"Das Unvollendete will mehr als Erinnerer und Bewahrer, es will Fortsetzer."

Karl Meyer

„Das Unvollendete will mehr als Erinnerer und Bewahrer, es will Fortsetzer.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1986 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: Kol.l, 24-28 (Lesung des Sonntags)

Brüder!

Ich freue mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt.

Ich diene der Kirche durch das Amt, das Gott mir übertragen hat, damit ich euch das Wort Gottes in seiner Fülle verkündige, jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war. Jetzt wurde es seinen Heiligen offenbart; Gott wollte ihnen zeigen, wie reich und herrlich dieses Geheimnis unter den Völkern ist: Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit. Ihn verkündigen wir; wir ermahnen jeden Menschen und belehren jeden mit aller Weisheit, um dadurch alle in der Gemeinschaft mit Christus vollkommen zu machen.

Diese Stunde des Gedenkens an verehrte und liebe Menschen, die gelitten haben, ist eine Stunde, in der Ohren und Herz dem Trost des Wortes Gottes aufgeschlossen sind. Dieser Ort des Leidens und des Todes ist ein Ort, an dem man das Wort des Apostels Paulus, das er angesichts des Todes aus dem Gefängnis geschrieben hat, besonders aufmerksam hören kann.

Paulus sitzt im Gefängnis und erwartet seinen Tod. Was bewegt sein Herz, worum kreist sein Denken?

„Christus ist unter euch, ER ist die Hoffnung auf Herrlichkeit.“ Diese Tatsache war bis dahin unbekannt, sagt Paulus, war ein Geheimnis, das jetzt jeder, der glaubt, kennen kann. Das ist ein herrliches, tiefes und reiches Geheimnis.

Warum ist „Christus unter euch“ ein so großer Schatz, der Paulus sogar in der Armut der Gefängniszelle vor Augen steht? Weil Jesus den Menschen Gott nahe gebracht hat. „Gott ist jetzt für alle Menschen da!“ ist seine Botschaft. Jesus hat Gott als Vater, der ihn unabwendbar liebt, angesprochen, er hat ihm geglaubt, dass er die Welt heilen und vollenden will, und sich deswegen in Gottes Namen und Kraft der Kranken und Notleidenden angenommen. Weil er Gott als den guten Vater aller sah, hat er alle Menschen als seine Brüder und Schwestern angenommen.

Jesus ist dafür gestorben. Aber er ist wieder auferstanden und lebt. Die Botschaft „Wir sind alle Brüder und Schwestern unter Gott dem Vater“ erweist sich deswegen als eine Realität, ein Reichtum für die Menschen, eine wunderbare Perspektive, die das Leben hier und selbst die Zukunft nach dem Tode umgreift. Jesus ist das lebendige Haupt einer großen Gemeinschaft, die die ganze Menschheit umfassen soll. In diese Realität ist Paulus seit Damaskus eingetreten. Er hat dafür die Grenzen des jüdischen Volkes gesprengt und die Gemeinde Jesu durch die Kraft des Geistes in anderen Völkern eingewurzelt. Er selbst hat darin den Schlüssel für sein Leben, seine Erfüllung gefunden. Christus ist eine Kraft, die machtvoll in ihm wirkt. Das bleibt für ihn bestimmend.

Aber nun seine Gefangenschaft, die Bedrohung seines Lebens? Er leidet darunter. Aber er nimmt das Leiden an. Wenn er Gott als seinen und aller Menschen Vater verkündet und die entsprechende Brüderlichkeit fordert, gehört Leiden einfach dazu. Diese Botschaft stürzt nämlich so viele Vorurteile um, sie greift den vielgestaltigen Egoismus der Menschen so an und ruft so viele Widerstände hervor, dass sein diesseitiges Leben daran aufgezehrt wird, dass ihm das Recht auf Leben abgesprochen wird. Er ist in die lebendige und beglückende Gemeinschaft Jesu eingetreten, aber auch in sein Schicksal. Das bedeutet, solange er in dieser Welt lebt, auch Leiden.

