Dimensionen des Widerstandes
Albert H. Friedlander
Dimensionen des Widerstandes
Vortrag des Rabbi an der Westminster Synagoge London und Direktors des Leo Baeck Colleges Professor Albert H. Friedlander Ph. D am 19. Juli 1984 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Meine Damen und Herren, Freunde,
in diesem Moment der gemeinsamen Trauer und des Nachdenkens sind wir zusammengekommen, um der Ereignisse des 20. Juli 1944 zu gedenken. In ganz Deutschland kommt es zu einem Moment des Nachdenkens, zu einer Zeit des Erinnerns und des Trauerns. Aber wie viele erinnern sich? Wie viele trauern? Und wie viele wollen alles aus dieser Zeit vergessen? Wir stehen heute an den äußeren Grenzen eines Ereignisses, eines Geschichtsbildes, welches uns in ein Terrain hereinbringt, wo alle Worte versagen. Paul Celan sprach in seiner „Engführung“ zu diesem Thema:
Jahre
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan,
tastet umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander,
hier wuchs es wieder zusammen –
wer deckte es zu
wer?
Kam, kam,
kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht- und Nacht.
Zum Aug geh, zum feuchten.
Über all dies müssen wir sprechen: Das Zudecken, das Wort, die Asche und das feuchte Auge.
Zehn Jahre nach dem Ereignis des 20. Juli sprach der Bundespräsident Theodor Heuss ein großes Wort über dieses Thema. Er sprach für die Gruppe, die sich heute hier trifft. Er verstand den alten Schmerz, das feuchte Auge; und er hatte die Autorität, über Dank und Bekenntnis zu sprechen, auf folgende Weise:
„Das Bekenntnis gilt nicht nur den inneren Motiven, sondern es umfasst auch das geschichtliche Recht zu ihrem Denken und Handeln. Der Dank aber weiß darum, dass die Erfolglosigkeit ihres Unternehmens dem Symbolcharakter des Opferganges nichts von seiner Würde raubt: Hier wurde in einer Zeit, da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und verschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens, den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten.“
In einer Zeit, in der sich die Bosheit und der brutale Machtsinn wieder zeigen, muss diese Erkenntnis erneuert werden, um den Trauernden in diesem Saal gerecht zu werden. Die Männer und Frauen des Widerstandes – die Dimensionen dieses Widerstandes müssten heute noch geprüft werden – leben in diesem Moment der Trauer, in diesem Gebot, in diesem Versuch, ein Geschichtsbild teilweise zu verstehen. Nur muss ich meine Sorge gestehen, dass ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle. Als geborener Berliner, als ein Kind der Zeit der Verfolgung und der Flucht, habe ich wohl vieles von der Vergangenheit in mich hineingenommen. Als ein Rabbiner, Seelsorger meines Volkes und aller Menschheit gegenüber offen, als Schüler und Freund Eberhard Bethges und Dietrich Goldschmidts, weiß ich auch, dass alle, die ich heute anspreche, durch das Furchtbare der Nazi-Zeit nur eine zerrissene Existenz führen können, dass wir alle die Narben der Zeit in unserer Seele tragen.
Ich will, ich muss jeden Einzelnen ansprechen; wie könnten wir nach unseren Erfahrungen einen Stereotyp benutzen und die anderen als eine Gruppe undifferenziert behandeln? Wir sind Menschen. Wir können miteinander reden. Aber wie kann ich dem Thema gerecht werden? Wenn ich vom Widerstand des 20. Juli spreche, muss ich ja besondere Dimensionen unterstreichen, die selten in dieser Zeit geprüft worden sind: Die Dimensionen des „Zu späts!“ – die meisten im Lager waren schon tot!; die Dimensionen des „Zu wenig!“ – die Situation der Verfolgten änderte sich nicht. Und wenn ich von den Männern und Frauen des Widerstandes spreche, ehre ich nicht nur die edlen Menschen, die ganz besonders mit dem 20. Juli identifiziert werden, sondern alle, die sich im Buche des Widerstandes gegen die Nazis einzeichneten: im Lager, im Ghetto, in den Straßen und Kellern der Städte. Ich kann euch nur anreden, weil ich euer Leiden verstehe; und ich muss weiterreden, weil wir uns nicht nur innerhalb des Leidens, sondern auch innerhalb der Geschichte treffen.
Mit Elie Wiesel muss ich sagen:
„Ich gehöre einem Volk an, dessen Leiden so alt ist, wie das Leid der Erde. Ich gehöre zu einem Volk, das die Erinnerung an das Leid wachhält; ich gehöre zu einem Volk, das sich mühte, das Leid zu mildern, es in seine Schranken zu weisen, es zu entwaffnen, und es – soweit dies möglich ist – menschenwürdig zu machen. Mein Volk ist ein Volk der Geschichte. Wir haben Geschichte gemacht – ich möchte fast sagen, mein Volk hat die Geschichte erfunden. Kein Volk gedenkt so wie das meinige sowohl seiner Feinde wie seiner Freunde. –
Zachor V-shamor b'dibur echad – uns wurde gesagt: erinnere Dich und halte das Gedenken lebendig. Wie gleichsam die übrigen Tage geschaffen sind um des einen Sabbattages willen, so möchte ich sagen, sind uns alle anderen Worte gegeben, um des einen Wortes willen: Gedenke!“
ZACHOR! Gedenke. Das Wort findet sich auch im Yad Va-Shem in Jerusalem, in einer Erinnerungsstätte, wo es auch eine Straße der Erinnerung für die gerechten Nicht-Juden gibt – für jeden einen Baum. Ein Freund, Rabbiner Hugo Gryn in London, sagte mir einst: „Ab und zu, wenn ich an einem dunklen Tag den Weg dieser Straße gehe, kommt mir der Gedanke, „mein Gott, wie wenige!“ Aber meistens denke ich dann nach und sage mir, „mein Gott, wie viele! „
ZACHOR! Gedenke. Am 20. Juli 1944 war der Junge Hugo Gryn einer der Gefangenen in Sachsenhausen. Man hatte keinen Namen, man war eine Nummer. Aber an diesem Tag wurde der Knabe von einem älteren Mann angesprochen, einem Mann mit verstümmelter Hand, von dem er nur wusste, dass er ein Adliger war. „Die Offiziere haben Hitler getötet“, sagte der Mann und plötzlich wusste es jeder im KZ. Die Stimmung änderte sich. Der Draht lockerte sich, das Dunkle zog sich in die Ecken zurück Dann aber, ein paar Stunden später, öffneten sich die Tore und die Militärwagen fuhren hinein, einer nach dem anderen, jeder mit gefangenen, gefesselten Offizieren. Da wusste man schon das Ende der Geschichte. Sachsenhausen war wieder das Land des Todes und die Neuen brauchten keine Nummer, denn der Tod drängte. Der Draht war scharf gezogen und die schwarze Milch des Todes wurde früh getrunken. Dies ist auch eine Erinnerung für den heutigen Tag des Gedenkens, sie gehört zu der Geschichte, die wir erforschen.
Die Eule Minervas betrachtet nur das dunkelnde Land. Jeder Geschichtsschreiber, der die Konturen des Vergangenen durch seinen eigenen Intellekt wieder herstellen will, begibt sich auf ein gefährliches Gebiet, in dem die eigene Geschichte die eigentliche Geschichte vertreiben kann. Dieses Wort kann auch für die Zeugen zutreffen. Thukydides beginnt seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ mit folgendem Satz: „Thukydides, ein Athener, schrieb die Geschichte des Krieges zwischen den Peloponnesern und den Athenern, beginnend mit dem Augenblick seines Ausbrechens und in dem Glauben, dass es ein großer Krieg sein werde, würdiger der Überlieferung als irgendein anderer, der ihm vorangegangen war.“
Mein Lehrer, Arthur Danto in New York, erklärte uns, dass diese kritische Befragung der Quellen und diese genaue Erzählung den Historiker zeigt, jedoch der Versuch, das Ereignis exemplarisch zu zeigen, sei das Werk des Sozialwissenschaftlers. Dasselbe würde auch für den 20. Juli und seine Ereignisse gelten, kann man, was damals geschah, als Exempel des Ethischen, immer Wahren, Unveränderlichen zeigen? Danto über Thukydides würde bedeuten (so Schwarz):
„Wenn wir der Einschätzung Dantos über die Beispielhaftigkeit des peloponnesischen Krieges folgen, so müsste gelten: wenn historische Handlungen damals als böse angesehen worden sind, müssten unter ähnlichen Bedingungen die gleichen Handlungen vom Geschichtsschreiber als böse angesehen werden.
Die Moral der Geschichte bestünde in der Unwandelbarkeit der ethischen Normen. Das Problem ist allerdings, ob sich Einmaligkeit und Wiederholbarkeit in der Geschichte oder auch nur im Verhalten eines einzigen Menschen so fein trennen lassen, wie dies in der abstrakten Methodik der Wissenschaftstheorie möglich zu sein scheint.“
Vor einigen Wochen tagte ein wissenschaftlicher Kongress hier in Berlin, der sich bemühte, viele der historischen Probleme des 20. Juli klar und deutlich zu zeigen, so dass es endlich zu einem deutlichen Verständnis zu diesem Thema kommen könnte. Eine wertvolle Arbeit wurde geleistet, die uns noch alle belehren wird; jetzt wissen wir, dass der Widerstand weiter verbreitet war, als wir dachten. Aber mein eigentliches Thema kann hier gar nicht zum Ausdruck kommen. Der Oxforder Historiker, Siegfried Crakauer, hat uns gesagt „Ob Geschichte als Ganzes eine Moral hat, ist zumindest im Rahmen von Geschichtsschreibung nicht entscheidbar“. So weit wie möglich habe ich jede Rede, die hier am 20 Juli gehalten wurde, sorgfältig gelesen. Die Wertung dieser Schriften würde auch einen interessanten Exkurs bieten. Doch etwas zu diesem Thema über Geschichte und Moral ist erkennbar in dem Streit über die Frage, ob der Widerstand gegen den Staat je gerechtfertigt ist? Der 20. Juli als Exempel für jede Zeit und gegen jede Autorität wird zaghaft behandelt und ab und zu abgelehnt. Eine lebendige Apologetik entwickelt sich in verschiedenen Vorträgen. Das Problematische unserer Zeit verbindet sich mit den Problemen von damals, ohne der Sache gerecht zu werden. Theodor Heuss beschrieb, wie damals, 1943, Goerdeler ihn in Stuttgart besuchte, um zu fragen „Wird es nach dem geplanten Attentat zu einer neuen ‚Dolchstoßlegende’ kommen?“ Die Antwort, von Heuss gegeben, war: „Damit wird man fertig werden, wenn erst die Ruchlosigkeit und die Rechtlosigkeiten dieser Zeit in ihren Dokumenten vorliegen“.
Diese Antwort bestätigte sich, allerdings nur für eine kurze Zeit. Hier kommen wir wieder zu der Erkenntnis, dass diese Zeit eine Zeit des Vergessens ist und dass das Exempel von Auschwitz, das Symbol aller staatlich organisierten Massenvernichtungen, die moralische Frage an die Geschichte und an unsere Zeit gerichtet – schon wieder abgelehnt wird. Theodor Heuss verstand, dass die wahre Legitimation des Widerstandes die Ablehnung der Ruchlosigkeit und der Rechtlosigkeit war. Hitlers Staat und Auschwitz waren dasselbe Wort. Diese brutale Macht musste angegriffen werden. Die historische Frage, was diese Gruppe von Auschwitz wusste, was die verschiedenen Gründe waren, die sie zum Widerstand brachte, diese Arbeit gehört den Wissenschaftlern. Es ist und bleibt eine wichtige Arbeit, die nie Auschwitz als Symbol und Realität ihrer Struktur ausschalten kann. Man kann sich nicht von der Vergangenheit Auschwitz lossagen, solange man in Verbindung mit den Protagonisten des 20. Juli bleibt.
