute nur wenige überzeugen, trotzdem: Sie verdienen unseren Respekt. Auch das bloße Theoretisieren, Verfassen von Studien und Druckschriften ohne den Durchbruch zur entscheidenden Tat, zum aktiven Handeln gegen den Unrechtsstaat eignet sich wenig als Beispiel für die Generation von heute. Sie ist ungeduldiger, kategorisch in ihren Forderungen und radikal in ihren Urteilen. Aber vielleicht sind deshalb Männer des entschlossenen Handelns wie zum Beispiel Stauffenberg und viele andere für sie ein Entrée zum Verständnis des deutschen Widerstandes. An der Radikalität und Konsequenz des Generals Oster werden sich auch künftig die Geister scheiden. Es ist aber möglich, dass sie sich daran künftig zu entscheiden haben.
Ich möchte es nicht so zugespitzt formulieren, wie es Klaus Harpprecht in einem Essay tat. Er sagt: „Wer Widerstand sagt, der muss auch Oster sagen.“ Ich meine, vorbeimogeln an diesem Komplex kann sich heute keiner mehr.
Neu zu entdecken und nahe zu bringen sind meines Erachtens unseren jungen Mitbürgern und Soldaten die Flugblätter der „Weißen Rose“. Sie scheinen mir in ihrem moralischen Rigorismus, in Sprache und Argumentation der geistigen Welt der heutigen Generation nahe zu stehen. Ihre Aufrufe gehen unter die Haut und manchmal fragt man sich selbst beschämt, warum sie so wenig gehört und so selten befolgt wurden. Es heißt in ihnen deutlich: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique regieren zu lassen. Ist es nicht so, daß sich jeder ehrliche Deutsche heute seiner Regierung schämt, und wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist und die grauenvollsten und jegliches Maß unendlich überschreitenden Verbrechen ans Tageslicht treten? ... Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein. Daher muß jeder Einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand – Widerstand, wo immer ihr auch seid... Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!“
Lassen Sie daher uns, die wir Verantwortung tragen, wachsam sein, dass das große Opfer der Frauen und Männer des Widerstandes nicht vergessen wird, sondern lebendig bleibt. Diese Menschen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Ihr Handeln muss Tradition der Bundeswehr sein, nicht als alltägliches Lehrbeispiel, sondern als Modellfall für Patriotismus in einer Umwelt politischen Verbrechertums. Ihr Wirken und Streben ist uns immerwährende Verpflichtung, dass sich das Wort von Pater Alfred Delp, geschrieben im Gefängnis, erfülle: „Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen als wir gestorben sind!“
Ihr Wirken und Streben ist uns immerwährende Verpflichtung.
Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs Karl Wilhelm Berkhan am 20. Juli 1974 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
30 Jahre trennen uns heute von den dramatischen Ereignissen des 20. Juli 1944, des letzten Versuches in fast aussichtsloser militärischer und politischer Lage zur Befreiung unseres Landes von einem tyrannischen Diktator. Der zeitliche Abstand und die runde Jahreszahl legen es nahe, Bilanz zu ziehen. Dabei will ich kritische Fragestellungen nicht scheuen: War es sinnvoll, diesen Tag in unserem Staate zu einem Gedenktag zu machen und in Vereinigungen, Schulen und auch in der Bundeswehr an den deutschen Widerstand zu erinnern? Was ist als Fazit unserer Bemühungen herausgekommen? Was ist geblieben vom Geist des Widerstandes und was bleibt für die Zukunft?
Ganz offen: Froh bin ich, dass aus dem Gedenktag 20. Juli kein Staatsfeiertag geworden ist. Das Schicksal des 17. Juni macht nachdenklich und zugleich dankbar, dass dem 20. Juli ein vergleichbares Los erspart geblieben ist. Ich denke, der 20. Juli blieb dadurch auch in unserem Bewusstsein lebendiger, und er besitzt als Gedenktag – im Gegensatz zum 17. Juni – seine eigene Geschichte.
