"Die Gewissheit, sich für das Richtige entschieden zu haben, nahmen sie auch im Scheitern und in den Tod mit."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld

"Die Gewissheit, sich für das Richtige entschieden zu haben, nahmen sie auch im Scheitern und in den Tod mit."

Ansprache von Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld am 20. Juli 2008 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Wenn ich Stauffenberg, Olbrich, Mertz von Quirnheim oder Haeften heißen würde, müsste ich an diesem geschichtlich so brisanten und für diese Männer des deutschen Widerstandes endgültigen Ort in tiefe Trauer verfallen, so wie ich es heute morgen beim Gottesdienst am Tisch unseres Herrn beim Abendmahl in Plötzensee im Gedenken an meinen Vater erlebte.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen, die Sie sich heute, 64 Jahre nach dem Schicksalstag im Juli 1944, hier als Angehörige von Vertretern des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zum Andenken an die Frauen und Männer ihrer Verwandten und Freunde versammelt haben, ergeht.

Die Möglichkeit aber, gemeinsam nachzudenken, sich vorurteilsfrei zu unterhalten, ist eine Gelegenheit, die viele von uns oftmals schmerzlich vermissen. Darum messe ich diesem jährlichen Zusammensein eine so große Bedeutung in unserem politischen Umfeld bei.

Aller inneren Trauer und Fassungslosigkeit zum Trotz sehen Sie mich aber fröhlich, stolz und dankbar.

Es ist ein wunderbares Gefühl, Sie willkommen heißen und mit Ihnen an ein Ereignis in Deutschland erinnern zu dürfen, dem wir schon so weit entrückt zu sein scheinen.

Lassen Sie mich in der gebotenen, knappen Form erläutern, woher meine Fröhlichkeit, mein Stolz und meine Dankbarkeit rühren und worin ich unsere fortwährende Aufgabe, ja den Sinn dieses Zusammenseins sehe. Denn Erinnerung, das wusste schon Gotthold Ephraim Lessing, dient ja nicht dazu, unser "Gedächtnis zu belasten, sondern den Verstand zu erleuchten!"

Versetzen wir uns gedanklich zurück ins "Dritte Reich", das ja viele, vielleicht sogar die meisten Anwesenden noch erlebt haben.

Von vornherein zu aktivem Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime entschlossen waren die Kommunisten, die allerdings im totalitären Herrschaftsanspruch ihrer eigenen Ideologie befangen waren. Sie hatten den Staat von Weimar als "faschistische Republik" bekämpft und dadurch erheblich mit dazu beigetragen, dass Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übernehmen konnte.

Das Ziel ihres – ohne Frage – mit hohem Blutzoll geleisteten Widerstands gegen den Nationalsozialismus war – das soll auch hier und heute nicht unterschlagen werden – keine Wiederherstellung irgendwie gearteter Weimarer Verhältnisse, sondern der Aufbau einer "Diktatur des Proletariats".

Während die orthodoxen Kommunisten selbst im Angesicht dieser auf Leben und Tod geführten Auseinandersetzung einen Wandel ihres Selbst- und Politikverständnisses fast durchweg ablehnten, machten sich die die Weimarer Republik ganz wesentlich mitgetragen habenden Sozialdemokraten die historische Chance zu grundlegender Veränderung des Überkommenen schöpferisch zunutze. Zum einen suchten sie in der zweiten Hälfte des Weltkrieges die Zusammenarbeit selbst mit den sie wegen ihrer gerade angesprochenen Unterstützung der Weimarer Republik als "Sozialfaschisten" beschimpfenden Kommunisten. Zum anderen verbündeten sie sich mit den bürgerlichen und aristokratischen Gegnern des Regimes, also denjenigen, die 1933 ebenfalls – die einen mehr, die anderen weniger – daran beteiligt gewesen waren, Hitler zur Macht zu verhelfen, ehe sie hatten erkennen müssen, dass sie im totalitären Staat der Nationalsozialisten genauso rechtlos waren wie alle anderen, deren Tun und Lassen,

deren Aktionen und Abseitsstehen gleichfalls zum Untergang der Weimarer Republik entscheidend beigetragen hatte. Damit wurde eine wichtige Grundlage gelegt für jenes uns heute so selbstverständlich erscheinende Zusammenwirken fast aller politischen Parteien nach 1945.