Eine der tragischen Erfahrungen im Leben des Menschen ist es, dass unsere eigene Identität durch das Ringen mit den Gegnern geprägt wird, dass etwas von dem anderen an uns haften bleibt. Die Tragik dieser Stunde des Trauerns besteht in der Erkenntnis, dass die brutale Machtstruktur jener Zeit die Männer und Frauen des Widerstandes nicht losließ bis nach dem Tode. Heuss sagt, dass „die ErfolgIosigkeit ihres Unternehmens dem Symbolcharakter des Opferganges nichts von seiner Würde raubt“ – und das ist wahr. Als Symbol der Freiheit, als Symbol des Glaubens und des Guten können wir diese Gruppe der Brutalität gegenüberstellen und können uns mit ihr identifizieren. Wir dürfen nie vergessen, dass dies kein Sieg, sondern eine Niederlage war. Sie wurden getötet. Sie erreichten nicht ihr Ziel. Dankbar wird das Symbol in unser Leben gestellt. Doch die Realität bringt uns zur Trauer. Hier waren Menschen, die nicht sterben wollten. Was wir heute auch sagen; wie wir den Widerstand auch deuten, die eigentliche Tatsache ist der Tod anständiger Menschen, die leben sollten. Das feuchte Auge bringt uns zur Wahrheit der Geschichte, zu den Massenvernichtungen, die vom Staat organisiert wurden. Ich muss euch etwas sagen: „Es gibt keine Märtyrer“. Der Märtyrer wird ein Symbol. Die Überlebenden – die nächste Generation – verschleiert den Mord, weil man mit dem Symbol eher leben kann als mit der Realität. Doch jedes Leben ist einzig – ein Individuum. Et est ineffabile. Wir müssen das Leben feiern, nicht den Tod.
Wer deckte die Nahtstelle zu? Wo ist das leuchtende Wort? Wo ist die Asche? Zum Auge geh, zum feuchten!
Die Ehre, den Toten gebührend, darf nicht nur ein privater Moment in unserem Leben bleiben. Die Realitäten unseres Lebens haben einen Platz im Leben der Welt und werden trotzdem Symbole unserer Zeit, die den Weg zum Widerstand gegen das Böse zeigen müssen. In meiner eigenen Position als Rabbiner spreche ich ja auch zu eurer Trauer aus dem Gebiet der Shoa, des Holocausts. Gemeinsame Erfahrungen verbinden uns. Nur muss man sich doch hier in das Historische begeben. Wie finden wir eine Definition des Widerstandes, die uns eine gemeinsame Struktur des Denkens und des Lebens bietet? Hier wende ich mich zu H. G. Adlers „Geist und Struktur des Widerstandes“. Adler bringt uns auf diese Weise zusammen:
„Das äußerste Gegensatzpaar für das Wagnis eines Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Staat bildeten Deutsche und Juden. Im Sinne der Ideologie repräsentierten jene den höchsten Wert, diese den niedrigsten oder – richtiger – keinen Wert, schlechthin den Unwert; die einen waren die potentiellen Teilhaber aller Macht, die anderen ohnmächtig. Die Deutschen sollten leben, die Juden sterben. Die ersten hemmte das Gewissen, sich gegen die Regierung immerhin des eigenen Volkes auch mit den stärksten Mitteln zu erheben, die anderen forderte äußerste Drangsal und Todesbedrohung heraus, noch zum letzten verzweifelten Mittel zu greifen, das überhaupt erreichbar war. Die einen waren immerhin noch frei und konnten Mittel aufbringen, die anderen waren gefangen und mittellos. Diese Gegensatzpaare, die sich noch vermehren lassen, sind zu bedenken, ohne jedoch manche Gemeinsamkeiten zu verkennen. Nur an ein letztes sei noch erinnert: Den Deutschen standen allerlei Wege offen, die Juden hatten keinen anderen Ausweg.“
In diesem Moment kommen wir nicht zu einem Richterspruch, weder auf dem Gebiet der Geschichte noch in der Ethik. Wir suchen das Gemeinsame. Die „Schuldfrage“ ist etwas ganz anderes. Ob die einen Macht hatten und die anderen ohnmächtig waren; ob jene leben sollten und diese sterben sollten; ob es einen oder keinen Ausweg gab – alle standen unter der Machtstruktur. Die Widerstandsgruppe, die wir heute ehren, verstand etwas, was heute schon fremd klingt und selten verstanden wird: Beide sollten sterben, Deutsche und Juden. Der jüdische Körper sollte zerstört werden und der deutsche Geist sein Leben lassen. Anstand, Treue und Vernunft hatten keinen Platz in Hitlers System – das alles musste zerstört werden. Hitlers Plan war nie ausführbar, da er ja selbst mit der ganzen Welt nicht zufrieden gewesen wäre. Hätte er den Krieg gewonnen, wäre ein Großdeutschland seiner Träume entstanden und diese Struktur hätte dann den deutschen Geist und die deutsche Kultur völlig zermalmt. Die kleinen, feigen Neo-Nazis unserer Zeit, die Beschmierer der Grabsteine, sind ein belehrendes Beispiel, was so ein Land erschaffen hätte. Der Terrorismus, wie wir ihn heute erleben, ist auch ein Erzeugnis jener Zeit. Um den Widerstand des 20. Juli zu verstehen, müssen wir diese Dimension der Zeit genau erkennen. So sagt H. G. Adler:
„Der ideologisierte Staat kann zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft des Terrors nicht entbehren, der zu seinen formalen, oft nie legalisierten aber fest institutionalisierten exekutiven Mitteln gehört. So ist der Terror vom totalitären Staat überhaupt nicht zu trennen, und der sich gegen ihn richtende Widerstand gilt sogar ganz besonders dem hier waltenden Terror, dessen sich dieser Staat vorzüglich bedient, um gerade den Widerstand zu brechen. Wo rührt dieser Terror, der jedenfalls jeglichem von ihm erst entzündeten Gegenterror vorangeht, denn aber her? Er ist in jedem Fall erst von der einen Staat erobernden totalitären Partei – stets einer ideologisch beschwerten Bewegung institutionalisiert worden. Ja, der Terror gehört sogar zu den bevorzugten Mitteln, mit deren Hilfe eine totalitäre Bewegung zu ihrer ‚Machtergreifung’ und zur Befestigung ihrer Macht gelangt, was man beim Studium des Entstehens der Sowjetunion und nicht weniger deutlich beim Erkämpfen und Erschaffen des nationalsozialistischen Staates beobachten kann.“
Wie konnte man diese vergiftete Luft atmen?
Von Moltkes letzter Brief aus Tegel zeigt es so deutlich: „Bleibt das Dritte Reich über Erwarten doch – was ich mir in meinen kühnsten Phantasien nicht vorstellen kann, so mußt Du sehen, wie Du die Söhne dem Gift entziehst. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Du dann auch Deutschland verläßt.“ (S. 71, H. J. Graf von Moltke: Letzte Briefe, Berlin, Hensel, 1981).
Das Dritte Reich vergiftete die Umwelt. Jeder in diesem Reich hätte es merken und hätte Widerstand dagegen leisten können. Wenn wir in der Mitte unserer Trauer anerkennen, wie wenige diese Vergiftung spürten, wie viele sich von der Ideologie betäuben ließen und ihre eigene Identität in der brutalen Machtstruktur verlieren konnten, sagt dies desto mehr über die wenigen im Widerstand. Beinah das Wichtigste, was uns durch diese Gruppe gegeben wurde, ist der Beweis, dass es möglich war, Widerstand zu leisten und nicht nur an der Peripherie, sondern im Zentrum! Es war und bleibt eine Niederlage; die Gruppe siegte nicht. Doch das Individuum konnte hier die eigene Identität bewahren, konnte beweisen, dass das Menschliche das Unmenschliche besiegen kann, indem man sich nicht vom Terror, vom Gift ersticken ließ. Das muss geehrt und anerkannt werden.
Am 20. Todestag der Geschwister Scholl sprach Helmut Thielecke zum Thema unter dem Titel: „Von der Freiheit ein Mensch zu sein“ (Tübingen, 1963).
„Die Freiheit, ein Mensch zu sein, das war alles, was sie begehrten – und was sie zu zahlen bereit waren.“
Er beendete den Vortrag mit den Worten: „So lassen Sie mich schließen mit der Bitte, man möge es nicht als Missklang oder Taktlosigkeit verstehen, wenn manches Harte und Ärgerliche in dieser Stunde laut werden musste ... mir ging es darum, eben jenen furchtbaren Ernst hörbar zu machen, der nach uns greift, wenn Größe und Schrecken der Vergangenheit die Schwelle des Heute überschreiten und auf uns zufahren. ‚Monumentale Historie’ (Nietzsche) tut weh, wo sie ernst genommen wird. Und hier geht es um monumentale Historie.“
Der furchtbare Ernst dieser Stunde lässt uns erkennen, dass wir das Menschliche ehren, dass wir die Realität jedes Einzelnen, an den wir uns jetzt erinnern, im Leben bleiben lassen wollen. Es wäre ein gefährlicher Eingriff in die Geschichte, diesen Moment der Wahrheit im Leben dieser Menschen in eine vollständige Heldengeschichte umzubauen, die eine Vor- und Nachgeschichte braucht. Der Historiker Robert Paxton warnt uns vor den Schwierigkeiten dieser Geschichtsarbeit. In einem Kommentar über die Arbeit des Klemens von Klemperer und anderer erwähnt er:
„Eine Fallgrube (in dieser Geschichtsarbeit) ist, daß man sich danach sehnt, etwas Bewundernswürdiges in einer schwarzen Zeit zu finden: nicht nur mutigen Einzelnen gebührend Lob zu zollen, sondern Vergangenheit aufzubauen wie man sie wünscht, ob in dem Linken oder dem konservativen Widerstand gegen Hitler. Geschichte wird so intensiv persönlich hier ... und es ist auch unmöglich, den Mut der Konspiration gegen Hitler und deren Schicksal nicht intensiv zu empfinden. Es ist auch unmöglich, es nicht zu bedauern, daß Männer von solcher Qualität und unbestreitbarer Anständigkeit bis zum letzten Moment versuchten, die Quadratur des Kreises zu durchbrechen (to square the circle) und das Unmögliche zu erschaffen, um eine Diktatur zu beenden und zu zerstören.“ (Robert Paxlon „The German Opposition to Hitler: A Non-Germanist View“ in Central European History. Vol. XIV, No. 4, S. 368.“)
Bedauern wir nicht – viele wären noch aus den Lagern gerettet worden! Aber wir verlangen zu viel von der Vergangenheit, wenn wir erwarten, dass unsere Probleme durch einen Heldenmythos gelöst werden, besonders wenn wir durch einen kleinen Eingriff in die Geschichte einen mutigen und anständigen Lebensmoment in einen stellvertretenden Mythos für alle umschaffen? Wir kommen hier zum Trauern, zum beten, und man muss sich gegen eine Umwelt wehren, die den Versuch macht, heilige Erinnerungen in politischer und persönlicher Weise zu missbrauchen.
Es wäre ein Missbrauch, zu behaupten, dass diese Männer des Widerstandes das ganze deutsche Volk vertreten hätten. Die Stummen, Blinden und Tauben dieser Zeit – und die vielen, die alles mitmachten – dürfen hier keine Deckung bekommen. Um es zu wiederholen: Das große Geschenk, das uns durch die Männer des Widerstandes erreicht, ist der Beweis, dass Widerstand möglich war, genau in der Zeit, in der die große Mehrheit das Gift getrunken und sich unter die Diktatur gestellt hatte. Sie standen fast allein. Sie müssen von uns durch das menschliche Gebet erreicht werden. Dieses ist eine schwere, aber lohnende Aufgabe, die uns zum Wert des Lebens führt. Ein Memento von Carl Zuckmayer spricht diese Menschen an in ihrer Einsamkeit. Er sagt:
„Auf sie geht das Schicksalswort Hölderlins: ‚Uns ist es gegeben, an keiner Stätte zu ruhen’.“
Doch gibt es ein anderes Wort des gleichen Dichters, dass in diesem Augenblick gültig erscheint. Es lautet: „Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig.“ (Memento, Frankfurt am Main 1969, S 21).