Die Betrachtungsweise der Hauptfragen des Widerstandes gegen den Diktator und sein verbrecherisches System wechselte in diesen drei Jahrzehnten häufiger, und es lohnt sich, diese Entwicklung noch einmal grob nachzuzeichnen. Die Bundeswehr hatte einen großen Anteil an der Entwicklung. Sie war betroffen, weil in ihr viele Männer dienen bzw. dienten, die als Soldaten am 20. Juli 1944 bereits in der Wehrmacht dienten. Sie mussten sich in der Folge der Ereignisse entscheiden und haben sich so oder so entschieden. Die geistige Auseinandersetzung mit den Vorgängen des 20. Juli 1944 war in der Mitte der 50er Jahre schon aus formalen Gründen eine Pflicht für die jungen Offiziere, die in die neu geschaffene Bundeswehr eintraten. Ich will nicht verhehlen, es ist sicher hierbei auch zu vielen Lippenbekenntnissen gekommen, möchte aber gleichfalls feststellen, dass die jungen Soldaten, insbesondere die Leutnants in den Jahren 1957 und danach, dafür sorgten, dass über diese Vorgänge eine fruchtbare Diskussion in der Bundeswehr mit den älteren, kriegserfahrenen Offizieren geführt wurde. Idealismus, Theorie, moralischer Anspruch prallten auf Lebenserfahrung, schmerzhaftes Erkennen der eigenen Unzulänglichkeit, aber auch auf Unbelehrbarkeit und Uneinsichtigkeit. Ich erinnere an die in jenen Jahren besonders umstrittenen Fragen zur Verbindlichkeit des Eides, an die Frage der moralischen Verpflichtung zum Widerstand und die Berechtigung zum Töten des Tyrannen.
Was aber ist von dieser häufig so leidenschaftlich umstrittenen Beurteilung und Bewertung des deutschen Widerstandes geblieben? Es ermutigt mich, wenn ich in einer militärischen Fachzeitschrift in diesen Tagen lese, wie sich ein junger Hauptmann – ohne von irgendjemand dazu aufgefordert worden zu sein – gegen eine gewisse Lethargie und gegen all jene engagiert, die meinen, es sei genug der Diskussion. Die Bundeswehr hat – und ich glaube feststellen zu können, stets offenen Herzens und ehrlichen Geistes – die Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 20. Juli in besonderem Maße betrieben und dies sicher nicht nur, weil es so befohlen war. Ich glaube, unsere Offiziere, Unteroffiziere und hoffentlich auch die einfachen Soldaten spüren, dass sie als Träger der bewaffneten Macht in der Gesellschaft eine besondere Verpflichtung zur Wachsamkeit im Staate und damit eine ganz besondere Beziehung zum deutschen Widerstand haben.
Man kann feststellen, dass auch die Bundeswehr, genau wie andere, in den ersten Jahren der Nachkriegszeit zu sehr fixiert war auf die ausschließliche Betrachtung der Ereignisse des 20. Juli 1944. Der deutsche Widerstand gegen Hitler war jedoch breiter und komplexer angelegt, als wir es zunächst gesehen haben. Es war in Vergessenheit geraten, dass es auch in Deutschland Widerstand gegen Obrigkeiten gegeben hat seit es Obrigkeiten gibt. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss hat vor 20 Jahren in seiner lesenswerten Rede zur 10-jährigen Wiederkehr des 20. Juli hier in Berlin an die Tatsache erinnert, dass durch die Nationalsozialisten Schillers „Tell“ aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen wurde, weil Friedrich von Schiller das Recht zum Widerstand 1804 in seinem Wilhelm Tell als ein Naturrecht ansieht. Er lässt Stauffacher sagen:
„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
Und holt herunter seine ewgen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst. –“
So weit zitierte Theodor Heuss. Ich möchte die weiteren vier Zeilen heute hinzufügen:
„Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“
Mit dem zeitlichen Abstand von den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 erkennt man deutlicher, dass die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler eine beachtliche Summe von Einzel- und Gruppenaktionen gegen das totalitäre Regime darstellt, an der viele Tausende, vielleicht Zehntausende von Menschen beteiligt waren. Es muss in unsrem Bewusstsein fest verankert werden, dass es Widerstand in kirchlichen, sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen, bürgerlichen, in zivilen und militärischen Kreisen gab, auch in kommunistischen Kreisen, ich will das nicht verschweigen. Die Intensität war unterschiedlich, aus unterschiedlichen Motiven heraus wurde gehandelt, zum Teil für unterschiedliche Ziele und sicher mit unterschiedlichem Erfolg gekämpft.
Warnen möchte ich vor der einseitigen Betrachtungsweise derer, die den deutschen Widerstand ausschließlich nach seinen schriftlichen Dokumenten beurteilen und werten. Jedes dieser Dokumente war damals eine Möglichkeit zur Anklage wegen Hochverrat. Man erfasst damit schon gar nicht das Feld des passiven Widerstandes, dessen Abgrenzung sehr schwer fällt: Es reicht vom Rücktritt über die Emigration, Sabotage, politische Aktion im Untergrund bis zu Desertion und vielleicht sogar bis zum Selbstmord. Wer will den Stab brechen über gewisse Formen der Kollaboration, also die Handlungsweise derer, die im Amte blieben „um Schlimmeres zu verhüten“? Heute noch scheiden sich an der Beurteilung der radikalen, aber konsequenten Handlungsweise des Generals Oster die Geister. Aber gilt nicht hier, was Sophie Scholl dem Volksgerichtshof entgegenhielt: „Was wir geschrieben und gesagt haben, das denkt Ihr ja auch, nur fehlt Euch der Mut, es auszusprechen!”
