Mut und Zivilität

Rüdiger von Voss

Mut und Zivilität

Einleitende Worte des Vorsitzenden der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli“

Rüdiger von Voss am 19. Juli 1984 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Der 20. Juli 1944 bleibt ein schwieriger Tag der deutschen Geschichte. Die Erfolglosigkeit des Attentats auf Adolf Hitler, eine Verzweiflungstat in letzter Stunde, lastet wie ein dunkler Schatten auf dem Aufstand des Gewissens. Bis in unsere Tage muss dem Vorwurf begegnet werden, Soldaten und Offiziere hätten ihren Eid gebrochen und der kämpfenden Truppe in den Rücken gestoßen. Bürger aus allen Lagern des geistigen und politischen Lebens hätten unpatriotisch gehandelt, als sie versuchten, der politischen Führung in den Arm zu fallen. Das böse Wort vom Dolchstoß findet immer wieder Gefolgschaft. Der deutsche Widerstand, der 20. Juli 1944, ist bis heute ein Tag außerhalb der historischen Identität der Deutschen. Anstatt die Deutschen in gemeinsamem Freiheitsbewusstsein zusammenzuführen, ringen beide Teile Deutschlands um die Frage, wer der Traditionsnachfolger, der politische Erbe der Frauen und Männer ist, die ihr Leben einsetzten, um das „andere Deutschland“ Wirklichkeit werden zu lassen um die totalitäre Diktatur des Nazi-Regimes zu überwinden. Die junge Generation steht in großer Zahl unwissend vor einem Ereignis, das um der Freiheit willen gewagt wurde und das zum Ziel hatte, den kommenden Generationen ein menschenwürdiges Leben in Frieden zu erkämpfen.

Vermächtnis und Verpflichtung – diese beiden Worte stellt der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, seiner Rede voran, die er anlässlich der Gedenkveranstaltung 1954 in Berlin gehalten hat.

Das Vermächtnis des deutschen Widerstandes ist die Verantwortung vor Gott, die Kraft des Gewissens, der Schutz des Lebens und der Würde jedes Menschen, das Gebot der Gleichheit und die Verpflichtung, das Recht zu wahren und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Das ganze Deutschland dem Frieden zu verpflichten und zuverlässiger Partner eines geeinten Europa zu sein, ausgleichend nach Westen wie nach Osten, – das war eine konkrete Utopie für all diejenigen, die sich zum Widerstand entschlossen haben, um dazu beizutragen, dass sich die Katastrophe des nationalsozialistischen Gewaltregimes, der Völkermord und Rassenwahn niemals wiederholen können.

Dieses Vermächtnis des deutschen Widerstandes hat die Gesinnung der Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland geprägt und geleitet, als es darum ging, einen Neuanfang zu wagen und dem Gemeinwesen eine freiheitliche, demokratische und sozialverantwortliche Verfassung zu geben. Die Präambel des Grundgesetzes ist auch heute noch ein Fanal verantworteter Freiheit, ein Appell an die politisch Denkenden und Handelnden, ihre Worte und ihre Taten an den Werten zu orientieren, die Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit erfordern, die unverzichtbar sind für einen friedvollen und sozialgerechten Ausgleich der Interessen.

Erbe verpflichtet: Derjenige der sich zu seiner christlichen Verantwortung bekennt, weiß aus den letzten Zeugnissen und Bekenntnissen der Frauen und Männer des deutschen Widerstandes, dass jegliches menschliche Handeln vorletztes Handeln ist. Der letzte Maßstab ist Gott, die immerwährende Verantwortung vor der Geschichte und den kommenden Generationen. So ist jedes politische Mandat ein Mandat auf Zeit, das im Letzten daran gemessen wird, ob im rechten Glauben vor Gott und unter Beachtung der Menschenrechte gehandelt wurde. Keine menschliche Instanz wird ein abschließendes Urteil fällen können, ob ein Mensch in seiner Zeit diesem Anspruch gerecht werden konnte. Und dennoch hat sich das politische Bewusstsein seit dem 20. Juli 1944 verändert.