Die Zeit ist buchstabengenau und wir müssen es auch sein. Wir dürfen nicht mehr verlangen, als uns gegeben ist. Unser Schatten darf nicht auf die Vergangenheit fallen. Die Anständigkeit und das Reine, der Mut und das Verständnis, wie man seine eigene Seele retten kann, kommt auf uns zu, wenn wir uns nur öffnen, wenn wir es nicht bestimmen. Celans Wort ist auch buchstabengenau:
„Kam, Kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.“
Aber wir müssen verstehen, dass das Wort nur in der Nacht leuchten kann.
Wir reden heute über den Widerstand. Der erste Schritt in diese Welt war die Anerkennung der menschlichen Dimension, das Verständnis für das Individuum in der Zeit der größten Not. Wenn man diese Einzelnen – und es waren Einzelne – in eine Struktur zusammenzieht, kommt man aber in ein anderes Gebiet: abstrakt, aber trotzdem im Zentrum des Lebens. Theodor Haubach, ein Mitglied des Kreisauer Kreises, sprach einst über den Terror und über die Gewalt:
„Die Grenze der Gewalt“, sagte er, „liegt darin, daß sie zwar die Person des Widerstandes, aber nie die Gesinnung des Widerstandes vernichten kann.“
Hier finden sich die Vereinzelten zusammen: nicht als eine organisierte Gruppe, als eine politische Gestalt mit inneren und äußeren Verbindungen, aber doch als Einzelne, die zu einem Verständnis gekommen sind, dass die Welt der Nazis eine Hölle ist, wo man nicht mitmachen kann. Ob man auch mit anderen Gleichdenkenden in Verbindung ist oder nicht: man weiß, dass sie existieren. Es gab einen organisierten Antifaschismus zwischen 1933 und 1945. Die Gruppe des 20. Juli war nicht der leitende Geist dieses Widerstandes: und man darf deshalb den ganzen Widerstand nicht durch die Repräsentation dieses Momentes gezeigt glauben. Was gezeigt wird, ist die Gesinnung jedes Widerstandes gegen die Nazis: Anstand, Mut, Glaube, Betroffenheit, Angst, Qual und Leiden. Durch die Trauer des 20. Juli müssen wir jetzt in die anderen Dimensionen des Widerstandes geführt werden, müssen verstehen, dass unsere Anerkennung dieses Momentes der Geschichte unvollkommen bleibt, soweit wir nicht an die vielen anderen denken, die sich in der dunklen Zeit bewährten. Politische und persönliche Zurückhaltungen, Zweifel und Misstrauen dürfen unsere Anerkennung für die Leute des Widerstandes nicht unterdrücken. Widerstand konnte man überall finden – immer zu wenig – und trotz aller Grenzen zwischen Gruppen war die gemeinschaftliche Gesinnung (und Not!) und die Dimension der Menschheit in dem Todestal eine gemeinsame Struktur, die man nie vergessen soll.
Ein neues Buch über die deutschen Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde (Selbstbehauptung und Widerstand, K. Kwiet und H. Eschwege, Hans Christians Verlag, Hamburg 1984) bringt uns zu der Wahrheit dieser Tage:
„Unter diesen Umständen haben die Juden auf die Bedrohung durch den Nationalsozialismus kaum anders reagiert als die Mehrheit der deutschen Hitlergegner. Sie erkannten als Betroffene die heraufziehende Gefahr oft früher und klarer, aber sie teilten als Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Liberale, Konservative unterschiedlichster Prägung, die Vorstellungen, Irrtümer und Illusionen ihrer Partei oder Gruppe. Als Geschäftsleute, als Akademiker oder Beamte waren sie ebenso standhaft oder kleinmütig wie ihre nichtjüdischen Berufskollegen, sie trafen sich mit anderen gleichaltrigen Deutschen in ihrer Skepsis oder in den verschiedenartigsten Erwartungen. Tatbereit waren nur junge Menschen.“
Es ist wichtig, dieses Bild im Auge zu behalten. Das Schicksal der deutschen Juden war ein verschiedenes von dem Schicksal ihrer Mitbürger. Viele der Juden gingen in den Tod; die meisten ihrer Mitbürger überlebten Hitler. Aber am Anfang reagierten sie in derselben Weise wie die anderen in ihren Vorstellungen, Irrtümern und Illusionen. Wenn man sich den Widerstand der ersten Zeit, von 1933 an, ansieht, so kann man von einem Zusammenleben der Hitlergegner sprechen, wie man auch von einem gemeinsamen Missverständnis sprechen kann. Und man muss auch anerkennen, dass in dieser Zeit die Mehrzahl der Hitler-Gegner von der linken Seite kamen, und dass sich dies auch in den folgenden Jahren zeigte. Wieder muss betont werden, dass wir die Leute des Widerstands nicht würdigen, wenn wir diese Geschichte nur von der politischen Seite aus verstehen wollen. Hier, in der Stunde des Gedenkens zum 20. Juli, erweitern wir unser Verständnis, so dass wir alle ehren können, die standhaft gegen Hitler waren. Aber noch mehr als alle Schichten in der sozialen Struktur erforschen, wo sich Widerstand gegen Hitler zeigte, müssen wir zu der Erkenntnis kommen, dass die jüdische Gemeinde jener Zeit als eine ganz besondere Widerstandsstruktur existierte.
Passiver und aktiver Widerstand gehören zusammen. Der 20. Juli war nicht nur ein Moment im Leben der Verbündeten gegen Hitler. Er war der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich im Leben dieser Menschen auf passive und aktive Weise zeigte. Schon als Einziger bestehen zu können, schon anders als die Umwelt zu denken, war Widerstand. Das Verbrennen der Bücher zeigt, wie gut das von den Nazis verstanden wurde. Auch der Angriff gegen die Juden – dass sie eben anders waren als die Umwelt, führt uns zu einem tieferen Verständnis der Geschichte des Widerstandes. Etwas anderes zu sein in dieser Zeit ehrt den Menschen, auch wenn es den Juden aufgezwungen wurde. „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“, schrieb Robert Weltsch zu jener Zeit. Und, wie Ernst Simon in seinem Buch „Aufbau im Untergang“ (1934) beschrieb, wurden genau in dieser Zeit der Zerstörung der Gemeinden neue Schulen gegründet, neue Strukturen der Erwachsenen-Bildung geschaffen, neue Gebete geschrieben. Den aktiven jüdischen Widerstand späterer Zeit müssen wir noch würdigen – in den Ghettos, im KZ. Aber wir müssen auch die Dimensionen des passiven Widerstands erkennen, wie er sich in den jüdischen Gemeinden zeigte, und wie er sich entwickelte, um der Wahrheit dieser Stunde des Denkens und Nachdenkens gerecht zu werden. Denn dieser passive Widerstand brachte Juden und Nicht-Juden zusammen – nicht nur, weil sie in derselben Welt lebten, sondern auch, weil sie Kenntnisse voneinander hatten. Leo Baeck, in einigen Briefen nach dem Krieg, aber auch in Dokumenten, die er im Lager schrieb (LBI Yearbook III, 1958, S. 361 ff.), sprach von seinen Verbindungen mit den Leuten des deutschen Widerstands, auch vom Kontakt zu der Gruppe, der wir heute ganz besonders gedenken. Und, dass diese Gruppe kein vollständig isoliertes Phänomen war, dass man dennoch Widerstand im einfachen Alltagsleben jener Zeit finden konnte, wird durch Lebenserfahrungen der Einzelnen begründet. Wie andere fand ich auch ein Versteck bei christlichen Freunden in der Kristallnacht. Aber ich war unter den wenigen; und die Menschen des Widerstandes zeugen doch für eine Möglichkeit, die von der Mehrheit nicht wahrgenommen wurde. Hätte es mehr Widerstand gegeben, wäre es nicht zu der obszönen „Endlösung“ gekommen, zu diesen Grausamkeiten, die auch von einer Vergiftung des Denkens und der Sprache zeugen, die eben nicht vergessen werden muss. Wir müssen den passiven Widerstand verstehen, ganz besonders bei den Verfolgten, die waffenlos und machtlos waren. Doch darf dieser passive Widerstand keine Entschuldigung für die große Mehrheit sein, die sich nicht gegen Hitler stellte. Passivität und Apathie sind etwas vollständig anderes als passiver Widerstand! Und es waren die wenigen, eben der Widerstand des 20. Juli, welcher am Ende bewies, dass der wirkliche passive Widerstand sich am Ende in einer Tat zeigen musste, die das Leben der Täter forderte. In diesem Moment wurde diese Tat ein Widerstand, welcher sich auch gegen die vielen Mitgänger der Nazis bewährte. Es ist nicht erlaubt, diese Tat politisch zu benutzen, zu missbrauchen als Tarnung für die Schuld der vielen.
Vor einigen Tagen erklärte Professor H. Mommsen in der Tagung der historischen Forschung zum 20. Juli, dass erst jetzt, nach dem Verblassen der Idee der „kollektiven Schuld der Deutschen“, man zu einer soziologischen Nachforschung dieser Zeit kommen könnte. Das hat auch seinen Sinn – solange man nicht die historische Wahrheit verschleiert. Die Juden – und die Sinti und Roma – und so viele andere, können Auschwitz nicht vergessen. Aber die Deutschen – dürfen Auschwitz nicht vergessen. Der 20. Juli unterstützt uns hier: Er bringt uns in eine Welt, wo man sich gegen die Grausamkeit wehren wollte. Ein anderer Teilnehmer an der Berliner Tagung war Professor Peter Steinbach, der in der Forschung über diese Zeit eine Methode zum Erreichen der nationalen Identität fand, die auch von der DDR benutzt wird. Aber jetzt, meinte er, käme es zu einem neuen Realismus und zu einer offeneren Betrachtung der deutschen Geschichte. Wieder habe ich nichts dagegen, solange man versteht, dass das Erringen unserer Identität außerhalb der Geschichtsforschung weitergehen muss, und dass man die Ereignisse der vergangenen Zeit trotzdem benutzt, um den Weg zur Identität zu finden. Man darf nicht in die Geschichtsschreibung eingreifen, und wir müssen die Historiker antiker und neuer Zeit in ihrer Treue zur Wahrheit bestätigen und unterstützen. Aber dann müssen wir die Geschichte in ihrer Wahrheit verstehen und nicht vor den Konsequenzen zurückschrecken. Was diese Geschichte heute bedeutet, sagte uns vor kurzem Günter Grass (Die Zeit, Nr. 6, 4. Februar 1983):
„Hitlers Machtergreifung – wie es vereinfachend heißt – wurde von Kräften gewollt und gestützt, von Kräften bekämpft und doch nicht verhindert, die es immer noch gibt und die allesamt, wenn auch unterschiedlich gewichtet, bis heute verantwortlich sind für den unheilbaren Bruch im Verlauf deutscher Geschichte und die Einleitung eines verbrecherischen Prozesses ohne Vergleich.“
Wie Grass zeigt, versagten Großindustrie und die Gewerkschaften, die Sozialdemokraten und die Kirchen, die Kommunisten (zu beschäftigt im Kampf gegen die Sozialdemokratie): „Nicht eigene Stärke, die Schwäche seiner Gegner hat Hitlers Macht befestigt. Es fehlte der Entschluß zum Widerstand“ (ibid). Auch deshalb ist diese Stunde etwas Wichtiges für uns: Sie besagt nicht nur, dass es Widerstand gab, sondern auch, dass es Widerstand geben muss.
