Eid und Entscheidung

Gustav Heinemann

Eid und Entscheidung

Gedenkrede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann am 19. Juli 1969 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir sind hier zusammengekommen, um derer zu gedenken, die an diesem Ort hingerichtet wurden, weil sie vor 25 Jahren unser Land von Hitler und seinem System durch den Anschlag auf das Leben des Tyrannen zu befreien versuchten.

In dieses Gedenken schließen wir alle Widerstandskämpfer ein, die in den Jahren der Diktatur von 1933 bis 1945 in Deutschland und außerhalb Deutschlands, aus welcher Nation und an welchen Orten auch immer, das Opfer des Lebens für Recht und Menschenwürde brachten. Des zum Zeichen steht an der Steinwand dieses Mahnmals geschrieben: „Den Opfern der Hitlerdiktatur der Jahre 1933 bis 1945“.

Wir schließen ebenfalls und ausdrücklich auch alle jene Menschen ein, die in unserem Namen verfolgt wurden und unter den Taten unseres verführten Volkes gelitten haben.

Welchen Sinn hat es, in Sonderheit des missglückten Anschlages von 1944 und derer zu gedenken, die ihn unternahmen? Solches Gedenken ist, zumal an dieser Stelle, schon oft geschehen. Aber es darf nicht leere Form werden. Tradition heißt nach einem Wort des 1914 ermordeten Kriegsgegners, des Franzosen Jean Jaurés, nicht Asche verwahren, sondern eine Flamme am Brennen halten. Um dieses Wachhalten geht es.

Der 20. Juli 1944 war ein gesamtdeutscher Tag und muss es bleiben, wenn das Wort Nation trotz der Spaltung Deutschlands für uns einen Sinn behalten soll. In diesem Datum verzahnen sich die schlechtesten und die besten Überlieferungen unserer Geschichte in ihren vollen Gewichten miteinander. Sie rufen uns immer wieder auf, ihre dramatische Verknotung zu lösen.

Wie war es möglich – so müssen wir uns auch heute wiederum fragen –, dass Menschen unseres Volkes sich im sogenannten Dritten Reich in Selbstüberhebung, in Rassenwahn und Eroberungssucht verloren? Wie war es möglich, dass bürgerliche Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmung so barbarisch missachtet werden konnten? Aus dieser Frage dürfen wir uns nicht davonstehlen, wenn wir mit uns selber zurechtkommen wollen.

Eine Antwort auf diese Frage muss tief in die allgemeine Geschichte Europas und in die besondere deutsche Geschichte zurückgreifen.

Auch viele andere Völker stehen vor einer solchen Aufgabe. Wir sind nicht die einzigen, bei denen es Nationalismus gegeben hat oder gibt. Was die Behandlung der Juden anbelangt, so ist eine Ursache dafür unter anderem der christliche Antisemitismus, dem endlich das II. Vatikanische Konzil ein allgemein gültiges Ende gesetzt hat. Was uns angeht, so können wir nicht an der bis in unsere Zeit geübten Erziehung unseres Volkes zur folgsamen Untertänigkeit gegenüber aller Obrigkeit bis hin zur Unterwerfung auch unter die Befehle des Verbrechens vorübergehen. Es darf nicht verschwiegen werden, dass wir auch schon vor dem Auftreten Hitlers von allen Sedan-Feiern her und im Jubel des Kriegsausbruches von 1914 für einen gewalttätigen Nationalismus anfällig waren.

Klaus von Dohnanyi, Sohn des kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager hingerichteten Reichsgerichtsrates, erinnerte einmal in einer Feierstunde zum 20. Juli 1944 in Bonn daran, dass man im September 1870, wenige Tage nach Sedan, fünf ehrenwerte Braunschweiger Bürger in Ketten, als Lumpen und Marodeure, auf die Festung Lötzen an der russischen Grenze verbringen ließ, weil sie sich im damaligen Siegestaumel in einem öffentlichen Aufruf gegen eine Annexion von Elsaß-Lothringen und für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich ohne Demütigung aussprachen. Diese nur knappen Striche und nur diese Einzelheit wollen andeutend sagen, dass das Dritte Reich nach meinem Urteil kein Betriebsunfall gewesen, also nicht etwa nur durch die Arbeitslosigkeit um 1930 oder durch Reparationslasten des Versailler Vertrages von 1919 verursacht worden ist. Im Vorspiel und im Nachspiel des 20. Juli 1944 haben Überlieferungen unserer Geschichte kulminiert. Sie bereiteten die Not, aus der die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 handelten. Sie zeichneten vor, mit welcher unsagbaren Gemeinheit sie und viele ihrer unbeteiligten Angehörigen vernichtet wurden.

