Die Kraft des Umdenkens

Hans Buchheim

Die Kraft des Umdenkens

Gedenkrede von Prof. Dr. Hans Buchheim am 20. Juli 1982 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin

Vor einigen Wochen war ich Zeuge einer Diskussion über das Leben im Dritten Reich und über die Möglichkeiten beziehungsweise Nicht-Möglichkeiten, gegen das NS-Regime Widerstand zu leisten. Dabei habe ich zum ersten Mal die Erfahrung machen müssen, dass die jüngeren Gesprächsteilnehmer nicht nur Schwierigkeiten hatten, die Vertracktheit der damaligen Verhältnisse zu begreifen. Vielmehr lassen die Probleme, die damals die Menschen umgetrieben haben, die Nachgeborenen auch dann kalt, wenn man sie erklärt und an Beispielen erläutert. Und diese Nachgeborenen sind heute keineswegs nur die ganz Jungen, sondern bereits die 30- bis 40-Jährigen. Was für die Männer und Frauen des Widerstandes geistig, physisch, ethisch, schlechthin existentiell gewesen war, erschien in der erwähnten Diskussion überlebt. Die Alten redeten über ihre alten Fragen und blieben damit unter sich.

Wir müssen uns das eingestehen: Die Tat, zu deren Gedenken wir heute hier versammelt sind, gehört einer verflossenen Zeit an. Was unsere Gegenwart war, uns immer gegenwärtig bleiben wird, was dann Zeitgeschichte wurde, ist nun dabei, Geschichte zu werden. Zeitgeschichte ist nach einer berühmten Formulierung von Hans Rothfels die Epoche der Mitlebenden, oder – wie es in einer Schrift des Instituts für Zeitgeschichte heißt – die Summe der jüngst vergangenen, das Leben der Zeitgenossen noch unmittelbar berührenden Ereignisse. Als Rothfels im Jahre 1953 in der ersten Nummer der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ die Erstreckung der Zeitgeschichte bis zurück zum Jahre 1917 bestimmte, lag dieses Datum 36 Jahre zurück. Der 20. Juli 1944 ist mit dem heutigen Tag 38 Jahre vergangen.

Es fehlt den Nachgeborenen keineswegs an neugierigem Interesse für die NS-Vergangenheit. Aber sie sind ganz in der Vorstellung befangen, dass wir damals in einer einzigen absurden Hölle lebten; gewissermaßen zwölf Jahre Auschwitz in ganz Deutschland. Dementsprechend unbegreiflich ist es ihnen, wie die Älteren eine solche Herrschaft zulassen und auch nur entfernt etwas damit zu tun haben konnten. Wer zu erklären versucht, wie die damaligen Verhältnisse alles andere als durchschaubar und wie verwirrend die Umstände des Alltags waren, der kommt schnell in den Verdacht der Schönfärberei, billiger Ausreden und unangebrachter Polemik. In der Tat, vieles ist schwer zu verstehen:

- Wusste man eigentlich die Wahrheit, wenn man sie nur als Gerücht hörte, und war es Schuld, zu hoffen, das Gerücht möchte nicht wahr sein?

- War es Mangel an Mut, wenn man nicht für das Gute eintrat, wo man nicht imstande war, zu erkennen, was gut und böse ist? Sie alle kennen Dietrich Bonhoeffers Wort von der großen Maskerade des Bösen, die alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt habe, wo das Böse in der Gestalt des Lichts, des geschichtlich Notwendigen und sozial Gerechten erscheint.

- Soll man untätig für das noch erkennbar Gute bleiben und auf die Möglichkeit, Verfolgten zu helfen, verzichten, wenn man gegen die Untaten des Regimes nur unter der Voraussetzung etwas ausrichten kann, dass man in seinem Räderwerk irgendwo mitmacht?

Manches, was sich heute eindeutig als verwerflich erkennen lässt, weil der historische Blick es aus der damaligen Gesamtwirklichkeit herauszuheben vermag, blieb für diejenigen, die von dieser Wirklichkeit völlig umfangen waren, vieldeutig, auch wenn sie sich um Information und ethische Orientierung bemühten. Und es lag, wie Kurt Schumacher einmal einem jüdischen Freund in der Schweiz schrieb, in der Natur des totalitären Systems, alle Untertanen in die Verbrechen der Herrschenden zu verwickeln.