Es ist ein Widerstand gegen den Staat, gegen den Staatseid, und dieses bringt Probleme für jede Zeit; man kann dies nicht einfach beiseite schieben. Die Funktion des modernen Staates existiert in einem amoralischen Gebiet. H. G. Adlers bekannte Schrift über den „Verwalteten Mensch“ zeigt uns, wie Verwaltung zur Gewalt und Zerstörung führt. Der Widerstand kommt aus dem moralischen Gebiet, welches außerhalb dieser Struktur steht und an einem gewissen Zeitpunkt genau diese Struktur angreifen muss. 1934 schrieb J. Huizinga seinen Aufsatz „Der Staat dem Staate ein Wolf?“ und fand diese Formulierung für unser Problem:
„Der Staat ist ein Wesen, das bei der gegebenen Unvollkommenheit der menschlichen Dinge sich mit einer scheinbaren Notwendigkeit nach Normen verhalten wird, die nicht diejenigen einer auf Vertrauen fundierten gesellschaftlichen Sittlichkeit sind, geschweige denn diejenigen des christlichen Glaubens. Und trotzdem wird er weder die christliche noch die gesellschaftliche Norm der Sittlichkeit ganz aus dem Auge verlieren dürfen bei Strafe des Untergangs infolge seiner eigenen Apostasie.
Die Seherin der Edda sang: ,Windzeit, Wolfzeit – Ehe die Welt vergeht, wird kein Mann – Andere schonen.'
Aber wir wollen nicht untergehn!“
So Huizinga. Aber der Untergang kam für jene, die keinen Widerstand leisten wollten. Die Männer und Frauen – man darf auch die inneren Kräfte des Familienlebens als Bestandteile eines wahren Widerstandes nie verkennen – diese Menschen des 20. Juli kämpften nicht nur gegen Hitler, sondern auch gegen den amoralischen Staat. Hätte man nur innerhalb der Gesetze des Dritten Reiches gelebt, könnte man von gesetzwidrigen Handlungen des Widerstandes reden. Aber der Staat war vergiftet; Hitler war der Verräter. Castigliones II Cortegiano billigt den Angriff gegen den Tyrann: „Tempel und Opfer und göttliche Ehrungen brachte man Herkules ... weil er den Tyrann vernichtete“.
Der Widerstand gegen den Staat – aktiv und passiv und innerhalb aller Gruppen der Unterdrückten und noch nicht Unterdrückten in diesem Staat – ist eine Erweiterung des moralischen Gebietes, welches die Macht des Staates immer wieder einzwängen muss. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Verfolgten innerhalb der Machtstruktur nie richtig gehört werden, wenn sie den Staat anklagen und sich ihm widersetzen. Man verweigert ihnen das Gehör, weil sie ja „aus Selbstinteresse sprächen“! Wenn man schuldig ist, verfolgt zu sein, wird man kaum gehört. In den Schriften der Leute des 20. Juli gibt es klare und deutliche Urteile über das Unwesen des Dritten Reiches – denken wir nur an Bonhoeffer und von Moltke. Und wie wird dies gedeutet? Als Selbstverteidigung! Den Vorurteilen des Machtstaates wird so weiter gehuldigt. Aber wir müssen diese Grenzen verlassen, müssen auch die Grenzen der Wissenschaft überschreiten, um uns in das moralische Gebiet zu begeben, wo wir uns unserer eigenen tragischen Existenz bewusst werden. In seiner Antrittsvorlesung an die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, im Jahre 1938, sprach Eugen Täubler zu seinen jüdischen Studenten, die meist dem Tode entgegengingen:
„Behalten wir, was wir als beseligenden Traum besitzen, aber vergessen wir darüber nicht, unser Schicksal und unsere Zeit aus uns sprechen zu lassen. Es bedarf keiner neuen Rede, sondern, so scheint es mir, nur des Innewerdens eines neuen Bewußtseins, das den Juden fähig macht, sein Schicksal als unabdingbare Folge seiner religiösen Sonderart zu verstehen und sich zum Tragischen seiner Existenz, als dem Ausdruck seiner Erwähltheit, zu bekennen. Dann könnte er, seines religiösen Sinnes voll, vielleicht auch noch einmal fähig werden, die Siegel von Worten zu lösen, in denen die Menschheit wiederum die Offenbarung des Höchsten verehrt.
Aber hier beginnt der Blick sich in die Jahrhunderte zu verlieren, die vor uns liegen.
Wo gerate ich hin? Schon habe ich die Grenze überschritten, die mir die Wissenschaft, die ich hier vertreten soll, gezogen hat. Meine Aufgabe soll es sein, zu lehren, was man geschichtlich erkennen kann und wie man mit wissenschaftlichen Mitteln zu Erkenntnissen kommt, und nichts anderes soll vor Ihren Ohren, liebe Kommilitonen, laut werden. Aber es mag vor dem Beginn dieser Tätigkeit an der Zeit gewesen sein, auf das aufmerksam zu machen, was in meinem Sinne über die Grenzen weist. Und wenn ich Ihnen erzählen werde, was einmal gewesen ist, so werden Sie darüber so wenig wie ich vergessen, was es bedeutet, unter dem Zeichen eines noch nicht vollendeten Schicksals zu stehen.“
Die Spuren im Gras sind bald verschwunden. Der Wind hat die Asche verweht. Der Tod lebt meistens in Betonsäulen, im Feuer, das alles vernichten sollte, im Eis, das die Rache gegen den Widerstand noch weiter führen sollte, bis zum letzten Moment. Aber in dieser Stunde der Andacht überwinden wir das Vergessen in der Geschichte. Unsere Trauer und unsere Liebe bewachen das Licht und das Wort der Wahrheit von damals.
Mit Paul Celan sind wir...
„Mit den Verfolgten in spätem,
unverschwiegenem,
strahlendem
Bund.“
(P. Celan, Atemwende)
Dieser Bund ist ein Siegel auf unseren Herzen. Erst jetzt verstehen wir die Worte des Hohelieds:
„Ja, stark wie der Tod ist die Liebe,
hart wie die Unterwelt die Leidenschaft“ (8.6).
Die Liebe ist auch hart und grell wie der Tod, bitter und dunkel, eine Macht im Leben, die die Grenzen zerschlägt und die sich im Widerstand bewährt. Und in dieser Liebe besteht auch die Kraft, den Kreis des Anerkennens zu erweitern und sich über alle Vorurteile zu setzen. Hier, in dieser Gruppe, wo die Liebe und das Anerkennen des Widerstandes ein beständiges Feuer auf dem Altar der Erinnerung blieb, muss man die Dimensionen dieser Liebe erweitern und die Verbindungen zwischen allen Gegnern Hitlers erkennen. Wir sind in Berlin und erinnern uns an die Tat und an den Tod. Hier in Berlin gab es auch die Gruppe Baum, die denselben Feind bekämpften und die auch sterben mussten, weil sie in der Welt Hitlers nicht leben konnten. Die Studenten hier in Berlin haben uns gezeigt, wie diese Gruppe geehrt werden sollte – und es wäre auch eine Ehre für die Universität und für das akademische Leben, hier ein Baum-Auditorium betreten zu dürfen. Genau, weil dieser Widerstand nicht aus den akademischen Kreisen, sondern in dem schweren Leben der Arbeiter entstand, sollte es seinen Platz hier an der Universität finden.
Und die Liebe führt uns weiter, führt uns vom Generalstab in die Grenzgebiete, zum Warschau-Ghetto, wo ein Widerstand geboten wurde, der jetzt von der ganzen Welt als etwas Heroisches, Unvergessenes anerkannt wird. Es ist eine Geschichte, die von Massada bis zum heutigen Jerusalem führt, die sich in den vielen Ghettos und KZs bewährte, eine Geschichte des Mutes und der moralischen Kraft. Widerstand zu leisten, wo man keine Waffen hatte, Mensch zu bleiben in der Welt des Unmenschen, den passiven und religiösen Widerstand als ein leuchtendes Beispiel in die Welt zu stellen – dieses Vorbild wurde uns von allen Hitler-Gegnern in unser Leben gestellt. Trotz der Waffenlosigkeit kam es zu Aufständen in fast jedem Konzentrationslager. Trotz der Hoffnungslosigkeit innerhalb des Machtstaates gab es diejenigen, die zum Protest bereit waren und in dunkler Stunde ihr Leben einsetzten. Wäre es nur früher gewesen – aber das nimmt nichts von dem Widerstand weg. Helmut Gollwitzer sagte es auf diese Weise:
„Wenn wir nach dem Krieg vom Ausland her gefragt wurden, weshalb wir nicht offen gegen den nazistischen Völkermord protestiert haben, pflegte ich darauf zu antworten: Als das große Morden begann, war es für den offenen Protest zu spät ... unser schuldhaftes Versäumen lag nicht in dieser Zeit, sondern vorher ... wir hätten offener sprechen müssen ... um die Machthaber zu hemmen. Und freilich, als es zum Reden zu spät war, hätten wir nicht nur helfen sollen, sondern ... uns so praktisch mit den Verfolgten identifizieren sollen, wie jener Priester in Rolf Hochhuths ,Stellvertreter' ... ohne Bekenntnis ... kann keiner ... von seinem ... Widerstand in jener Zeit erzählen.“ (H. Gollwitzer „Aus der Bekennenden Kirche“ in: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933-1945 (Hg. Richard Loewenthal und Patrik von zur Mühlen, Berlin 1982, S.138).
In den letzten Minuten dieser Stunde des Andenkens und der Trauer müssen wir diesem Rat folgen. Wir müssen uns mit den Verfolgten identifizieren. Unsere eigenen Erinnerungen an die Geliebten, die in dunkler Zeit sterben mussten, werden schwach, so schwach, wie wir sind. Aber unsere Liebe bleibt stark wie der Tod, hart wie die Unterwelt. Und das Erbe der Geliebten kann erworben werden; das leuchtende Wort der Nacht, die Treue und der Anstand, bleibt und bringt uns in die Verbindung mit allen Verfolgten jener Zeit und dieser Zeit. Das letzte Wort des Geschichtsschreibers bleibt das Zusammenbringen der Toten und Lebenden und die Anerkennung der moralischen Arbeit – Widerstand gegen das Böse – welches uns alle zusammenführt. Furcht und Ernst sind Bestandteile unserer monumentalen Historie. Aber das kommt genau aus der Möglichkeit, unserer Aufgabe gerecht zu werden. In seiner Friedenspreis-Rede sprach Karl Jaspers über den „deutschen Schmerz“:
„... die deutsche Verzweiflung, die sich so verquer äußert, im Zorn und im grimmigen Lachen, die die Liebe verbergen, weil der Gegenstand der Liebe, den sie doch in sich tragen, verloren scheint.“ (K. Jaspers „Wahrheit, Freiheit und Liebe“, Rede zur Verleihung des Friedenspreises 1958, München)
Aber der Gegenstand ist nicht verloren, und wir haben ihn in dieser ernsten Stunde wiedergefunden. Die Menschen des Widerstandes, die Wahrheit des Widerstandes und die Lehren des Widerstandes vereinigen uns. Wir denken an alle. An alle. Wir tragen sie alle in uns und sie tragen uns. In unserem Schmerz, in unserer Liebe, in unserer Hoffnung ehren wir den Widerstand.
Bei Ihrem Besuch in Israel standen Sie, Herr Dr. Kohl, beim Yad Va-Shem Monument, am Platz, wo die Linien unserer Geschichte wieder zusammenkommen und den gemeinsamen Weg in die Zukunft zeigen. Zachor! Gedenke! Die Asche. Die Nacht. Das feuchte Auge. Und die Anerkennung der Gerechten.
Jeder, in diesem Buch der Gerechten, ist der Beweis einer talmudischen Lehre: „Wer ein Leben gerettet hat, ist, als ob er die Existenz der ganzen Welt gerettet hat!“ Aber die Welt muss jeden Tag neu gerettet werden. Jeden Tag müssen wir dem Bösen Widerstand leisten, müssen wir uns verwehren, schuldig an neuen Katastrophen zu werden.
Und jeder Tag sollte ein Tag der Erinnerung werden, ein Tag der Liebe und der Mitmenschlichkeit.
Jeder Tag.