Als führende Repräsentanten der deutschen Opposition müssen aber – neben den Kommunisten – nach wie vor in erster Linie die Mitglieder der – ich vergröbere – Goerdeler-Beck-von Hassell-Gruppe auf der einen und die Vertreter des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg auf der anderen Seite gelten. Seit der Jahreswende 1941/42 rückten beide Gruppierungen, die eher konservativ orientierten "Honoratioren" um Goerdeler und die weltanschaulich eher in christlich-sozialistischem Sinne ausgerichteten "Kreisauer", näher zusammen. Wie man rückblickend auch immer über Chancen und Grenzen ihrer diversen innen- und außenpolitischen Zukunftspläne urteilen mag, die uns heute in Vielem arg fremd vorkommen, ihre Legitimation bezogen sie daraus nicht. Ihre Legitimation bestand vielmehr in ihrem Eintreten gegen Hitlers Unrechtsregime und in dem Opfer, das sie brachten und das über alle Zweckmäßigkeitserwägungen weit hinausreichend letztlich ethisch begründet war.

Einer der führenden Repräsentanten des militärischen Widerstandes, Henning von Tresckow, hat diese Einsicht im Sommer 1944 von der Ostfront aus an Graf Stauffenbergs Adresse so umschrieben:

"Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden, denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig."

Es war in erster Linie der militärische Widerstand, der – allein schon aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel – das Regime in entscheidendem Maße bedrohen konnte. Dies festzustellen bedeutet selbstverständlich überhaupt nicht, den Widerstand anderer Personen und Gruppen – die ich hier gar nicht alle nennen kann – gering zu schätzen. Und es muss uns auch klar sein, dass selbst die am 20. Juli Beteiligten keine homogene Gruppe bildeten. Zwischen dem Verwaltungsjuristen Goerdeler und – sagen wir – dem Berufssoldaten Stauffenberg lagen mental gewiss Welten. Aber sie fanden sich zusammen im aktiven Widerstand gegen Hitler.

Manch eine Brücke zwischen diesen "Welten" mögen im Übrigen die nicht wenigen "verkleideten Zivilisten" geschlagen haben. Jene Männer, die sich als Reserveoffiziere oder Sonderführer in Uniformen gesteckt sahen.

Bezeichnenderweise war es das Attentat des Obersten Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 gegen Hitler, welches das Regime am empfindlichsten traf. Ihm ging eine lange und im Ausmaß erhebliche Vorgeschichte voraus, die bis ins Jahr 1938 zurückreicht. Und diese Vorgeschichte gibt zu erkennen, dass es sich bei dem Attentat nicht um einen Verzweifelungsakt weniger Offiziere im Angesicht der sich abzeichnenden Niederlage gehandelt hat. Die Geschichte der Jahre 1938 bis 1944 hatte allerdings gezeigt, dass ein aktives Vorgehen gegen "Führer" und Regime erst erwogen werden konnte, wenn Hitlers Ansehen durch politische und militärische Rückschläge erschüttert sein würde. Hitlers Erfolge, die Verhandlungen in München im September 1938 sind dafür ein gutes Beispiel, entzogen ihnen aber immer wieder den Boden. Wir wollen nicht vergessen, dass selbst nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli Hitler, der ja leider nahezu unverletzt geblieben war, eine neue Welle der Sympathie zuflog, wie alle vom Sicherheitsdienst der SS gesammelten "Meldungen aus dem Reich" belegen.

Dort heißt es bspw.: "Geradezu auffallend ist, in welch´ starkem Maße sich die Arbeiterschaft erneut zum Führer bekannt hat."



Die Männer und Frauen des 20. Juli mussten dieses schwere Dilemma in Kauf nehmen. Die Gewissheit, sich für das Richtige entschieden zu haben, nahmen sie auch im Scheitern und in den Tod mit.