Wenn sich die nachgeborene Generation auf die NS-Zeit bezieht, ohne deren Lebensbedingungen nachvollziehen zu können, sind Missverständnisse unvermeidbar. Mancher von Ihnen wird sich des treffenden Beispiels erinnern, das Herr von Weizsäcker vor zwei Jahren in seiner Gedenkrede brachte: Angst war damals im Dritten Reich und im Krieg Angst vor lauter ganz konkreten Gefahren der Gegenwart; heute ist sie Angst vor den ungewissen Gefahren einer dunklen Zukunft. Eine ähnliche Unterscheidung ließe sich in Bezug auf das Gewissen treffen: Damals war es verwirrt, zweifelnd, ratlos und hilfesuchend, heute ist es oft selbstsicher und auftrumpfend, fordernd und herausfordernd.

Dann gibt es falsche Analogien. So hört man zum Beispiel heute zuweilen sagen, die Türken seien die Juden unserer Tage. Dieser Vergleich ist falsch. Wenn sich bei uns Fremdenhass regt, so ist das sicher schlimm; aber was zum schrecklichen Schicksal der Juden führte, war eben nicht Fremdenhass, sondern dass man sie zur Inkarnation des Bösen erklärte und als Schädlinge am Volkskörper behandelte. Das ist nicht nur eine quantitative Steigerung von Fremdenhass, sondern etwas der Qualität nach anderes.

Wie unberechtigt es ist, wenn Leute, die heute zu Widerstand auffordern, sich auf die Männer und Frauen berufen, deren wir hier gedenken, ist schon oft dargetan worden. Ich möchte das nicht wiederholen, sondern durch einen Gesichtspunkt ergänzen, der mir wichtig erscheint. Der Widerstand gegen Hitler richtete sich nicht gegen den Staat, sondern er wurde im Namen des Staates geleistet gegen den totalitären Despotismus und die subjektive Willkür des sogenannten Führers. Die Subjektivität eines Mannes war an die Stelle der Souveränität des Staates gesetzt. Hitler hatte den deutschen Staat zu seinem Büttel erniedrigt, und wo immer die Disziplin staatlichen Regierens der Verwirklichung seiner fixen Ideen entgegenstand, setzte er sich über sie hinweg. Gerade die ganz schlimmen Verbrechen wurden auf seinen persönlichen Befehl im außerstaatlichen Bereich von der SS ausgeführt. Recht und Gesetz des Staates galten Hitler und seinen Gefolgsleuten als etwas bloß Formales, was den Vollzug angeblicher geschichtlicher Erfordernisse nicht behindern durfte. Schon im Jahre 1935 sagte Hitler in seiner Rede: „Wo sich die formale Bürokratie des Staates als unfähig erweisen sollte, ein Problem zu lösen, wird die deutsche Nation ihre lebendige Organisation einsetzen, um ihren Lebensnotwendigkeiten zum Sieg zu verhelfen.“ – Treffend angesichts solcher Denkweise hat Ulrich von Hassell über die Nazis einmal bemerkt: „Diese Leute wissen gar nicht, was ein Staat ist.“

Wo heute in unserem Land zum Widerstand aufgerufen wird, richtet sich das gegen den Staat. Wieder werden die Gesetze des Staates als bloß „formalrechtliche“ Regelungen hingestellt, von denen man sich nicht behindern lassen braucht, über die man sich hinwegsetzen darf, wenn es angeblich um höherrangige Interessen und Werte geht. Wieder ist es extremer Subjektivismus, der sich gegen den Staat kehrt; wieder haben wir es mit Leuten zu tun, die gar nicht wissen, was ein Staat ist. Dass sie sich zu Unrecht auf den Widerstand gegen Hitler berufen, bedarf keiner Erörterung. Wichtig ist aber, dass wir der Angst vor dem Staat entgegentreten, die sie schüren. Diese Angst wird zu einem nicht geringen Teil von der falschen Vorstellung genährt, die Verbrechen der Nazizeit seien Taten des Staates gewesen, während sie doch Konsequenzen einer totalitären, staatlich disziplinierten, Herrschaft im Grunde verneinenden Ideologie waren.

Wir dienen nicht der Freiheit und dem Recht, wenn wir unseren demokratischen Verfassungsstaat ständig argwöhnisch beobachten, als sei er ein potentieller Feind der Menschlichkeit und könne jederzeit in solche Exzesse ausbrechen, wie sie unter Hitlers Willkürherrschaft begangen worden sind.

