Das wertvolle Erbe von Generation zu Generation weitergeben

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harald Wolf

Das wertvolle Erbe von Generation zu Generation weitergeben

Ansprache des Berliner Bürgermeisters Harald Wolf am 19. Juli 2008 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

im Namen des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit heiße ich Sie herzlich willkommen im Roten Rathaus.

Ich freue mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Viele von Ihnen kennen sich seit Jahrzehnten. Sie teilen Lebenserfahrungen aktiver Mitglieder des deutschen Widerstandes und ihrer Familienangehörigen. Es eint Sie die Erinnerung an Frauen und Männer, die ihr Leben für ein anderes, für ein besseres Deutschland gegeben haben. Und es eint Sie die Entschlossenheit, dieses wertvolle Erbe von Generation zu Generation weiterzugeben.

Wir möchten Ihnen für all das danken, was Sie für das ehrende Gedenken des Widerstands getan haben und für die vielen Impulse, die Sie unserem Land gegeben haben. Uns ist dieses Treffen wichtig, weil uns bewusst ist, was wir den Frauen und Männern des Widerstandes zu verdanken haben. Daran zu erinnern, ist gerade auch für unsere heutige demokratische Gesellschaft wichtig.

Der 20. Juli ist ein besonderer Gedenktag. Wir erinnern uns des heldenhaften Widerstandes gegen Hitler und wir versichern uns dabei auch unserer freiheitlich-demokratischen und europäischen Wurzeln. Wir zeigen damit, das der 20. Juli keine Episode war, kein gescheiterter Putsch rückwärtsgewandter Wehrmachtsoffiziere. Sondern ein "Aufstand des Gewissens", mit dem ein neues, ein anderes Deutschland sein Gesicht zeigte.

Dieses andere Deutschland spricht eindringlich aus den schriftlichen Zeugnissen der tapferen Männer und Frauen des 20. Juli. Besonders erschütternd sind jene inneren Klärungsprozesse, die dem bedingungslosen Willen zum Attentat auf Hitler vorausgingen.

Fast aphoristisch umschreibt dies eine Gesprächsnotiz, die Hauptmann Stahlberg, der Adjutant von Generalfeldmarschall von Manstein, im Juni 1944 angefertigt hat.

"Ich fragte Henning von Tresckow, ob der denn eine Chance sehe, dass der Staatsstreich gelingen werde. 'Mit größter Wahrscheinlichkeit wird alles schief gehen.' 'Und trotzdem?' 'Ja, trotzdem.'"

In diesem "Trotzdem" liegt der ganze politisch-moralische Kosmos des deutschen Widerstands. Es gab für die Männer und Frauen des 20. Juli kein Vorbild und kein Beispiel in der deutschen Geschichte. Sie konnten sich nur auf ihr Gewissen berufen. Die Stimme des Gewissens, es gab sie und sie war in all dem Gebrüll der Nazis und dem Donner der Geschütze deutlich zu vernehmen.

In diesem Sinne haben die Verschwörer des 20. Juli einen bleibenden Maßstab für widerständiges Verhalten in der Nazi-Zeit gesetzt. Viele Deutsche behaupteten nach dem Krieg, sie seien dagegen gewesen, aber was hätten sie denn schon ausrichten können. Dagegen steht Henning von Tresckows berühmter Satz:

"Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben zu geben."

Dieser Satz stammt wie viele andere Aussagen der Widerstandskämpfer aus einem Ethik-Lehrbuch, das das Leben schrieb. Keine dieser Einsichten sind bloße Behauptungen, ihr Wahrheitsgehalt wurde bezeugt durch manchmal quälende Selbstbefragungen und durch die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern und das Leben der nächsten Angehörigen zumindest zu gefährden.

Wir dürfen nie vergessen, welchen Preis diese tapferen Männer und Frauen im Kampf für ein besseres Deutschland gezahlt haben. Und das bedeutet: Wir dürfen nicht vergessen, dass uns Freiheit und Demokratie nicht in den Schoß fallen, sondern stets aufs neue verteidigt werden müssen – und zwar auch gegen jene braunen Horden gegen die sich die Männer und Frauen des 20. Juli erhoben.

Es gibt viele Möglichkeiten, das Vermächtnis des 20. Juli zu pflegen:

in der Familie, indem wir unsere Kinder zu mündigen und verantwortungsbewussten Menschen erziehen;

in der Schule, indem wir Jugendlichen das geistige Rüstzeug an die Hand geben, um unsere Gesellschaft zu verstehen, die individuellen Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und persönliche Verantwortung wahrzunehmen;

in der U-Bahn oder auf der Straße, indem wir gemeinsam einschreiten, wenn einem Menschen mit dunkler Hautfarbe oder einem Behinderten zugesetzt wird;

in der Politik, indem wir respektvoll mit den Grundrechten umgehen und uns immer wieder bewusst machen, dass die Bindung unseres Handelns an den Grundsatz der Menschenwürde und an das Recht den Kern dessen ausmacht, was die Bundesrepublik von der Gewaltherrschaft der Jahre 1933 bis 1945 unterscheidet.

Aus diesem Grund müssen wir das Gedenken des 20. Juli lebendig erhalten. Wir müssen kommenden Generationen zeigen, dass unser Weg zu Freiheit und Demokratie kein einfacher war, sondern ein vielfach gewundener, mit gefährlichen Abgründen, Verführungen und Verstrickungen. In größter Not - das zeigt uns der 20. Juli – gab es nur den einen Ausweg: Der Stimme des Gewissens zu folgen, innere Freiheit zurückzugewinnen, damit die äußere Befreiung von der Barbarei ein sicheres Fundament hatte.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viele interessante Gespräche und gute Begegnungen im Berliner Rathaus.







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