Ich danke Ihnen.
Dimensionen des Widerstandes
Vortrag des Rabbi an der Westminster Synagoge London und Direktors des Leo Baeck Colleges Professor Albert H. Friedlander Ph. D am 19. Juli 1984 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Meine Damen und Herren, Freunde,
in diesem Moment der gemeinsamen Trauer und des Nachdenkens sind wir zusammengekommen, um der Ereignisse des 20. Juli 1944 zu gedenken. In ganz Deutschland kommt es zu einem Moment des Nachdenkens, zu einer Zeit des Erinnerns und des Trauerns. Aber wie viele erinnern sich? Wie viele trauern? Und wie viele wollen alles aus dieser Zeit vergessen? Wir stehen heute an den äußeren Grenzen eines Ereignisses, eines Geschichtsbildes, welches uns in ein Terrain hereinbringt, wo alle Worte versagen. Paul Celan sprach in seiner „Engführung“ zu diesem Thema:
Jahre
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan,
tastet umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander,
hier wuchs es wieder zusammen –
wer deckte es zu
wer?
Kam, kam,
kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht- und Nacht.
Zum Aug geh, zum feuchten.
Über all dies müssen wir sprechen: Das Zudecken, das Wort, die Asche und das feuchte Auge.
Zehn Jahre nach dem Ereignis des 20. Juli sprach der Bundespräsident Theodor Heuss ein großes Wort über dieses Thema. Er sprach für die Gruppe, die sich heute hier trifft. Er verstand den alten Schmerz, das feuchte Auge; und er hatte die Autorität, über Dank und Bekenntnis zu sprechen, auf folgende Weise:
„Das Bekenntnis gilt nicht nur den inneren Motiven, sondern es umfasst auch das geschichtliche Recht zu ihrem Denken und Handeln. Der Dank aber weiß darum, dass die Erfolglosigkeit ihres Unternehmens dem Symbolcharakter des Opferganges nichts von seiner Würde raubt: Hier wurde in einer Zeit, da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und verschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens, den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten.“
In einer Zeit, in der sich die Bosheit und der brutale Machtsinn wieder zeigen, muss diese Erkenntnis erneuert werden, um den Trauernden in diesem Saal gerecht zu werden. Die Männer und Frauen des Widerstandes – die Dimensionen dieses Widerstandes müssten heute noch geprüft werden – leben in diesem Moment der Trauer, in diesem Gebot, in diesem Versuch, ein Geschichtsbild teilweise zu verstehen. Nur muss ich meine Sorge gestehen, dass ich mich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle. Als geborener Berliner, als ein Kind der Zeit der Verfolgung und der Flucht, habe ich wohl vieles von der Vergangenheit in mich hineingenommen. Als ein Rabbiner, Seelsorger meines Volkes und aller Menschheit gegenüber offen, als Schüler und Freund Eberhard Bethges und Dietrich Goldschmidts, weiß ich auch, dass alle, die ich heute anspreche, durch das Furchtbare der Nazi-Zeit nur eine zerrissene Existenz führen können, dass wir alle die Narben der Zeit in unserer Seele tragen.
Ich will, ich muss jeden Einzelnen ansprechen; wie könnten wir nach unseren Erfahrungen einen Stereotyp benutzen und die anderen als eine Gruppe undifferenziert behandeln? Wir sind Menschen. Wir können miteinander reden. Aber wie kann ich dem Thema gerecht werden? Wenn ich vom Widerstand des 20. Juli spreche, muss ich ja besondere Dimensionen unterstreichen, die selten in dieser Zeit geprüft worden sind: Die Dimensionen des „Zu späts!“ – die meisten im Lager waren schon tot!; die Dimensionen des „Zu wenig!“ – die Situation der Verfolgten änderte sich nicht. Und wenn ich von den Männern und Frauen des Widerstandes spreche, ehre ich nicht nur die edlen Menschen, die ganz besonders mit dem 20. Juli identifiziert werden, sondern alle, die sich im Buche des Widerstandes gegen die Nazis einzeichneten: im Lager, im Ghetto, in den Straßen und Kellern der Städte. Ich kann euch nur anreden, weil ich euer Leiden verstehe; und ich muss weiterreden, weil wir uns nicht nur innerhalb des Leidens, sondern auch innerhalb der Geschichte treffen.
Mit Elie Wiesel muss ich sagen:
„Ich gehöre einem Volk an, dessen Leiden so alt ist, wie das Leid der Erde. Ich gehöre zu einem Volk, das die Erinnerung an das Leid wachhält; ich gehöre zu einem Volk, das sich mühte, das Leid zu mildern, es in seine Schranken zu weisen, es zu entwaffnen, und es – soweit dies möglich ist – menschenwürdig zu machen. Mein Volk ist ein Volk der Geschichte. Wir haben Geschichte gemacht – ich möchte fast sagen, mein Volk hat die Geschichte erfunden. Kein Volk gedenkt so wie das meinige sowohl seiner Feinde wie seiner Freunde. –
Zachor V-shamor b'dibur echad – uns wurde gesagt: erinnere Dich und halte das Gedenken lebendig. Wie gleichsam die übrigen Tage geschaffen sind um des einen Sabbattages willen, so möchte ich sagen, sind uns alle anderen Worte gegeben, um des einen Wortes willen: Gedenke!“
ZACHOR! Gedenke. Das Wort findet sich auch im Yad Va-Shem in Jerusalem, in einer Erinnerungsstätte, wo es auch eine Straße der Erinnerung für die gerechten Nicht-Juden gibt – für jeden einen Baum. Ein Freund, Rabbiner Hugo Gryn in London, sagte mir einst: „Ab und zu, wenn ich an einem dunklen Tag den Weg dieser Straße gehe, kommt mir der Gedanke, „mein Gott, wie wenige!“ Aber meistens denke ich dann nach und sage mir, „mein Gott, wie viele! „
ZACHOR! Gedenke. Am 20. Juli 1944 war der Junge Hugo Gryn einer der Gefangenen in Sachsenhausen. Man hatte keinen Namen, man war eine Nummer. Aber an diesem Tag wurde der Knabe von einem älteren Mann angesprochen, einem Mann mit verstümmelter Hand, von dem er nur wusste, dass er ein Adliger war. „Die Offiziere haben Hitler getötet“, sagte der Mann und plötzlich wusste es jeder im KZ. Die Stimmung änderte sich. Der Draht lockerte sich, das Dunkle zog sich in die Ecken zurück Dann aber, ein paar Stunden später, öffneten sich die Tore und die Militärwagen fuhren hinein, einer nach dem anderen, jeder mit gefangenen, gefesselten Offizieren. Da wusste man schon das Ende der Geschichte. Sachsenhausen war wieder das Land des Todes und die Neuen brauchten keine Nummer, denn der Tod drängte. Der Draht war scharf gezogen und die schwarze Milch des Todes wurde früh getrunken. Dies ist auch eine Erinnerung für den heutigen Tag des Gedenkens, sie gehört zu der Geschichte, die wir erforschen.
Die Eule Minervas betrachtet nur das dunkelnde Land. Jeder Geschichtsschreiber, der die Konturen des Vergangenen durch seinen eigenen Intellekt wieder herstellen will, begibt sich auf ein gefährliches Gebiet, in dem die eigene Geschichte die eigentliche Geschichte vertreiben kann. Dieses Wort kann auch für die Zeugen zutreffen. Thukydides beginnt seine „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ mit folgendem Satz: „Thukydides, ein Athener, schrieb die Geschichte des Krieges zwischen den Peloponnesern und den Athenern, beginnend mit dem Augenblick seines Ausbrechens und in dem Glauben, dass es ein großer Krieg sein werde, würdiger der Überlieferung als irgendein anderer, der ihm vorangegangen war.“
Mein Lehrer, Arthur Danto in New York, erklärte uns, dass diese kritische Befragung der Quellen und diese genaue Erzählung den Historiker zeigt, jedoch der Versuch, das Ereignis exemplarisch zu zeigen, sei das Werk des Sozialwissenschaftlers. Dasselbe würde auch für den 20. Juli und seine Ereignisse gelten, kann man, was damals geschah, als Exempel des Ethischen, immer Wahren, Unveränderlichen zeigen? Danto über Thukydides würde bedeuten (so Schwarz):
„Wenn wir der Einschätzung Dantos über die Beispielhaftigkeit des peloponnesischen Krieges folgen, so müsste gelten: wenn historische Handlungen damals als böse angesehen worden sind, müssten unter ähnlichen Bedingungen die gleichen Handlungen vom Geschichtsschreiber als böse angesehen werden.
Die Moral der Geschichte bestünde in der Unwandelbarkeit der ethischen Normen. Das Problem ist allerdings, ob sich Einmaligkeit und Wiederholbarkeit in der Geschichte oder auch nur im Verhalten eines einzigen Menschen so fein trennen lassen, wie dies in der abstrakten Methodik der Wissenschaftstheorie möglich zu sein scheint.“
Vor einigen Wochen tagte ein wissenschaftlicher Kongress hier in Berlin, der sich bemühte, viele der historischen Probleme des 20. Juli klar und deutlich zu zeigen, so dass es endlich zu einem deutlichen Verständnis zu diesem Thema kommen könnte. Eine wertvolle Arbeit wurde geleistet, die uns noch alle belehren wird; jetzt wissen wir, dass der Widerstand weiter verbreitet war, als wir dachten. Aber mein eigentliches Thema kann hier gar nicht zum Ausdruck kommen. Der Oxforder Historiker, Siegfried Crakauer, hat uns gesagt „Ob Geschichte als Ganzes eine Moral hat, ist zumindest im Rahmen von Geschichtsschreibung nicht entscheidbar“. So weit wie möglich habe ich jede Rede, die hier am 20 Juli gehalten wurde, sorgfältig gelesen. Die Wertung dieser Schriften würde auch einen interessanten Exkurs bieten. Doch etwas zu diesem Thema über Geschichte und Moral ist erkennbar in dem Streit über die Frage, ob der Widerstand gegen den Staat je gerechtfertigt ist? Der 20. Juli als Exempel für jede Zeit und gegen jede Autorität wird zaghaft behandelt und ab und zu abgelehnt. Eine lebendige Apologetik entwickelt sich in verschiedenen Vorträgen. Das Problematische unserer Zeit verbindet sich mit den Problemen von damals, ohne der Sache gerecht zu werden. Theodor Heuss beschrieb, wie damals, 1943, Goerdeler ihn in Stuttgart besuchte, um zu fragen „Wird es nach dem geplanten Attentat zu einer neuen ‚Dolchstoßlegende’ kommen?“ Die Antwort, von Heuss gegeben, war: „Damit wird man fertig werden, wenn erst die Ruchlosigkeit und die Rechtlosigkeiten dieser Zeit in ihren Dokumenten vorliegen“.
Diese Antwort bestätigte sich, allerdings nur für eine kurze Zeit. Hier kommen wir wieder zu der Erkenntnis, dass diese Zeit eine Zeit des Vergessens ist und dass das Exempel von Auschwitz, das Symbol aller staatlich organisierten Massenvernichtungen, die moralische Frage an die Geschichte und an unsere Zeit gerichtet – schon wieder abgelehnt wird. Theodor Heuss verstand, dass die wahre Legitimation des Widerstandes die Ablehnung der Ruchlosigkeit und der Rechtlosigkeit war. Hitlers Staat und Auschwitz waren dasselbe Wort. Diese brutale Macht musste angegriffen werden. Die historische Frage, was diese Gruppe von Auschwitz wusste, was die verschiedenen Gründe waren, die sie zum Widerstand brachte, diese Arbeit gehört den Wissenschaftlern. Es ist und bleibt eine wichtige Arbeit, die nie Auschwitz als Symbol und Realität ihrer Struktur ausschalten kann. Man kann sich nicht von der Vergangenheit Auschwitz lossagen, solange man in Verbindung mit den Protagonisten des 20. Juli bleibt.