Dieser Willkür und ihren Verbrechen ein Ende zu bereiten, stattdessen die Souveränität des Staates und die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen, das war das unmittelbare Ziel der Tat des 20. Juli 1944. Aber schon ihr zeitgenössischer Sinn erschöpfte sich darin nicht und er war nicht vom Gelingen des Attentats abhängig. Vor der Nation und vor der Welt kam es vielmehr darauf an, dass die Tat überhaupt gewagt wurde, denn – wie es in einem Flugblatt der „Weißen Rose“ hieß – nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen Clique regieren zu lassen.

Fragen wir nach dem geschichtlichen Sinn der Tat, nach der Bedeutung also, die der Widerstand gegen Hitler als ein bestimmter Schritt in der Geschichte unseres Volkes für immer behält, so kann man nachträglich beobachten, wie dieser Sinn im Laufe der Jahre der nationalsozialistischen Zeit mühsam errungen wurde. Zunächst ging es nur um politische Opposition gegen eine Politik, die dem Interesse des Reiches schadete. Daraus wurde bald die Überzeugung, gegen Unrecht und Unterdrückung für Recht und Freiheit eintreten zu müssen. Es folgten – vor und nach Beginn des Krieges – Versuche, den Frieden zu retten, bis man sich schließlich vor die Pflicht gestellt sah, sich gegen die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen zu erheben und gegen die Zerstörung der Humanität ein Zeugnis zu setzen. Damit war die entscheidende Dimension erreicht, aus der sich Notwendigkeit und Rechtfertigung ergaben, alles zu wagen. Dietrich Bonhoeffer fasste das in den Satz „Hitler ist der Antichrist. Wir müssen daher weitergehen mit unserer Arbeit und ihn ausmerzen, einerlei ob er erfolgreich ist oder nicht.“

Doch auch auf diesem Standpunkt waren die Gewissen nicht selbstsicher auftrumpfend, sondern blieben zweifelnd und hilfesuchend. Durfte man den Hitler geleisteten Eid brechen? Durfte man, um diesen Mann zu beseitigen, das Risiko auf sich nehmen, Deutschlands Niederlage im Krieg herbeizuführen und damit ein voraussichtlich schreckliches Schicksal für das ganze Volk? – Wer aus einer Tradition kam, für die es schlechthin unvorstellbar war, dass die ganze Nation der politischen Perversion verfallen könnte, musste erst um die Revision bis dahin fraglos selbstverständlicher Vorstellungen kämpfen, ehe er die moralisch geforderten Konsequenzen zu ziehen vermochte.

Das bürgerliche Deutschland musste unter Hitler erfahren, welche verheerenden Folgen gewisse Ideen der eigenen geistigen Tradition haben konnten, beziehungsweise welchen Möglichkeiten des Missbrauchs diese Tradition ausgesetzt war. Aus ihr hatten nicht wenige, die sich später dem Widerstand anschlossen, dem NS-Regime anfangs loyal, zum Teil sogar bereitwillig gedient. Für jeden Einzelnen von ihnen, der sich Vernunft und moralisches Bewusstsein bewahrt hatte, musste dann der unheilvolle Weg der Nation früher oder später auch zum brennenden persönlichen Problem werden. An irgendeinem Punkt sah er sich vor die Entscheidung gestellt, ob er es noch verantworten könne, weiter mitzumachen. Auch musste er sich fragen, welche seiner eigenen Einstellungen er überwinden, welche Überzeugungen er revidieren müsse. So waren es bei diesen Männern und Frauen gerade die teilweisen Gemeinsamkeiten mit dem Regime, die eine radikale geistige Auseinandersetzung unausweichlich forderten. Es erwies sich, dass diese Repräsentanten deutscher bürgerlicher Tradition noch über die geistige und moralische Substanz verfügten, um die unheilvollen Teile ihres Erbes zu überwinden und aus dessen wertvollem Gut Grundlagen für einen neuen Anfang zu legen. Ihre anfängliche Zustimmung und Mitwirkung nach 1933 sind daher keine „Schönheitsfehler“, die man ängstlich verbergen müsste, sondern im historischen Urteil macht gerade das den Rang und die Bedeutung ihrer Leistung aus, dass sie aus eigener Kraft ein Werk des Umdenkens und der moralischen Erneuerung für die gesamte Nation erbringen mussten. Das ist der unverlierbare Beitrag, den die Männer und Frauen, zu deren Gedenken wir hier versammelt sind, zur Geschichte unseres Volkes geleistet haben.







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