Die Brücke zur Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen

Rita Süssmuth

Die Brücke zur Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen

Gedenkrede der Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth am 20. Juli 1998 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Verehrte Angehörige der Opfer des deutschen Widerstands,

Vertreter der Widerstandsverbände,

Herr Präsident des Bundesrates, Ministerpräsident Schröder,

Herr Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Dr. Hirsch,

Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und den Parlamenten der Länder,

Herr Bundesminister Oswald,

Frau Bürgermeisterin Dr. Bergmann,

Damen und Herren Minister der Länder,

sehr geehrte Damen und Herren,

wir gedenken heute der Männer und Frauen, die sich am 20. Juli 1944 gegen den verbrecherischen Krieg, gegen die nationalsozialistische Willkürherrschaft, gegen die Herabsetzung und Verachtung der Menschenwürde und gegen das massenhafte Morden erhoben und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben. Sie stehen für das „andere Deutschland“, für den Widerstand insgesamt, der der Diktatur und ihrem Terror mit der vom Gewissen bestimmten Tat entschieden entgegentrat. Wir Heutigen stützen uns auf den Geist und die Haltung dieser Frauen und Männer.

Wir stehen hier im Bendlerblock, dem Ort des historischen Geschehens, an dem – wie kaum anderswo – der Unrechtsstaat und der Widerstand gegen die Diktatur zugleich präsent wird. Der Widerstand gegen die Hitler-Diktatur gehört heute zu den besten Traditionen, auf die unsere Soldaten der Bundeswehr als Staatsbürger in Uniform verpflichtet sind.

Wäre der Widerstand erfolgreich gewesen, wäre Deutschland und Europa weiteres Leid erspart geblieben. Dem äußeren Scheitern dieses Aufstands gegen die organisierte Unmenschlichkeit und den brutalen Hinrichtungen an dieser Stelle schon am 21. Juli 1944 folgte die umfassende Verfolgung des deutschen Widerstands. Er wurde im justitiellen Terror des Volksgerichtshofes, den Gefängnissen und den Konzentrationslagern brutal gebrochen.

Viele Frauen und Männer des 20. Juli waren sehr einsam in ihrem Wirken. Konspirative Selbstisolierung und sorgfältige Abschirmung waren der Preis für den angestrebten Erfolg ihrer Tat. Noch bedrückender war für sie jedoch die Erfahrung, dass die große Mehrheit der Deutschen nicht zum Widerstand bereit war, viele ihrem aktiven Sichwidersetzen mit Unverständnis gegenüberstanden, sie als Verräter sahen. Umso wichtiger war es, dass sie dieses letzte und wohl größte Attentat dennoch wagten.

Der Krieg – und damit auch der Terror des Naziregimes – wurde durch die Alliierten beendet. Doch im deutschen Widerstand liegen die Anknüpfungspunkte an das andere, das bessere Deutschland. Mit den Frauen und Männern des Widerstandes wurde diese Republik aufgebaut. Sie bauten die Brücke zur Rückkehr zu einem zivilisierten Deutschland und in den Kreis der zivilisierten Nationen.

Auch wenn es lange Zeit brauchte – heute ist der Gedenktag stärker im Bewusstsein unseres Volkes verankert als jemals zuvor. Damals war es ein Widerstand fast ohne Volk – heute ist es ein Gedenktag mit der entschiedenen Mehrheit der politisch interessierten und engagierten Bürgerschaft. Der 20. Juli 1944 bildet eine Einheit mit den für unser Land wichtigen Gedenktagen. Es ist kein „vergessener Tag“ und darf nie einer werden.

Der gescheiterte Widerstand am 20. Juli 1944 bleibt ein Eckpfeiler unserer freiheitlichen Identität, ein wesentlicher Bestandteil der Kultur des Erinnerns in unserem Land. Aufgabe der Parlamente, der Schulen und Bildungseinrichtungen, der Vereine und Verbände ist es, auch den jüngeren Generationen immer wieder deutlich zu machen, warum Menschen ihr Leben gegen die Diktatur einsetzten.

Bezogen auf unsere Gegenwart, auf das Leben in unserer Demokratie, heißt die Konsequenz: bewusste und stetige Verteidigung der freiheitlichen Grundlagen. Konkret: dort nicht wegschauen, nicht schweigen, wo es zu widersprechen, auch zu widerstehen gilt.