Eine der tragischen Erfahrungen im Leben des Menschen ist es, dass unsere eigene Identität durch das Ringen mit den Gegnern geprägt wird, dass etwas von dem anderen an uns haften bleibt. Die Tragik dieser Stunde des Trauerns besteht in der Erkenntnis, dass die brutale Machtstruktur jener Zeit die Männer und Frauen des Widerstandes nicht losließ bis nach dem Tode. Heuss sagt, dass „die ErfolgIosigkeit ihres Unternehmens dem Symbolcharakter des Opferganges nichts von seiner Würde raubt“ – und das ist wahr. Als Symbol der Freiheit, als Symbol des Glaubens und des Guten können wir diese Gruppe der Brutalität gegenüberstellen und können uns mit ihr identifizieren. Wir dürfen nie vergessen, dass dies kein Sieg, sondern eine Niederlage war. Sie wurden getötet. Sie erreichten nicht ihr Ziel. Dankbar wird das Symbol in unser Leben gestellt. Doch die Realität bringt uns zur Trauer. Hier waren Menschen, die nicht sterben wollten. Was wir heute auch sagen; wie wir den Widerstand auch deuten, die eigentliche Tatsache ist der Tod anständiger Menschen, die leben sollten. Das feuchte Auge bringt uns zur Wahrheit der Geschichte, zu den Massenvernichtungen, die vom Staat organisiert wurden. Ich muss euch etwas sagen: „Es gibt keine Märtyrer“. Der Märtyrer wird ein Symbol. Die Überlebenden – die nächste Generation – verschleiert den Mord, weil man mit dem Symbol eher leben kann als mit der Realität. Doch jedes Leben ist einzig – ein Individuum. Et est ineffabile. Wir müssen das Leben feiern, nicht den Tod.
Wer deckte die Nahtstelle zu? Wo ist das leuchtende Wort? Wo ist die Asche? Zum Auge geh, zum feuchten!
Die Ehre, den Toten gebührend, darf nicht nur ein privater Moment in unserem Leben bleiben. Die Realitäten unseres Lebens haben einen Platz im Leben der Welt und werden trotzdem Symbole unserer Zeit, die den Weg zum Widerstand gegen das Böse zeigen müssen. In meiner eigenen Position als Rabbiner spreche ich ja auch zu eurer Trauer aus dem Gebiet der Shoa, des Holocausts. Gemeinsame Erfahrungen verbinden uns. Nur muss man sich doch hier in das Historische begeben. Wie finden wir eine Definition des Widerstandes, die uns eine gemeinsame Struktur des Denkens und des Lebens bietet? Hier wende ich mich zu H. G. Adlers „Geist und Struktur des Widerstandes“. Adler bringt uns auf diese Weise zusammen:
„Das äußerste Gegensatzpaar für das Wagnis eines Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Staat bildeten Deutsche und Juden. Im Sinne der Ideologie repräsentierten jene den höchsten Wert, diese den niedrigsten oder – richtiger – keinen Wert, schlechthin den Unwert; die einen waren die potentiellen Teilhaber aller Macht, die anderen ohnmächtig. Die Deutschen sollten leben, die Juden sterben. Die ersten hemmte das Gewissen, sich gegen die Regierung immerhin des eigenen Volkes auch mit den stärksten Mitteln zu erheben, die anderen forderte äußerste Drangsal und Todesbedrohung heraus, noch zum letzten verzweifelten Mittel zu greifen, das überhaupt erreichbar war. Die einen waren immerhin noch frei und konnten Mittel aufbringen, die anderen waren gefangen und mittellos. Diese Gegensatzpaare, die sich noch vermehren lassen, sind zu bedenken, ohne jedoch manche Gemeinsamkeiten zu verkennen. Nur an ein letztes sei noch erinnert: Den Deutschen standen allerlei Wege offen, die Juden hatten keinen anderen Ausweg.“
In diesem Moment kommen wir nicht zu einem Richterspruch, weder auf dem Gebiet der Geschichte noch in der Ethik. Wir suchen das Gemeinsame. Die „Schuldfrage“ ist etwas ganz anderes. Ob die einen Macht hatten und die anderen ohnmächtig waren; ob jene leben sollten und diese sterben sollten; ob es einen oder keinen Ausweg gab – alle standen unter der Machtstruktur. Die Widerstandsgruppe, die wir heute ehren, verstand etwas, was heute schon fremd klingt und selten verstanden wird: Beide sollten sterben, Deutsche und Juden. Der jüdische Körper sollte zerstört werden und der deutsche Geist sein Leben lassen. Anstand, Treue und Vernunft hatten keinen Platz in Hitlers System – das alles musste zerstört werden. Hitlers Plan war nie ausführbar, da er ja selbst mit der ganzen Welt nicht zufrieden gewesen wäre. Hätte er den Krieg gewonnen, wäre ein Großdeutschland seiner Träume entstanden und diese Struktur hätte dann den deutschen Geist und die deutsche Kultur völlig zermalmt. Die kleinen, feigen Neo-Nazis unserer Zeit, die Beschmierer der Grabsteine, sind ein belehrendes Beispiel, was so ein Land erschaffen hätte. Der Terrorismus, wie wir ihn heute erleben, ist auch ein Erzeugnis jener Zeit. Um den Widerstand des 20. Juli zu verstehen, müssen wir diese Dimension der Zeit genau erkennen. So sagt H. G. Adler:
„Der ideologisierte Staat kann zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft des Terrors nicht entbehren, der zu seinen formalen, oft nie legalisierten aber fest institutionalisierten exekutiven Mitteln gehört. So ist der Terror vom totalitären Staat überhaupt nicht zu trennen, und der sich gegen ihn richtende Widerstand gilt sogar ganz besonders dem hier waltenden Terror, dessen sich dieser Staat vorzüglich bedient, um gerade den Widerstand zu brechen. Wo rührt dieser Terror, der jedenfalls jeglichem von ihm erst entzündeten Gegenterror vorangeht, denn aber her? Er ist in jedem Fall erst von der einen Staat erobernden totalitären Partei – stets einer ideologisch beschwerten Bewegung institutionalisiert worden. Ja, der Terror gehört sogar zu den bevorzugten Mitteln, mit deren Hilfe eine totalitäre Bewegung zu ihrer ‚Machtergreifung’ und zur Befestigung ihrer Macht gelangt, was man beim Studium des Entstehens der Sowjetunion und nicht weniger deutlich beim Erkämpfen und Erschaffen des nationalsozialistischen Staates beobachten kann.“
Wie konnte man diese vergiftete Luft atmen?
Von Moltkes letzter Brief aus Tegel zeigt es so deutlich: „Bleibt das Dritte Reich über Erwarten doch – was ich mir in meinen kühnsten Phantasien nicht vorstellen kann, so mußt Du sehen, wie Du die Söhne dem Gift entziehst. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Du dann auch Deutschland verläßt.“ (S. 71, H. J. Graf von Moltke: Letzte Briefe, Berlin, Hensel, 1981).
Das Dritte Reich vergiftete die Umwelt. Jeder in diesem Reich hätte es merken und hätte Widerstand dagegen leisten können. Wenn wir in der Mitte unserer Trauer anerkennen, wie wenige diese Vergiftung spürten, wie viele sich von der Ideologie betäuben ließen und ihre eigene Identität in der brutalen Machtstruktur verlieren konnten, sagt dies desto mehr über die wenigen im Widerstand. Beinah das Wichtigste, was uns durch diese Gruppe gegeben wurde, ist der Beweis, dass es möglich war, Widerstand zu leisten und nicht nur an der Peripherie, sondern im Zentrum! Es war und bleibt eine Niederlage; die Gruppe siegte nicht. Doch das Individuum konnte hier die eigene Identität bewahren, konnte beweisen, dass das Menschliche das Unmenschliche besiegen kann, indem man sich nicht vom Terror, vom Gift ersticken ließ. Das muss geehrt und anerkannt werden.
Am 20. Todestag der Geschwister Scholl sprach Helmut Thielecke zum Thema unter dem Titel: „Von der Freiheit ein Mensch zu sein“ (Tübingen, 1963).
„Die Freiheit, ein Mensch zu sein, das war alles, was sie begehrten – und was sie zu zahlen bereit waren.“
Er beendete den Vortrag mit den Worten: „So lassen Sie mich schließen mit der Bitte, man möge es nicht als Missklang oder Taktlosigkeit verstehen, wenn manches Harte und Ärgerliche in dieser Stunde laut werden musste ... mir ging es darum, eben jenen furchtbaren Ernst hörbar zu machen, der nach uns greift, wenn Größe und Schrecken der Vergangenheit die Schwelle des Heute überschreiten und auf uns zufahren. ‚Monumentale Historie’ (Nietzsche) tut weh, wo sie ernst genommen wird. Und hier geht es um monumentale Historie.“
Der furchtbare Ernst dieser Stunde lässt uns erkennen, dass wir das Menschliche ehren, dass wir die Realität jedes Einzelnen, an den wir uns jetzt erinnern, im Leben bleiben lassen wollen. Es wäre ein gefährlicher Eingriff in die Geschichte, diesen Moment der Wahrheit im Leben dieser Menschen in eine vollständige Heldengeschichte umzubauen, die eine Vor- und Nachgeschichte braucht. Der Historiker Robert Paxton warnt uns vor den Schwierigkeiten dieser Geschichtsarbeit. In einem Kommentar über die Arbeit des Klemens von Klemperer und anderer erwähnt er:
„Eine Fallgrube (in dieser Geschichtsarbeit) ist, daß man sich danach sehnt, etwas Bewundernswürdiges in einer schwarzen Zeit zu finden: nicht nur mutigen Einzelnen gebührend Lob zu zollen, sondern Vergangenheit aufzubauen wie man sie wünscht, ob in dem Linken oder dem konservativen Widerstand gegen Hitler. Geschichte wird so intensiv persönlich hier ... und es ist auch unmöglich, den Mut der Konspiration gegen Hitler und deren Schicksal nicht intensiv zu empfinden. Es ist auch unmöglich, es nicht zu bedauern, daß Männer von solcher Qualität und unbestreitbarer Anständigkeit bis zum letzten Moment versuchten, die Quadratur des Kreises zu durchbrechen (to square the circle) und das Unmögliche zu erschaffen, um eine Diktatur zu beenden und zu zerstören.“ (Robert Paxlon „The German Opposition to Hitler: A Non-Germanist View“ in Central European History. Vol. XIV, No. 4, S. 368.“)
Bedauern wir nicht – viele wären noch aus den Lagern gerettet worden! Aber wir verlangen zu viel von der Vergangenheit, wenn wir erwarten, dass unsere Probleme durch einen Heldenmythos gelöst werden, besonders wenn wir durch einen kleinen Eingriff in die Geschichte einen mutigen und anständigen Lebensmoment in einen stellvertretenden Mythos für alle umschaffen? Wir kommen hier zum Trauern, zum beten, und man muss sich gegen eine Umwelt wehren, die den Versuch macht, heilige Erinnerungen in politischer und persönlicher Weise zu missbrauchen.
Es wäre ein Missbrauch, zu behaupten, dass diese Männer des Widerstandes das ganze deutsche Volk vertreten hätten. Die Stummen, Blinden und Tauben dieser Zeit – und die vielen, die alles mitmachten – dürfen hier keine Deckung bekommen. Um es zu wiederholen: Das große Geschenk, das uns durch die Männer des Widerstandes erreicht, ist der Beweis, dass Widerstand möglich war, genau in der Zeit, in der die große Mehrheit das Gift getrunken und sich unter die Diktatur gestellt hatte. Sie standen fast allein. Sie müssen von uns durch das menschliche Gebet erreicht werden. Dieses ist eine schwere, aber lohnende Aufgabe, die uns zum Wert des Lebens führt. Ein Memento von Carl Zuckmayer spricht diese Menschen an in ihrer Einsamkeit. Er sagt:
„Auf sie geht das Schicksalswort Hölderlins: ‚Uns ist es gegeben, an keiner Stätte zu ruhen’.“
Doch gibt es ein anderes Wort des gleichen Dichters, dass in diesem Augenblick gültig erscheint. Es lautet: „Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig.“ (Memento, Frankfurt am Main 1969, S 21).