Er geht aber nicht im Leiden unter. Der Wert der Sache Jesu ist viel größer: Was für eine gute, neue Welt wird entstehen, wenn viele Menschen in Christus eingegliedert werden und seine Lebensweise nachahmen! Das gibt ihm Freude selbst im Leiden. Und es gibt ihm einen ungebrochenen Elan: „Wir ermahnen jeden Menschen, und wir belehren jeden Menschen, damit jeder Mensch als in Christus vollkommen dargestellt wird. Darum mühe ich mich, und darum ringe ich“, schreibt er an die Christen in Kolossae.

Paulus macht nicht nur schöne Worte, er will etwas damit erreichen. Er möchte, dass die, die seinen Brief lesen, sagen: Ja, in Jesus Christus ist Gott mir nahe, in ihm ist wirklich entfaltetes menschliches Leben angeboten, ich glaube daran und stelle mich darauf ein – auch wenn es Leiden bedeutet.

Paulus selbst hat gern ergänzt, was in dieser Welt für seine Person an den Mühen und Leiden des universalen Christus fehlt. Aber auch mit dem Leiden des Paulus ist nicht alles getan. Jeder hat seinen Teil zu leisten. Denn wahre Menschlichkeit hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Unvollendet ist Gottes Heilswerk in Jesus Christus. „Das Unvollendete (aber) will mehr als Bewahrer, mehr als Erinnerer, es will Aufnehmende, es will Gehorsame, es will Fortsetzer.“ – so hat Albrecht Goes einmal zu diesem Anlass gesagt. (Der 20. Juli 1944, Reden zu einem Tag der deutschen Geschichte, Informationszentrum Berlin, S. 65).

Viele haben im Laufe der Geschichte auf Pauli Ruf geantwortet, in verschiedener Weise, je nach dem Maß ihrer Einsicht und ihrer Möglichkeiten. Die Frauen und Männer des Widerstandes gegen Adolf Hitler und den Nationalsozialismus gehören dazu. Sie haben den Wert begriffen, den Freiheit und Gerechtigkeit für die Menschen bedeuten, Unrecht und Lüge verabscheut, die Tat gewollt – und das Leiden akzeptiert. Julius Leber hat dem Ausdruck verliehen, wenn er sagt: „Für eine so gute und gerechte Sache ist das Opfer des Lebens der gerechte Preis“ (Der 20. Juli 1944, S. 67). Diejenigen, denen es von Gott gegeben war, haben in der Wertschätzung des Guten, in der Entschiedenheit zur Tat und in der Heiterkeit, die sie im Leiden bewahren konnten, die Kraft und die Nähe Jesu Christi erfahren. Sie haben es uns bezeugt, und dafür sind wir hier vor Gott dankbar.

Damit sind wir aber auch schon bei uns.

Auch wir sollen durch das Wort des Paulus zum freudigen Einsatz für Christus und sein Reich eingeladen werden. Auch die späteren Zeugen und ihre Worte fordern uns dazu auf. Sprechen uns aber ihre Schicksale, mehr noch ihre Persönlichkeit in ihrem Denken, Handeln und Erleiden an, oder gehen sie spurlos an uns vorüber?

Das sind Fragen an alle, die heute leben und sich noch nicht entscheiden mussten. Heinrich Böll hat beklagt, dass gerade die Jahrgänge, die im Dritten Reich zu jung waren, um sich entscheiden zu können, sich heute ohne Entschiedenheit zu wirklichen Werten verhalten und sich nicht dafür einsetzen. Hat er vielleicht sogar Recht mit seinem Urteil? Glauben Menschen dieser Generation, zu der ich auch selber gehöre, nicht bisweilen zu leicht, sich die Zeitgenossenschaft mit dem Widerstand zugute halten zu können, so als wären wir von Natur aus rechtdenkend und hätten uns gewiss recht entschieden, wenn wir gefordert worden wären, und meinen wir nicht zu leicht, durch die andersartigen Leiden dieser Zeit wie Bombenterror, Vertreibung und Hunger ihr Maß an Not bereits ausreichend abgegolten zu haben? Wir sind in eine freie Gesellschaft hineingewachsen und ernten zu selbstverständlich die vielfältigen Früchte der Demokratie. Die Leiden der Eltern, die diesen Raum erstritten haben, können wir uns jedoch nicht als unseren Ausweis zugute halten, selbst dann, wenn wir in das Leiden hineingezogen wurden. Denn es geht immer um das ganze Leben bis zum heutigen Tag.