Es ist unsere Aufgabe, denjenigen in Achtung und Gerechtigkeit zu begegnen, die unter der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten gelitten haben. Es war unverzichtbar – trotz allzu langer Dauer – dass der Deutsche Bundestag am 28. Mai dieses Jahres die Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile beschlossen hat, die aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind. Es bleibt unsere Aufgabe, die Persönlichkeiten des deutschen Widerstandes aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, mit ihren Überzeugungen, in ihren schwierigen Auseinandersetzungen, mit ihren Zweifeln, ihrem Ringen und ihrem Mut. Gerade dadurch rücken sie uns näher, werden sie uns verständlich, können sie für uns Vorbild in unserem Handeln werden.

Vergessen wir dabei nicht, dass es unseren demokratischen Staat auszeichnet, wenn im Zuge der Erforschung historischer Wahrheit unterschiedliche Bewertungen vertreten werden. Das nimmt den Frauen und Männern des Widerstandes nichts von ihrer großen Bedeutung. Im Gegenteil. Opposition bilden, Widerstand leisten, sein Leben wagen für Menschlichkeit, Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, dazu mahnen die Freiheitskämpfer einer längeren Tradition der Revolution von 1848/49, der Widerstand in der Zeit 1933 bis 1945 und der Freiheitskampf der Oppositionellen und Bürgerrechtler in der SED-Diktatur der DDR und ganz Osteuropas. Auch dabei ist die europäische Perspektive von ausschlaggebender Bedeutung.

Die Erinnerung heute nimmt den 20. Juli 1944 zum Anlass, an alle Gruppen und Einzelpersonen zu erinnern, die sich aktiv der nationalsozialistischen Diktatur entgegengestemmt haben. Es stimmt: Die Zahl derjenigen, die im öffentlich bekannten Widerstand Zivilcourage und Verantwortung gezeigt haben, war nicht sehr groß. Aber sie war und bleibt von grundlegender Bedeutung. Es waren Männer und Frauen aus allen Schichten und Berufsgruppen, gläubige Christen, Gewerkschafter, Beamte und Parlamentarier unterschiedlicher politischer Auffassungen und Überzeugungen.

Der Gefängnispfarrer, Harald Poelchau, hat uns berichtet, was die von ihm betreuten Widerständler in der letzten Phase ihres Lebens übereinstimmend zum Ausdruck brachten. Ich zitiere:

„Der Weg, den wir gegangen sind und der uns in den Tod geführt hat, war kein Irrtum, war nicht falsch, sondern war richtig und nötig, denn wichtiger als unser Leben ist es, daß das Recht wieder in Deutschland zur Geltung kommt und daß der Mensch wieder in seiner Würde geachtet wird.“

Die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 und alle, die sich der nationalsozialistischen Diktatur widersetzt haben, stehen am Neuanfang unserer parlamentarischen Demokratie. Unsere freiheitliche Verfassung lebt deswegen auch von Konzeption und Geist des deutschen Widerstands. Das gilt auch dann, wenn man weiß, dass sich nicht alle Widerstandsgruppen auf eine parlamentarische Demokratie geeinigt haben.

Die Verpflichtung auf den Rechtsstaat, der Vorrang der Grundrechte, die Gewaltenteilung, der umfassende Schutz der Privatsphäre und das Zurückweisen staatlicher Übergriffe, aber auch die Sicherung der sozialen Lebensgrundlagen und der gerechten Verteilung der Güter – alle diese Vorstellungen des Widerstandes standen am politischen Neuanfang und wurden konstitutiv für unsere Verfassung. Schützen wir diese freiheitliche Grundordnung, schützen wir den Geist dieser Verfassung! Das sind Vermächtnis und Auftrag.

Die Dokumente, vor allem die konzeptionellen Entwürfe insbesondere des Kreisauer Kreises, machen uns vertraut mit den Zukunftsplänen und der Arbeit an der europäischen Friedensordnung. Sie dachten in Kategorien, die nicht auf der Idee des Nationalstaates gründeten, sondern die ein politisch vereintes Europa voraussahen. Diese Vorstellungen von der europäischen Einigung sind heute verpflichtendes Erbe. Sowohl die Idee der Währungsunion, des Europas der Regionen, der Rechte von Minderheiten als auch die Konzeption des europäischen Bundesstaates gehören zu den politischen Visionen eines Teils des Widerstandes, besonders des Kreisauer Kreises.