In Zeiten der Tom Cruise und dem heutigen Interesse des amerikanischen Fernsehkanals "History Channel" am deutschen Widerstand muss aber festgehalten werden, dass bei den vielfachen Versuchen, Kontakte mit dem Ausland aufzubauen, aus mangelndem Interesse wenig Erfolg notiert werden konnte. Eine Erklärung Winston Churchills im House of Commons 1946 abgegeben und auch an dieser Stelle schon erwähnt, kann über die Naivität des westlichen Auslands zur damaligen Zeit nicht hinwegtäuschen.

Viele, ich möchte sagen fast alle Widerständler, die in den Zusammenhang des 20. Juli gehören, zogen eine große Kraft aus ihrer christlichen Grundüberzeugung!

Dazu gehörte, Hitler zwar als Spitze des Staates zu akzeptieren, dies allerdings nur in dem Bewusstsein, dass es über allem Diesseitigen noch eine höhere Instanz gab, der man Rechenschaft schuldete. Und wegen dieser doppelten Loyalität machte man es sich auch nicht leicht mit der Entscheidung zum Attentat. Doch bei nüchterner Überprüfung der Kräfteverhältnisse und der psychologischen Bedingungen schied der lange erörterte, hin und her gewendete Plan, Hitler zu verhaften und vor Gericht zu stellen, aus. Als Möglichkeit blieb allein, mit dem Tod Hitlers die Bindung der Deutschen an seine Person zu lösen.

Aber durfte man die Wiederherstellung der "Majestät des Rechts", den Neuaufbau eines Rechtsstaates – denn das war ja Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens – mit Unrecht, mit Mord beginnen? Die zur Tat Berufenen nahmen stellvertretend die Sünde des Tyrannenmordes auf sich, in dem gläubigen Vertrauen, vor dem Richterstuhl Gottes Gnade zu finden.

Diese gläubige Unerschrockenheit ließ einen Mann wie Josef Wirmer dem Volksgerichtshofpräsidenten Freisler ins Gesicht sagen: "Wenn ich hänge, Herr Präsident, habe nicht ich Angst, sondern Sie!"

Oder Cäsar v. Hofacker als er Freisler ins Wort fiel: "Sie schweigen jetzt, Herr Freisler! Denn heute geht es um meinen Kopf. In einem Jahr geht es um Ihren Kopf!"

Und Henning von Tresckow gab dieser Empfindung mit folgenden Worten Ausdruck: "Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unseret Willen nicht vernichten wird."



"Um unseret Willen", wegen nur "zehn Gerechter"! Damit bin ich bei einem Punkt angelangt, der auch in unseren heutigen Zusammenhang gehört: Denn ungeachtet der Existenz mannigfacher Oppositionsformen, Nonkonformismen, ja Alltagswiderstand, hat es für den ebenso berühmten wie berüchtigten "Otto-Normalverbraucher" auch in einer Diktatur erst einmal als üblich/gängig zu gelten, sich mit dem jeweiligen Regime zu arrangieren, sich, wie Shakespeare es einmal formuliert hat, als "Feigling aus Instinkt" zu gebärden, also ganz schlicht: überleben zu wollen! Das ist keine Entschuldigung für schwaches Verhalten, vielmehr der Versuch einer Erklärung.

Ein totalitärer Unrechtsstaat - darüber müssen wir uns im Klaren sein – lässt ja den "Betroffenen" auch nicht annähernd absehen, was ihn bei abweichendem, gar widerständigem Verhalten erwartet – unter Umständen nichts Ernstes, aber mit gleicher Ungewissheit auch das Schlimmste! Sich dieser Ungewissheit zu stellen, ist nicht jedermanns Sache!

Wenn es jedoch auch in solch finsteren Tagen einige gab, also jene "zehn Gerechten", von denen eben schon die Rede war, dann darf uns alle das mit großem Stolz und großer Freude erfüllen!

Diesem Stolz, dieser Freude, kann es auch nichts anhaben, wenn immer wieder Versuche unternommen wurden und werden, den Angehörigen des Widerstands etwas am Zeug zu flicken, ihnen eine "verzögerte Moral" zu unterstellen, ihnen vorzuwerfen, keine Demokraten gewesen zu sein und was weiß ich alles. Das entspringt zum Teil gezielter Böswilligkeit, meistens aber der blütenweißen Weste derjenigen, die ohne eigenes Zutun über die "Gnade der späten Geburt" verfügen und allzu unbefangen heutige Werte und Denkmuster in frühere Zeitepochen zurückprojizieren.

