"Ihr seid das Salz der Erde."

Wolfgang H. Neumann

„Ihr seid das Salz der Erde.“

Predigt von Pfarrer Wolfgang H. Neumann am 20. Juli 1986 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Matth. 5, 13 – 16

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!

Das Evangelium für den heutigen Sonntag weist die Worte vom Salz der Erde und vom Licht der Welt aus. Es ist gerichtet an die Jünger Jesu, es stammt von Jesus selbst, es ist ein Teil der Bergpredigt, der Sammlung von Reden Jesu im Matthäus-Evangelium, die so inhaltsschwer, so kompromisslos und doch so verheißungsvoll ist. Ihr seid das Salz der Erde. Das ist zuallererst eine schlichte Feststellung. Ihr seid es. Doch beim näheren Nachdenken ist es auch eine Verpflichtung für die Angeredeten. Salz der Erde, Salz in der Nahrung. In Maßen, als Gewürz, ein Segen. Es macht Speisen kraftvoll, gibt ihnen Geschmack, verleiht ihnen das gewisse Etwas.

Für die Jünger ist es die Verpflichtung, anderen eine richtungsweisende Kraft zu sein, die sich auf Dauer als wirksam und zuverlässig erweist. Salz sein, das berührt die Christen als kleine Gruppe, als Minderheit, die beargwöhnt und gehindert, schließlich verfolgt und bekämpft wird. Ihnen wird eine Verpflichtung aufgebürdet – sind sie damit sogleich auch etwas Besonderes? Ich denke, die Feststellung „ihr seid das irdische Salz“ ist keine Aufforderung oder Rechtfertigung für ein elitäres Bewusstsein oder gar zur elitären Absonderung. Es bedeutet ja auch: Ihr seid das Salz für die Erde, die Erde ist eure Aufgabe, sie soll euch angelegen sein. Dass Jünger Jesu nicht in den eingetretenen Pfaden, auf den breiten Boulevards einhergehen, macht sie noch nicht zu etwas Besonderem oder gar Besserem. Sicher aber bedeutet die Kraft des Salzes auch die Kraft, Zeichen zu setzen, manchmal auch Zeichen gegen diese vorgefertigten, vorgeschriebenen Wege zu setzen. Wer diese Aufgabe für sich annimmt, muss gegenwärtig sein, dass er einsam dasteht, dass es selbstverständliche Achtung und Anerkennung so nicht mehr gibt.

Die Männer und Frauen, an die wir uns heute im Besonderen erinnern, sind Menschen gewesen, die den schmalen, oft einsamen Weg gegangen sind. Eben nicht, um sich hervorzuheben und eine Elite zu sein, sondern weil sie es als ihre ganz schlichte menschliche oder Christenpflicht angesehen haben. Salz der Erde, die Kraft die besonders auffallend wirkt im Angesicht der verordneten Gleichmachung von geistiger Kost und geistigem Geschmack. Die Frauen und Männer des Widerstands haben ihr Zeugnis abgelegt in ihrer Zeit unter den damaligen Umständen eines Regimes von Unrecht und Terror. Da die Kraft aufzubringen hieß, auch den äußersten Einsatz zu wagen und oft auch zu verlieren: den des eigenen Lebens. Wir, die Überlebenden und die Nachgeborenen, leben unter anderen, unter demokratischen Vorzeichen. Uns sind Freiheiten verbrieft und Rechte zugestanden. Rechte, auf die wir uns berufen können, die wir sogar einklagen können. Es lohnt sich, für diese Rechte einzustehen und sie zu verteidigen. Doch auch unter unseren Voraussetzungen bedürfen wir Menschen, die ihre Kraft, ihren Mut einbringen, den Finger auf wunde Stellen zu legen. Jedes Einvernehmen, jeder Konsens muss stets von neuem darauf befragt werden dürfen, wie weit er noch gilt, wie weit ein Volk oder eine Gesellschaft aus vollem Herzen dahinter stehen. Nicht jeder, der fragt oder in Frage stellt, will auflösen oder zerstören. Fragen sollen eigentlich der Klärung dienen. Salz für die Erde sein kann auch heißen: sich selbst und anderen Fragen zuzumuten. Zum Beispiel Fragen nach dem Wohin unseres technischen Fortschritts; Fragen nach den richtigen Wegen zum Frieden und zur menschlichen Würde auf der ganzen Erde. Salz der Erde zu sein, das ist die Aufgabe für Christen unter ihren jeweiligen Lebensumständen.

Licht der Welt zu sein aber, das ist nicht: sein Licht besonders hell leuchten zu lassen; im besten Licht dastehen zu wollen. Licht der Welt – das haben nicht wir angezündet, auch wenn wir oft zum Wieder-Dunkel-Werden beigetragen haben. Das Licht ist Gottes Werk. Er hat es hell werden lassen auf unserer Erde, er hat ihr Geist und Leben eingehaucht, hat ihr Ordnung und Sinn gegeben. Er hat auch nicht von ihr gelassen, wenn sich die Menschen auf die schlimmsten Irrwege begeben haben. Ja, er hat sogar das Bekenntnis zu seiner Schöpfung erneuert und hat seinen Sohn Jesus Christus zum Licht der Welt gemacht. Die Zusage Jesu, dass seine Jünger selbst das Licht der Welt sein werden, kann deshalb nur heißen: wir Menschen sind die Leuchter, denen Licht gegeben wurde, zum sinnvollen Gebrauch. Das Licht, das wir empfangen, gehört weitergegeben, wie das Licht einer Kerze in der Osternacht, das zu einem vielfachen Kerzenschein wird und so die Dunkelheit zu erhellen vermag. Wer sein Licht leuchten lässt, ist Träger der Hoffnung. Als es in Deutschland am finstersten war, haben die wenigen – bekannten wie uns unbekannten – Menschen die Hoffnung weitergetragen, die Jesu Aufgabe als ihre eigene angesehen und Jesu Zusage für sich angenommen haben.

Mit all dem aber sind sie keine Leuchten geworden, die sich über andere erhoben haben. Indem sie den schmalen, ungewissen, aber unbeirrten Weg gegangen sind, haben sie nicht sich selbst herausgestellt, sondern ihren Schöpfer und Erhalter, ihren und unser aller Vater im Himmel gepriesen.

Das Licht, das die Finsternis erhellt, selbst wenn es mit noch spärlichem Schein geschieht, ist auf uns gekommen. Es hat uns erreicht, es ruht oder wirkt in unseren Händen. Vorsichtig, behutsam müssen wir es bewahren, aber wir müssen mit ihm umgehen, müssen es für andere leuchten lassen und dürfen es nicht sinnlos und unbemerkt abbrennen. Mit diesem Licht trauen wir Gott zu, dass er für unser Leben eine Richtung und eine Zukunft bereithält. Darauf dürfen wir uns einlassen.

Amen.







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