Bei der heutigen Beurteilung des deutschen Widerstandes ist eines anzuraten: Lesen wir die uns verfügbaren Zeugnisse. Dann erfahren wir viel über die Konflikte, die inneren Kämpfe, die Qualen, die mangelnde Unterstützung durch das Ausland, aber auch über die Unbeirrbarkeit und die tiefen christlichen Überzeugungen. Klemens von Klemperer spricht in seinem Buch „Die verlassenen Verschwörer“ von dem „Mißverhältnis zwischen der Entschiedenheit, mit der die Mitglieder des deutschen Widerstands versucht haben, die ‚größere Welt’ zu erreichen, und dem niederschmetternden Resultat ihrer Bemühungen“.

Vergessen wir nicht: Widerstand – er begann längst vor 1933. Dem Attentat des 20. Juli 1944 gingen jahrelange Bemühungen zur Beendigung des Naziterrors und des mörderischen Krieges voraus. Vergessen wir auch nicht: Sämtliche Widerstandsakte galten als Hochverrat. Jeder, der Widerstand leistete, stand unter Todesdrohung. „Das deutsche Volk in allen seinen Schichten steht unter Todesdrohung“, so schrieb Otto Kirchheimer 1935.

Worin liegt die fortwirkende Bedeutung und der Auftrag des deutschen und europäischen Widerstands heute? Die Antwort ist klar: in der Verteidigung von Menschenwürde und Menschenrechten, des Rechtsstaats und der Demokratie. Wichtigstes Ziel sind Freiheit und Frieden in einem geeinten Europa. Gefährden wir nicht durch gestriges Denken, durch Rückfall in alte und neue Extreme die Zukunft Europas. Suchen wir das Verbindende, nicht das Trennende.

Ich bin froh, dass es mit Hilfe der Parlamente und Regierungen Deutschlands und Polens, aber auch durch große private Unterstützung, gelungen ist, nach der „Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung“ das internationale Begegnungszentrum in Kreisau zu gründen. Die bisherige Arbeit dort und die offizielle Eröffnung vor wenigen Wochen haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, an einem historischen Ort den Zusammenhang von Widerstand in der Diktatur, freiheitlicher Demokratie und europäischer Integration erfahrbar zu machen.

Auch in England ist in diesen Tagen an der Westminster Abbey eine neue Skulpturen-Galerie enthüllt worden. Zehn Märtyrer des christlichen Glaubens aus unserem Jahrhundert sind hier verewigt. Neben Martin Luther King zählen zu ihnen Pater Max Kolbe und Dietrich Bonhoeffer. Erst vor kurzem ist ein Seminarraum der Universität Oxford nach dem Widerständler Adam von Trott zu Solz benannt worden. Das sind ermutigende Zeichen eines europäischen Gedenkens an den deutschen Widerstand.

Der 20. Juli 1944 steht für den Aufstand des Gewissens. Sein Scheitern hat ihm nichts von seiner überdauernden Bedeutung, seiner fortwirkenden Kraft genommen. Nach dem Zivilisationsbruch gehört die Sicherung der Freiheit in rechts- und sozialstaatlicher Demokratie zu unseren wichtigsten Aufgaben. Deswegen brauchen wir nicht weniger, sondern mehr von jener Bürgerloyalität, in der sich die Stimme des Gewissens mit dem Geist der Freiheit verbindet. Die Grundsätze unserer Verfassung gilt es gerade dann zu schützen, wenn Gleichgültigkeit und Verächtlichmachung um sich greifen und zu scheinbar akzeptierter Normalität zu werden drohen.

Umso wichtiger ist es, dass die Prinzipien der Humanität beständige Leitlinien für unsere Politik sind. Nach wie vor gilt, dass der Umgang mit Minderheiten, mit den Schwächsten der Gesellschaft und mit denen, die bei uns aus nahen und fernen Ländern Zuflucht und Hilfe vor Gewalt und Verfolgung suchen, Gradmesser für die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit bei uns ist.

Die Aufgabe einer aktiven verantwortlichen Bürgergesellschaft besteht zuerst darin, auf den Menschenrechten und den Normen der Zivilität auch in schwierigen Situationen zu beharren und Verletzungen im alltäglichen Miteinander nicht zu tolerieren. Die Erinnerung an diejenigen, die in der existentiellen Herausforderung einer totalitären Diktatur widerstanden haben, steht uns mahnend zur Seite. Gerade dadurch bewahren wir ihr Vermächtnis.







Weitere Reden

20.07.1998
Eduard Oswald