Man darf aber die Gedankenwelt und das Handeln der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime nicht kurzerhand mit für sie nicht verbindlichen und insgesamt nicht einmal zeitgemäßen Maßstäben messen:



Man "muss […] die Zeit kennen, in der sie gelebt haben, man muss [auch] wissen, mit welchen Mächten sie im Kampf gelegen haben […]. Auch die Männer des 20. Juli, auch die Toten von damals hatten menschliche Gebrechen. Auch sie sind nicht ohne Schuld. Sie tragen die Schuld desjenigen, der den Bereich der Kontemplation verlässt und handelt. Aber diese Schuld wiegt gering gegenüber der Schuld derjenigen, die die Macht des Unrechts zum Prinzip erhoben haben."

Dies sind Worte, die Fabian von Schlabrendorff zu diesem Thema schon 1957 (!) hier im Ehrenhof des Bendlerblocks gefunden hat.

Was zählt, ist doch folgendes: All die Stauffenberg, Beck, Goerdeler, Haubach, Moltke, Reichwein, Leuschner, Leber haben im äußersten Wagnis ihre ganze Existenz eingesetzt. Wer die Last und die Größe dieser moralischen Entscheidungen nicht wahrzunehmen vermag, die diese Männer unter ganz spezifischen Bedingungen zu treffen hatten, der sollte sich lieber bequemeren Themen zuwenden.

Bleiben wir unseren "zehn Gerechten“ also dankbar verbunden. War für sie der verbrecherische Charakter des Nationalsozialismus, die totalitäre Diktatur des "Dritten Reiches" eine ganz neue Erfahrung, die sie zunächst einmal wahrzunehmen, ja zu erkennen, zu durchschauen hatten, um ihr dann erst wirksam begegnen zu können, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen,

● dass die Trennungslinie zwischen aktivem Widerstand unter den Bedingungen einer Diktatur und verfassungsrechtlich garantiertem Protest im Rahmen einer Demokratie nicht verwischt;

● dass wir uns bewusst machen, dass der Bestand eines freiheitlichen, demokratischen Gemeinwesens auf Permissivität, herrschaftsfreiem Diskurs und noch immer breit gestreutem Wohlstand nicht hinreichend fest gegründet ist, sondern dass gerade eine Demokratie lebensnotwendig auf die Beherzigung staatsbürgerlicher Tugenden angewiesen ist, darauf, dass alle Bürger sich zu den Institutionen und Werten dieses Staates bekennen und sich dafür nach den jeweiligen Kräften und Möglichkeiten als für ein höchst persönliches Anliegen einsetzen. Das ist – angesichts des Opfers der Männer und Frauen des 20. Juli – wenig und – angesichts allgemeiner Politik- und Staatsverdrossenheit – viel zugleich.

Es ist unser aller Aufgabe, unserer Enkelgeneration deutlich zu machen, welche Verantwortung sie im heutigen Deutschland wie im vereinten Europa trägt. Risiken und Versuchungen haben zu allen Zeiten und überall gelauert. Das mag uns eine entsprechende Warnung des antiken Geschichtsschreibers Polybios vor Augen führen:

"Und solange noch welche da sind, die die Gewaltherrschaft der Oligarchen ausgekostet haben, sind sie mit dem augenblicklichen Zustand zufrieden und schätzen Gleichheit und Redefreiheit am höchsten. Wenn aber eine neue Generation heranwächst und die Demokratie den Enkeln übergeben wird, schätzen sie die Errungenschaften der Gleichheit und Redefreiheit nicht mehr hoch, da sie ihnen zur Gewohnheit geworden sind."

Wenn es uns gelingt, den Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime erster Güte gleichsam als beherzigenswertes Welterbe des Antitotalitarismus in den Köpfen unserer Zeitgenossen zu verankern, dann dürfen nicht nur wir stolz und dankbar auf das Handeln unserer Mütter und Väter zurückblicken, nein, dann wären auch unsere Mütter und Väter stolz auf uns – dessen bin ich gewiss!







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