Die Zeit ist buchstabengenau und wir müssen es auch sein. Wir dürfen nicht mehr verlangen, als uns gegeben ist. Unser Schatten darf nicht auf die Vergangenheit fallen. Die Anständigkeit und das Reine, der Mut und das Verständnis, wie man seine eigene Seele retten kann, kommt auf uns zu, wenn wir uns nur öffnen, wenn wir es nicht bestimmen. Celans Wort ist auch buchstabengenau:
„Kam, Kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.“
Aber wir müssen verstehen, dass das Wort nur in der Nacht leuchten kann.
Wir reden heute über den Widerstand. Der erste Schritt in diese Welt war die Anerkennung der menschlichen Dimension, das Verständnis für das Individuum in der Zeit der größten Not. Wenn man diese Einzelnen – und es waren Einzelne – in eine Struktur zusammenzieht, kommt man aber in ein anderes Gebiet: abstrakt, aber trotzdem im Zentrum des Lebens. Theodor Haubach, ein Mitglied des Kreisauer Kreises, sprach einst über den Terror und über die Gewalt:
„Die Grenze der Gewalt“, sagte er, „liegt darin, daß sie zwar die Person des Widerstandes, aber nie die Gesinnung des Widerstandes vernichten kann.“
Hier finden sich die Vereinzelten zusammen: nicht als eine organisierte Gruppe, als eine politische Gestalt mit inneren und äußeren Verbindungen, aber doch als Einzelne, die zu einem Verständnis gekommen sind, dass die Welt der Nazis eine Hölle ist, wo man nicht mitmachen kann. Ob man auch mit anderen Gleichdenkenden in Verbindung ist oder nicht: man weiß, dass sie existieren. Es gab einen organisierten Antifaschismus zwischen 1933 und 1945. Die Gruppe des 20. Juli war nicht der leitende Geist dieses Widerstandes: und man darf deshalb den ganzen Widerstand nicht durch die Repräsentation dieses Momentes gezeigt glauben. Was gezeigt wird, ist die Gesinnung jedes Widerstandes gegen die Nazis: Anstand, Mut, Glaube, Betroffenheit, Angst, Qual und Leiden. Durch die Trauer des 20. Juli müssen wir jetzt in die anderen Dimensionen des Widerstandes geführt werden, müssen verstehen, dass unsere Anerkennung dieses Momentes der Geschichte unvollkommen bleibt, soweit wir nicht an die vielen anderen denken, die sich in der dunklen Zeit bewährten. Politische und persönliche Zurückhaltungen, Zweifel und Misstrauen dürfen unsere Anerkennung für die Leute des Widerstandes nicht unterdrücken. Widerstand konnte man überall finden – immer zu wenig – und trotz aller Grenzen zwischen Gruppen war die gemeinschaftliche Gesinnung (und Not!) und die Dimension der Menschheit in dem Todestal eine gemeinsame Struktur, die man nie vergessen soll.
Ein neues Buch über die deutschen Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde (Selbstbehauptung und Widerstand, K. Kwiet und H. Eschwege, Hans Christians Verlag, Hamburg 1984) bringt uns zu der Wahrheit dieser Tage:
„Unter diesen Umständen haben die Juden auf die Bedrohung durch den Nationalsozialismus kaum anders reagiert als die Mehrheit der deutschen Hitlergegner. Sie erkannten als Betroffene die heraufziehende Gefahr oft früher und klarer, aber sie teilten als Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Liberale, Konservative unterschiedlichster Prägung, die Vorstellungen, Irrtümer und Illusionen ihrer Partei oder Gruppe. Als Geschäftsleute, als Akademiker oder Beamte waren sie ebenso standhaft oder kleinmütig wie ihre nichtjüdischen Berufskollegen, sie trafen sich mit anderen gleichaltrigen Deutschen in ihrer Skepsis oder in den verschiedenartigsten Erwartungen. Tatbereit waren nur junge Menschen.“
Es ist wichtig, dieses Bild im Auge zu behalten. Das Schicksal der deutschen Juden war ein verschiedenes von dem Schicksal ihrer Mitbürger. Viele der Juden gingen in den Tod; die meisten ihrer Mitbürger überlebten Hitler. Aber am Anfang reagierten sie in derselben Weise wie die anderen in ihren Vorstellungen, Irrtümern und Illusionen. Wenn man sich den Widerstand der ersten Zeit, von 1933 an, ansieht, so kann man von einem Zusammenleben der Hitlergegner sprechen, wie man auch von einem gemeinsamen Missverständnis sprechen kann. Und man muss auch anerkennen, dass in dieser Zeit die Mehrzahl der Hitler-Gegner von der linken Seite kamen, und dass sich dies auch in den folgenden Jahren zeigte. Wieder muss betont werden, dass wir die Leute des Widerstands nicht würdigen, wenn wir diese Geschichte nur von der politischen Seite aus verstehen wollen. Hier, in der Stunde des Gedenkens zum 20. Juli, erweitern wir unser Verständnis, so dass wir alle ehren können, die standhaft gegen Hitler waren. Aber noch mehr als alle Schichten in der sozialen Struktur erforschen, wo sich Widerstand gegen Hitler zeigte, müssen wir zu der Erkenntnis kommen, dass die jüdische Gemeinde jener Zeit als eine ganz besondere Widerstandsstruktur existierte.
Passiver und aktiver Widerstand gehören zusammen. Der 20. Juli war nicht nur ein Moment im Leben der Verbündeten gegen Hitler. Er war der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich im Leben dieser Menschen auf passive und aktive Weise zeigte. Schon als Einziger bestehen zu können, schon anders als die Umwelt zu denken, war Widerstand. Das Verbrennen der Bücher zeigt, wie gut das von den Nazis verstanden wurde. Auch der Angriff gegen die Juden – dass sie eben anders waren als die Umwelt, führt uns zu einem tieferen Verständnis der Geschichte des Widerstandes. Etwas anderes zu sein in dieser Zeit ehrt den Menschen, auch wenn es den Juden aufgezwungen wurde. „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“, schrieb Robert Weltsch zu jener Zeit. Und, wie Ernst Simon in seinem Buch „Aufbau im Untergang“ (1934) beschrieb, wurden genau in dieser Zeit der Zerstörung der Gemeinden neue Schulen gegründet, neue Strukturen der Erwachsenen-Bildung geschaffen, neue Gebete geschrieben. Den aktiven jüdischen Widerstand späterer Zeit müssen wir noch würdigen – in den Ghettos, im KZ. Aber wir müssen auch die Dimensionen des passiven Widerstands erkennen, wie er sich in den jüdischen Gemeinden zeigte, und wie er sich entwickelte, um der Wahrheit dieser Stunde des Denkens und Nachdenkens gerecht zu werden. Denn dieser passive Widerstand brachte Juden und Nicht-Juden zusammen – nicht nur, weil sie in derselben Welt lebten, sondern auch, weil sie Kenntnisse voneinander hatten. Leo Baeck, in einigen Briefen nach dem Krieg, aber auch in Dokumenten, die er im Lager schrieb (LBI Yearbook III, 1958, S. 361 ff.), sprach von seinen Verbindungen mit den Leuten des deutschen Widerstands, auch vom Kontakt zu der Gruppe, der wir heute ganz besonders gedenken. Und, dass diese Gruppe kein vollständig isoliertes Phänomen war, dass man dennoch Widerstand im einfachen Alltagsleben jener Zeit finden konnte, wird durch Lebenserfahrungen der Einzelnen begründet. Wie andere fand ich auch ein Versteck bei christlichen Freunden in der Kristallnacht. Aber ich war unter den wenigen; und die Menschen des Widerstandes zeugen doch für eine Möglichkeit, die von der Mehrheit nicht wahrgenommen wurde. Hätte es mehr Widerstand gegeben, wäre es nicht zu der obszönen „Endlösung“ gekommen, zu diesen Grausamkeiten, die auch von einer Vergiftung des Denkens und der Sprache zeugen, die eben nicht vergessen werden muss. Wir müssen den passiven Widerstand verstehen, ganz besonders bei den Verfolgten, die waffenlos und machtlos waren. Doch darf dieser passive Widerstand keine Entschuldigung für die große Mehrheit sein, die sich nicht gegen Hitler stellte. Passivität und Apathie sind etwas vollständig anderes als passiver Widerstand! Und es waren die wenigen, eben der Widerstand des 20. Juli, welcher am Ende bewies, dass der wirkliche passive Widerstand sich am Ende in einer Tat zeigen musste, die das Leben der Täter forderte. In diesem Moment wurde diese Tat ein Widerstand, welcher sich auch gegen die vielen Mitgänger der Nazis bewährte. Es ist nicht erlaubt, diese Tat politisch zu benutzen, zu missbrauchen als Tarnung für die Schuld der vielen.
Vor einigen Tagen erklärte Professor H. Mommsen in der Tagung der historischen Forschung zum 20. Juli, dass erst jetzt, nach dem Verblassen der Idee der „kollektiven Schuld der Deutschen“, man zu einer soziologischen Nachforschung dieser Zeit kommen könnte. Das hat auch seinen Sinn – solange man nicht die historische Wahrheit verschleiert. Die Juden – und die Sinti und Roma – und so viele andere, können Auschwitz nicht vergessen. Aber die Deutschen – dürfen Auschwitz nicht vergessen. Der 20. Juli unterstützt uns hier: Er bringt uns in eine Welt, wo man sich gegen die Grausamkeit wehren wollte. Ein anderer Teilnehmer an der Berliner Tagung war Professor Peter Steinbach, der in der Forschung über diese Zeit eine Methode zum Erreichen der nationalen Identität fand, die auch von der DDR benutzt wird. Aber jetzt, meinte er, käme es zu einem neuen Realismus und zu einer offeneren Betrachtung der deutschen Geschichte. Wieder habe ich nichts dagegen, solange man versteht, dass das Erringen unserer Identität außerhalb der Geschichtsforschung weitergehen muss, und dass man die Ereignisse der vergangenen Zeit trotzdem benutzt, um den Weg zur Identität zu finden. Man darf nicht in die Geschichtsschreibung eingreifen, und wir müssen die Historiker antiker und neuer Zeit in ihrer Treue zur Wahrheit bestätigen und unterstützen. Aber dann müssen wir die Geschichte in ihrer Wahrheit verstehen und nicht vor den Konsequenzen zurückschrecken. Was diese Geschichte heute bedeutet, sagte uns vor kurzem Günter Grass (Die Zeit, Nr. 6, 4. Februar 1983):
„Hitlers Machtergreifung – wie es vereinfachend heißt – wurde von Kräften gewollt und gestützt, von Kräften bekämpft und doch nicht verhindert, die es immer noch gibt und die allesamt, wenn auch unterschiedlich gewichtet, bis heute verantwortlich sind für den unheilbaren Bruch im Verlauf deutscher Geschichte und die Einleitung eines verbrecherischen Prozesses ohne Vergleich.“
Wie Grass zeigt, versagten Großindustrie und die Gewerkschaften, die Sozialdemokraten und die Kirchen, die Kommunisten (zu beschäftigt im Kampf gegen die Sozialdemokratie): „Nicht eigene Stärke, die Schwäche seiner Gegner hat Hitlers Macht befestigt. Es fehlte der Entschluß zum Widerstand“ (ibid). Auch deshalb ist diese Stunde etwas Wichtiges für uns: Sie besagt nicht nur, dass es Widerstand gab, sondern auch, dass es Widerstand geben muss.