Hat nicht die oft etwas pharisäerhafte Leugnung des Widerstandes der „Linken“ und des Nationalkomitees Freies Deutschland dazu geführt, dass uns heute der andere Teil Deutschlands diese Versäumnisse vorhält? Richtig bleibt, dass trotz der Freiheitsbewegungen von 1813 und 1848, trotz Schiller und Fichte, von der deutschen Tradition her Professoren und Bürger so wenig wie Generale ausreichend gerüstet waren für die Notwendigkeit des Widerstandes gegen Diktatur, Tyrannei und Unrecht.
Aber Gustav Heinemann – noch als Bundespräsident – hat vor einigen Wochen bei der Einweihung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt darauf hingewiesen, dass hier ein Nachholbedarf an deutscher Geschichtsschreibung besteht und festgestellt, unsere Geschichte sei gar nicht so arm an Freiheitsbewegungen, wie wir und andere es uns oftmals einreden wollten. Das Wissen hierüber sei nur verschüttet und es gelte, es wieder auszugraben und ständig im Bewusstsein zu halten. Dies gilt sinngemäß, meine ich, auch für den Widerstand gegen Hitler. Und es wäre falsch, hierbei eine Gruppe, aus welchen Gründen auch immer, zu vernachlässigen.
Eine unserer Aufgaben ist es, der Jugend, die kein Drittes Reich, keine Diktatur, keinen Krieg und keine Not mehr aus eigenem Erleben kennt, die Verpflichtung zum Handeln gegen Ungerechtigkeit, Willkür und Diktatur deutlich zu machen. Und welche Tradition wäre hierzu geeigneter als die des deutschen Widerstandes gegen den Diktator Hitler.
Angesichts der Tatsache, dass die zwei Jahrzehnte zwischen 1930 und 1950 für den jungen Staatsbürger eine unbekannte Welt sind, bedarf es besonderer Anstrengungen, ihnen die Bedeutung des Handelns von Männern wie Graf Stauffenberg, von Tresckow, Pater Delp, Dietrich Bonhoeffer, Julius Leber und anderer deutlich zu machen. Die religiösen und moralischen Skrupel von damals gegenüber dem Tyrannenmord können heute nur wenige überzeugen, trotzdem: Sie verdienen unseren Respekt. Auch das bloße Theoretisieren, Verfassen von Studien und Druckschriften ohne den Durchbruch zur entscheidenden Tat, zum aktiven Handeln gegen den Unrechtsstaat eignet sich wenig als Beispiel für die Generation von heute. Sie ist ungeduldiger, kategorisch in ihren Forderungen und radikal in ihren Urteilen. Aber vielleicht sind deshalb Männer des entschlossenen Handelns wie zum Beispiel Stauffenberg und viele andere für sie ein Entrée zum Verständnis des deutschen Widerstandes. An der Radikalität und Konsequenz des Generals Oster werden sich auch künftig die Geister scheiden. Es ist aber möglich, dass sie sich daran künftig zu entscheiden haben.
Ich möchte es nicht so zugespitzt formulieren, wie es Klaus Harpprecht in einem Essay tat. Er sagt: „Wer Widerstand sagt, der muss auch Oster sagen.“ Ich meine, vorbeimogeln an diesem Komplex kann sich heute keiner mehr.
Neu zu entdecken und nahe zu bringen sind meines Erachtens unseren jungen Mitbürgern und Soldaten die Flugblätter der „Weißen Rose“. Sie scheinen mir in ihrem moralischen Rigorismus, in Sprache und Argumentation der geistigen Welt der heutigen Generation nahe zu stehen. Ihre Aufrufe gehen unter die Haut und manchmal fragt man sich selbst beschämt, warum sie so wenig gehört und so selten befolgt wurden. Es heißt in ihnen deutlich: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique regieren zu lassen. Ist es nicht so, daß sich jeder ehrliche Deutsche heute seiner Regierung schämt, und wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist und die grauenvollsten und jegliches Maß unendlich überschreitenden Verbrechen ans Tageslicht treten? ... Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein. Daher muß jeder Einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand – Widerstand, wo immer ihr auch seid... Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!“
Lassen Sie daher uns, die wir Verantwortung tragen, wachsam sein, dass das große Opfer der Frauen und Männer des Widerstandes nicht vergessen wird, sondern lebendig bleibt. Diese Menschen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Ihr Handeln muss Tradition der Bundeswehr sein, nicht als alltägliches Lehrbeispiel, sondern als Modellfall für Patriotismus in einer Umwelt politischen Verbrechertums. Ihr Wirken und Streben ist uns immerwährende Verpflichtung, dass sich das Wort von Pater Alfred Delp, geschrieben im Gefängnis, erfülle: „Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen als wir gestorben sind!“