Derjenige, der sich zu Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, zu dem liberalen und sozialen Rechtsstaat bekennt, weiß, dass die „Majestät des Rechts“ nur dann gewährleistet und dauerhaft gesichert werden kann, wenn die Spielregeln der Demokratie von jedem Bürger geachtet werden. Mehrheit wie Minderheit stehen unter dem gleichen Gebot, einen gerechten Kompromiss und friedenstiftenden Ausgleich der Interessen zu erreichen.

Der 20. Juli 1944 ist die historische Verdammung des politischen Radikalismus und des menschenverachtenden Terrorismus, gleich welche Überzeugung der Ausgangspunkt für ein solches Ausbrechen aus dem Gemeinwesen und seiner Ordnung sein könnte. Der Krieg im Inneren wie nach außen ist seitdem kein Mittel der Politik zur Durchsetzung nationaler Interessen. Wer jemals den Galgen von Plötzensee gesehen hat, wer jemals das Tor zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern durchschritt, der wird dieses Vermächtnis als eine Verpflichtung begreifen, loyal und verfassungstreu an der ständigen Verwirklichung von Rechtsstaat und Demokratie mitzuwirken.

Christian Graf von Krockow hat die Geschichte des deutschen Widerstandes als eine Geschichte des Mutes und der Zivilität gewürdigt. Insbesondere der jungen Generation muss heute erneut verdeutlicht werden, dass auch eine säkularisierte, pluralistische Gesellschaft wie die unsere nicht der Beliebigkeit preisgegeben werden darf. Auch wenn es zutrifft, dass „alte“ Werte und Tugenden insbesondere von den Nationalsozialisten missbraucht und diskreditiert worden sind, ist ein Zusammenleben in einem Gemeinwesen nicht ohne wertorientiertes Handeln möglich.

Persönlicher Mut und Zivilcourage, Klugheit und Besonnenheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft, Selbstbewusstsein, Engagement bei gleichzeitiger Kraft zur Distanz gegenüber Dogmatisierungen und nicht zuletzt die Bereitschaft zu Caritas und Solidarität entscheiden über die Substanz einer Ordnung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft. Überall dort, wo es nicht möglich ist, nach seinem individuellen Gewissen zu entscheiden, sich an solchen Werten zu orientieren und dies politisch zur Entfaltung zu bringen, ist die Freiheit gefährdet oder schon unterdrückt. Glaube, Moral und Politik können dann nicht mehr versöhnt werden. Alle Bemühungen, dem deutschen Widerstand einen unpathetischen aber lebendigen Platz in der Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen zu sichern, sind davon bestimmt, den Freiheitswillen zu stärken, die Bereitschaft zur Toleranz zu erhalten und das Gerechtigkeitsempfinden erlebbar werden zu lassen, damit auch Minderheiten gehört werden und an der Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens mitwirken können. Über die politischen Ziele mag im Einzelnen hart gerungen werden, ebenso wie unter den Gruppen des deutschen Widerstandes. Soll das Bekenntnis zum deutschen Widerstand aber wahrhaftig sein, so ist entscheidend, ob die Bereitschaft vorhanden ist und auch tatsächlich politisch wirksam wird, über den Streit hinaus die Grundlagen einer zivilisierten Gesellschaft zu garantieren und einer „gläubigen“ Politik die Gefolgschaft nicht zu versagen.

Nachkommen der Verfolgten und Widerstandskämpfer stehen in unterschiedlicher Weise ihrer Zeit engagiert oder auch distanziert gegenüber. Die Schatten des Todes reichen weit, bis hin zu einer grundlegenden Absage an das Politische. Will man aber mithelfen, dass Lehren aus Unrecht und Gewalt möglich bleiben, muss man die Kraft zu einem Bekenntnis aufbringen. Dies aber verlangt den politischen Einsatz für eine humane und gerechte Ordnung. Es gibt keinen anderen Weg, um aus Gegnerschaft nicht noch einmal unversöhnliche, menschenverachtende und lebenszerstörende Feindschaft erwachsen zu lassen.







Weitere Reden

19.07.1984
Prof. Dr. Dr. h.c. Albert H. Friedlander