Es ist ein Widerstand gegen den Staat, gegen den Staatseid, und dieses bringt Probleme für jede Zeit; man kann dies nicht einfach beiseite schieben. Die Funktion des modernen Staates existiert in einem amoralischen Gebiet. H. G. Adlers bekannte Schrift über den „Verwalteten Mensch“ zeigt uns, wie Verwaltung zur Gewalt und Zerstörung führt. Der Widerstand kommt aus dem moralischen Gebiet, welches außerhalb dieser Struktur steht und an einem gewissen Zeitpunkt genau diese Struktur angreifen muss. 1934 schrieb J. Huizinga seinen Aufsatz „Der Staat dem Staate ein Wolf?“ und fand diese Formulierung für unser Problem:
„Der Staat ist ein Wesen, das bei der gegebenen Unvollkommenheit der menschlichen Dinge sich mit einer scheinbaren Notwendigkeit nach Normen verhalten wird, die nicht diejenigen einer auf Vertrauen fundierten gesellschaftlichen Sittlichkeit sind, geschweige denn diejenigen des christlichen Glaubens. Und trotzdem wird er weder die christliche noch die gesellschaftliche Norm der Sittlichkeit ganz aus dem Auge verlieren dürfen bei Strafe des Untergangs infolge seiner eigenen Apostasie.
Die Seherin der Edda sang: ,Windzeit, Wolfzeit – Ehe die Welt vergeht, wird kein Mann – Andere schonen.'
Aber wir wollen nicht untergehn!“
So Huizinga. Aber der Untergang kam für jene, die keinen Widerstand leisten wollten. Die Männer und Frauen – man darf auch die inneren Kräfte des Familienlebens als Bestandteile eines wahren Widerstandes nie verkennen – diese Menschen des 20. Juli kämpften nicht nur gegen Hitler, sondern auch gegen den amoralischen Staat. Hätte man nur innerhalb der Gesetze des Dritten Reiches gelebt, könnte man von gesetzwidrigen Handlungen des Widerstandes reden. Aber der Staat war vergiftet; Hitler war der Verräter. Castigliones II Cortegiano billigt den Angriff gegen den Tyrann: „Tempel und Opfer und göttliche Ehrungen brachte man Herkules ... weil er den Tyrann vernichtete“.
Der Widerstand gegen den Staat – aktiv und passiv und innerhalb aller Gruppen der Unterdrückten und noch nicht Unterdrückten in diesem Staat – ist eine Erweiterung des moralischen Gebietes, welches die Macht des Staates immer wieder einzwängen muss. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Verfolgten innerhalb der Machtstruktur nie richtig gehört werden, wenn sie den Staat anklagen und sich ihm widersetzen. Man verweigert ihnen das Gehör, weil sie ja „aus Selbstinteresse sprächen“! Wenn man schuldig ist, verfolgt zu sein, wird man kaum gehört. In den Schriften der Leute des 20. Juli gibt es klare und deutliche Urteile über das Unwesen des Dritten Reiches – denken wir nur an Bonhoeffer und von Moltke. Und wie wird dies gedeutet? Als Selbstverteidigung! Den Vorurteilen des Machtstaates wird so weiter gehuldigt. Aber wir müssen diese Grenzen verlassen, müssen auch die Grenzen der Wissenschaft überschreiten, um uns in das moralische Gebiet zu begeben, wo wir uns unserer eigenen tragischen Existenz bewusst werden. In seiner Antrittsvorlesung an die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, im Jahre 1938, sprach Eugen Täubler zu seinen jüdischen Studenten, die meist dem Tode entgegengingen:
„Behalten wir, was wir als beseligenden Traum besitzen, aber vergessen wir darüber nicht, unser Schicksal und unsere Zeit aus uns sprechen zu lassen. Es bedarf keiner neuen Rede, sondern, so scheint es mir, nur des Innewerdens eines neuen Bewußtseins, das den Juden fähig macht, sein Schicksal als unabdingbare Folge seiner religiösen Sonderart zu verstehen und sich zum Tragischen seiner Existenz, als dem Ausdruck seiner Erwähltheit, zu bekennen. Dann könnte er, seines religiösen Sinnes voll, vielleicht auch noch einmal fähig werden, die Siegel von Worten zu lösen, in denen die Menschheit wiederum die Offenbarung des Höchsten verehrt.
Aber hier beginnt der Blick sich in die Jahrhunderte zu verlieren, die vor uns liegen.
Wo gerate ich hin? Schon habe ich die Grenze überschritten, die mir die Wissenschaft, die ich hier vertreten soll, gezogen hat. Meine Aufgabe soll es sein, zu lehren, was man geschichtlich erkennen kann und wie man mit wissenschaftlichen Mitteln zu Erkenntnissen kommt, und nichts anderes soll vor Ihren Ohren, liebe Kommilitonen, laut werden. Aber es mag vor dem Beginn dieser Tätigkeit an der Zeit gewesen sein, auf das aufmerksam zu machen, was in meinem Sinne über die Grenzen weist. Und wenn ich Ihnen erzählen werde, was einmal gewesen ist, so werden Sie darüber so wenig wie ich vergessen, was es bedeutet, unter dem Zeichen eines noch nicht vollendeten Schicksals zu stehen.“
Die Spuren im Gras sind bald verschwunden. Der Wind hat die Asche verweht. Der Tod lebt meistens in Betonsäulen, im Feuer, das alles vernichten sollte, im Eis, das die Rache gegen den Widerstand noch weiter führen sollte, bis zum letzten Moment. Aber in dieser Stunde der Andacht überwinden wir das Vergessen in der Geschichte. Unsere Trauer und unsere Liebe bewachen das Licht und das Wort der Wahrheit von damals.
Mit Paul Celan sind wir...
„Mit den Verfolgten in spätem,
unverschwiegenem,
strahlendem
Bund.“
(P. Celan, Atemwende)
Dieser Bund ist ein Siegel auf unseren Herzen. Erst jetzt verstehen wir die Worte des Hohelieds:
„Ja, stark wie der Tod ist die Liebe,
hart wie die Unterwelt die Leidenschaft“ (8.6).
Die Liebe ist auch hart und grell wie der Tod, bitter und dunkel, eine Macht im Leben, die die Grenzen zerschlägt und die sich im Widerstand bewährt. Und in dieser Liebe besteht auch die Kraft, den Kreis des Anerkennens zu erweitern und sich über alle Vorurteile zu setzen. Hier, in dieser Gruppe, wo die Liebe und das Anerkennen des Widerstandes ein beständiges Feuer auf dem Altar der Erinnerung blieb, muss man die Dimensionen dieser Liebe erweitern und die Verbindungen zwischen allen Gegnern Hitlers erkennen. Wir sind in Berlin und erinnern uns an die Tat und an den Tod. Hier in Berlin gab es auch die Gruppe Baum, die denselben Feind bekämpften und die auch sterben mussten, weil sie in der Welt Hitlers nicht leben konnten. Die Studenten hier in Berlin haben uns gezeigt, wie diese Gruppe geehrt werden sollte – und es wäre auch eine Ehre für die Universität und für das akademische Leben, hier ein Baum-Auditorium betreten zu dürfen. Genau, weil dieser Widerstand nicht aus den akademischen Kreisen, sondern in dem schweren Leben der Arbeiter entstand, sollte es seinen Platz hier an der Universität finden.
Und die Liebe führt uns weiter, führt uns vom Generalstab in die Grenzgebiete, zum Warschau-Ghetto, wo ein Widerstand geboten wurde, der jetzt von der ganzen Welt als etwas Heroisches, Unvergessenes anerkannt wird. Es ist eine Geschichte, die von Massada bis zum heutigen Jerusalem führt, die sich in den vielen Ghettos und KZs bewährte, eine Geschichte des Mutes und der moralischen Kraft. Widerstand zu leisten, wo man keine Waffen hatte, Mensch zu bleiben in der Welt des Unmenschen, den passiven und religiösen Widerstand als ein leuchtendes Beispiel in die Welt zu stellen – dieses Vorbild wurde uns von allen Hitler-Gegnern in unser Leben gestellt. Trotz der Waffenlosigkeit kam es zu Aufständen in fast jedem Konzentrationslager. Trotz der Hoffnungslosigkeit innerhalb des Machtstaates gab es diejenigen, die zum Protest bereit waren und in dunkler Stunde ihr Leben einsetzten. Wäre es nur früher gewesen – aber das nimmt nichts von dem Widerstand weg. Helmut Gollwitzer sagte es auf diese Weise:
„Wenn wir nach dem Krieg vom Ausland her gefragt wurden, weshalb wir nicht offen gegen den nazistischen Völkermord protestiert haben, pflegte ich darauf zu antworten: Als das große Morden begann, war es für den offenen Protest zu spät ... unser schuldhaftes Versäumen lag nicht in dieser Zeit, sondern vorher ... wir hätten offener sprechen müssen ... um die Machthaber zu hemmen. Und freilich, als es zum Reden zu spät war, hätten wir nicht nur helfen sollen, sondern ... uns so praktisch mit den Verfolgten identifizieren sollen, wie jener Priester in Rolf Hochhuths ,Stellvertreter' ... ohne Bekenntnis ... kann keiner ... von seinem ... Widerstand in jener Zeit erzählen.“ (H. Gollwitzer „Aus der Bekennenden Kirche“ in: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933-1945 (Hg. Richard Loewenthal und Patrik von zur Mühlen, Berlin 1982, S.138).
In den letzten Minuten dieser Stunde des Andenkens und der Trauer müssen wir diesem Rat folgen. Wir müssen uns mit den Verfolgten identifizieren. Unsere eigenen Erinnerungen an die Geliebten, die in dunkler Zeit sterben mussten, werden schwach, so schwach, wie wir sind. Aber unsere Liebe bleibt stark wie der Tod, hart wie die Unterwelt. Und das Erbe der Geliebten kann erworben werden; das leuchtende Wort der Nacht, die Treue und der Anstand, bleibt und bringt uns in die Verbindung mit allen Verfolgten jener Zeit und dieser Zeit. Das letzte Wort des Geschichtsschreibers bleibt das Zusammenbringen der Toten und Lebenden und die Anerkennung der moralischen Arbeit – Widerstand gegen das Böse – welches uns alle zusammenführt. Furcht und Ernst sind Bestandteile unserer monumentalen Historie. Aber das kommt genau aus der Möglichkeit, unserer Aufgabe gerecht zu werden. In seiner Friedenspreis-Rede sprach Karl Jaspers über den „deutschen Schmerz“:
„... die deutsche Verzweiflung, die sich so verquer äußert, im Zorn und im grimmigen Lachen, die die Liebe verbergen, weil der Gegenstand der Liebe, den sie doch in sich tragen, verloren scheint.“ (K. Jaspers „Wahrheit, Freiheit und Liebe“, Rede zur Verleihung des Friedenspreises 1958, München)
Aber der Gegenstand ist nicht verloren, und wir haben ihn in dieser ernsten Stunde wiedergefunden. Die Menschen des Widerstandes, die Wahrheit des Widerstandes und die Lehren des Widerstandes vereinigen uns. Wir denken an alle. An alle. Wir tragen sie alle in uns und sie tragen uns. In unserem Schmerz, in unserer Liebe, in unserer Hoffnung ehren wir den Widerstand.
Bei Ihrem Besuch in Israel standen Sie, Herr Dr. Kohl, beim Yad Va-Shem Monument, am Platz, wo die Linien unserer Geschichte wieder zusammenkommen und den gemeinsamen Weg in die Zukunft zeigen. Zachor! Gedenke! Die Asche. Die Nacht. Das feuchte Auge. Und die Anerkennung der Gerechten.
Jeder, in diesem Buch der Gerechten, ist der Beweis einer talmudischen Lehre: „Wer ein Leben gerettet hat, ist, als ob er die Existenz der ganzen Welt gerettet hat!“ Aber die Welt muss jeden Tag neu gerettet werden. Jeden Tag müssen wir dem Bösen Widerstand leisten, müssen wir uns verwehren, schuldig an neuen Katastrophen zu werden.
Und jeder Tag sollte ein Tag der Erinnerung werden, ein Tag der Liebe und der Mitmenschlichkeit.
Jeder Tag.
Ich danke Ihnen.