Die Männer und Frauen des 20. Juli setzten moralische Maßstäbe

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harald Wolf

Die Männer und Frauen des 20. Juli setzten moralische Maßstäbe

Ansprache des Berliner Bürgermeisters Harald Wolf am 19. Juli 2009 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle sehr herzlich im Berliner Rathaus. Ich darf Ihnen auch die herzlichen Grüße des Hausherrn, des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit übermitteln.

Gedenkjahre folgen oft einer eigenen Dramaturgie. So ist es auch in diesem Jahr.

Wir begehen den 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs,

gedenken des 65. Jahrestags des Staatsstreichs gegen Hitler vom 20. Juli 1944,

erinnern uns an 60 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik Deutschland

und feiern 20 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall.

Und zumindest einen Seitenblick wert ist der 80. Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung und der Gründung der Weimarer Republik.

Diese Häufung runder Jubiläen ist natürlich Zufall. Und doch lohnt es sich einmal genauer hinzuschauen. Wie Perlen auf der Schnur reihen sich Anlässe, um über das „Zeitalter der Extreme“ nachzudenken, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte.

Aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erfolgte ein kurzer wie vergeblicher demokratischer Aufbruch, dann faschistische Diktatur und Weltkrieg mit vielen Millionen Opfern von Krieg, Holocaust, Terror und Vertreibung. Deutschland und Europa lagen in Trümmern, waren mehr als vier Jahrzehnte geteilt. Der demokratische Neubeginn gelang nur im Westen, während Ostdeutschland, die DDR, sowie Mittel- und Osteuropa einen langen Umweg nahmen und bittere Erfahrungen mit einem Sozialismus ohne Freiheit und Demokratie machen mussten.

In diesem geschichtlichen Mahlstrom nehmen die tapferen Männer und Frauen des 20. Juli einen herausragenden Platz ein. Sie stemmten sich gegen den barbarischen Krieg und die mörderische Vernichtung. Sie waren nur wenige. Und sie folgten ihrem Gewissen. Vor allem die Offiziere unter den Verschwörern hatten lange mit sich gerungen. Die unbedingte soldatische Loyalitätspflicht stand gegen die Wahrnehmung eines Krieges, der allen Grundsätzen der Moral zutiefst widersprach. Und nicht zu vergessen: Die Brutalität der Judenvernichtung war für viele Verschwörer ein zentrales Motiv für ihren Widerstand.

Mit ihrem „Aufstand des Gewissens“ zeigt sich ein neues, ein anderes Deutschland, in dem der Einzelne zur moralischen Instanz wird, die obrigkeitsstaatliches Denken überwindet. So heterogen die Herkunft und die Motive der Verschwörer waren: Sie einte, wie Friedrich Olbricht bekannte, die „unendliche Sorge um unser Vaterland“ und die Bereitschaft, dafür zu sterben.

Die Befreiung des Gewissens war die Voraussetzung für eine Befreiung von der faschistischen Terrorherrschaft. In der Moralität des Staatsstreichs gegen Hitler liegt die Moralität eines Neubeginns unter antitotalitären und rechtsstaatlichen Vorzeichen begründet. Darin liegt ein bleibendes Verdienst des 20. Juli.

Zu Recht hat Winston Churchill kurz nach Kriegsende gesagt:

„In Deutschland lebte eine Opposition, die zum Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte der Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen oder außen, einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens ... Ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaus.“

Zugleich liefert diese Einschätzung auch einen Hinweis, warum der Widerstand des 20. Juli nach dem Krieg so wenig gewürdigt wurde. Man muss es so deutlich sagen: Die Männer und Frauen des 20. Juli haben ethische Maßstäbe gesetzt, denen die überwiegende Mehrheit der Deutschen nicht standhielten. Die waren Hitler gefolgt, hatten die scheinbaren Erfolge der Anfangszeit bejubelt, hatten sich gefreut oder einfach weggesehen, als vermeintliche Volksschädlinge wie Andersdenkende, Juden, Geisteskranke, Homosexuelle, Sinti und Roma verfolgt und ermordet wurden. Und diese Mehrheit wich auch nach 1945 ihrer historischen Verantwortung für Krieg und Völkermord aus und bezichtigte Stauffenberg und seine Mitstreiter des Verrats.

Der vor kurzem verstorbene große liberale Soziologe Ralf Dahrendorf hat im Jahr 1965, also 20 Jahre nach Kriegsende, gesagt: „Es gibt Winkel dieser Gesellschaft, in denen die oft gedankenlose Unmenschlichkeit als System fortlebt. Es gibt den beißenden Kontrast des Geredes von der Humanität zu der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben.“ – Kein Wunder also, dass lange Zeit vor allem das Scheitern des Staatsstreichs gegen Hitler als das eigentliche Resultat des 20. Juli im Blickpunkt stand – und nicht der moralische Maßstab, den die Frauen und Männer des Widerstands gesetzt haben.

Sie alle tragen durch vielfältige Initiative entscheidend dazu bei, dass das Vermächtnis des 20. Juli lebendig bleibt. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur unseres Landes. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Berlinerinnen und Berliner.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viele interessante Gespräche und gute Begegnungen im Berliner Rathaus.







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