„Das Unvollendete will mehr als Erinnerer und Bewahrer, es will Fortsetzer.“ So ist die Frage: Haben wir Sinn dafür, was „die gute und gerechte Sache“ heute bedeutet? Gewiss wird die Gesellschaft immer komplizierter, und der richtige Weg ist schwer zu finden, aber gerade deswegen ist der Geschmack für das Gute nötig – und der entsteht aus vielen rechten Einzelentscheidungen, und seien sie noch so klein. So scheint mir – als ein Beispiel unter vielen:

Nur der Unternehmer, der in vielen Einzelentscheidungen den Mitarbeiter höher stellt als den wirtschaftlichen Augenblickserfolg, der auch vertretbare Nachteile dafür in Kauf nimmt, kann gerecht und gut über eine angemessene Betriebsverfassung urteilen. Entsprechendes gilt für alle anderen Berufsstände.

Wir beklagen, dass die jungen Leute zwar beunruhigt sind über die gefährlichen Entwicklungen der Welt, dass sie aber wenig Kraft zu konsistentem Handeln und dauerhaften Entscheidungen aufbringen. Große Worte erweisen sich als nur auswendig gelernt und nicht im Herzen verankert.

Wenn dem so ist, liegt es nicht weit gehend daran, dass sie große Worte wie Gerechtigkeit und Treue bei den Älteren zu wenig als in Einzelentscheidungen ausgelegte Grundwerte erlebt haben, dass diese vielmehr zu wohlfeilen Worthülsen verkommen sind, die man getrost belächeln darf? An dieser Stelle muss man sagen: Die Lebensentscheidungen der Zeugen des Widerstandes, aus der die einzelne Tat hervorging, suchen bei uns Gehorsame und Fortsetzer.

Und wie steht es mit uns Christen?

Beflügelt uns „die Hoffnung auf Herrlichkeit“ noch, und lässt sie uns zu neuen Ufern aufbrechen, wo wir mit Jesus Mittel, Zeit und Leben mit Menschen teilen, die dessen bedürfen, begeistert uns das Wort „Christus ist unter euch“ noch? Das Christentum erscheint in Europa alt und gewöhnlich. Aber „nur in wahrhaft geistlichen Menschen ereignet es sich, dass das Christentum noch den Wert der Neuheit hat“ (20. Juli 1944, S. 1486) und das Leben prägt. Viel ist von uns Christen in der Öffentlichkeit einzubringen. Der Grundwasserspiegel der Liebe zum Leben muss dringend angehoben werden. Es braucht entsprechende menschenfreundliche ‚politische’ Entscheidungen im Kleinen wie im Großen, von den tagtäglichen Entscheidungen in der Familie, im Häuserblock und auf der Straße bis zu den großen Entscheidungen um Frieden und Abrüstung. Dafür sind geistliche Menschen notwendig, Menschen mit Geschmack für Gott und sein Leben. Solche Menschen werden wir aber nur, wenn wir uns auf Jesus und Seine Botschaft geduldig und still einlassen, um so zu den Quellen des Lebens vorzudringen. Das aber erfordert Zeit und damit den Mut, in unserem Lebensablauf Prioritäten zu setzen und anders zu sein, als die öffentliche Meinung es uns vorschreiben möchte. Gott gebe uns dazu die rechte Erkenntnis und seine Kraft!

Amen.







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20.07.1986
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