Der 20. Juli 1944 steht aber auch für unseren Anteil an den besten abendländischen Überlieferungen und an den großen europäischen Zeugnissen des Ringens um Menschenrecht und Menschenwürde. Zwar können wir nicht wie die Engländer auf eine Magna Charta Libertatis schon des 13. Jahrhunderts zurückgreifen oder auf Proklamationen der Menschen- und Bürgerrechte, wie sie die amerikanische Unabhängigkeit oder die französische Revolution erfüllt haben. Die Bauernkriege zur Zeit Luthers und die Paulskirche 1848/49 nahmen Anläufe in solcher Richtung. Aber das alles wurde niedergeschlagen.

Wir müssen zugeben, dass wir nicht aus eigener Kraft zu einer freiheitlichen Demokratie durchgebrochen sind. Zweimal haben fremde Siegesmächte sie uns nach verlorenen Kriegen ins Land gebracht. Die Weimarer Republik ging nach einem kurzen Bestand wieder unter. Werden wir die freiheitliche Demokratie jetzt bewahren, zur sozialen Demokratie weiterentwickeln und zu unserem Lebenselement machen? Das ist eine der Fragen, die uns der 20. Juli 1944 stellt.

Die Widerstandskämpfer der Hitlerzeit waren freilich von unterschiedlichen politischen und sozialen Zielsetzungen erfüllt. Einig aber waren sie darin, dass Unfreiheit und Krieg ein Ende haben sollten.

Die äußere Erfolglosigkeit ihrer Tat kann den hohen Rang ihres Vorbildes in keiner Weise schmälern. Sie alle wussten um die besondere Schwere ihres Handelns und wagten es dennoch. Sie alle mussten Zwiespalt und Zweifel durchstehen, ob es recht und ob es richtig sei, ihre Hand gegen den Mann zu erheben, dem so viele aus unserem Volke zujubelten.

Bei den Widerstandsgruppen außerhalb Deutschlands stärkte die Übereinstimmung der freiheitlichen und der nationalen Ziele den Willen und die Kraft zur Tat. Sie standen im Einklang mit einer sie tragenden und darum helfenden Umgebung. Was draußen in jedem Falle als nationale Verteidigung galt, war hier drinnen Hoch- und Landesverrat.

Hier musste aus einsamer persönlicher Verantwortung die Entscheidung gefunden werden, dem deutschen Volk mitten in einem, wenngleich freventlich ausgelösten, nationalen Existenzkampf den sogenannten Führer zu nehmen, auf den Partei, Staatsapparat und Wehrmacht eingeschworen waren. Die Kriegsgegner hatten den deutschen Verschwörern kein Zeichen für einen Frieden der Verständigung an die Hand gegeben; sie beharrten auf bedingungsloser Kapitulation.

Sollte das Attentat dennoch unternommen werden! Ich habe jene Jahre bewusst miterlebt. Mich hat der Nationalismus nie angefochten. Umso intensiver kann ich mich in den seelischen Kampf derer hineindenken, die damals zur Tat schritten.

Es muss aber in diesem Zusammenhang noch einer besonderen Gewissensbeschwerung vieler von denen gedacht werden, zu deren Ehren wir hier versammelt sind. Viele von ihnen hatten vor Gott eben dem Mann einen unverbrüchlichen persönlichen Gehorsam gelobt, den sie mit ihrem Anschlag aus dem Leben räumen wollten. Der von Hitler den Soldaten zur Pflicht gemachte Eid lautete: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“

Wir kennen solchen personalen Treueid gottlob nicht mehr. Der heutige Treueid der Soldaten ist bezogen auf ihre Aufgabe. Er lautet: „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe!“ Entsprechend leisten auch die Mitglieder der Bundesregierung und auch der Bundespräsident ihren Eid, den ich am 1. Juli abgelegt habe: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

Als ich diesen Eid geleistet hatte, sagte mir ein Freund: „Vergiss nicht, dass dieser Eid im Jüngsten Gericht Wort für Wort noch einmal vorkommen wird.“ Wort für Wort! Er wird Recht haben. Eine andere Frage ist nur, ob Eide in unserem weltanschaulich neutralen Staat überhaupt noch einen Platz haben.

Es sagt sich heute leicht, dass der von Hitler auferlegte Eid ein Missbrauch öffentlicher Gewalt war. Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen, dass das von Hitler verlangte bedingungslose Gehorsamsgelöbnis mit seiner eigenen Voraussetzung in Widerspruch steht. Die Bindung der Schwörenden an Gott hebt ja im Grunde die Bindung an den Menschen Adolf Hitler auf. Schließlich fehlte auch die dem Treueid eigene Gegenseitigkeit der Pflichten.

Das alles wurde damals anders interpretiert und sollte Wort für Wort so eingelöst werden, wie es beschworen war. Das alles mussten die Soldaten, die sich am 20. Juli 1944 beteiligten, erst in sich selbst und gegen ihre Umwelt zu der Klarheit bringen, die ihnen für den Anschlag auf Hitler das gute Gewissen verschaffte. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft: es muss geschehen.“ Das waren schließlich Graf Stauffenbergs eigene Worte.

Der Fehlschlag des Attentats mindert nicht – ich sagte es schon – die hohe Achtung vor den Menschen, die es unternahmen. Sie haben vor einer empörten, zweifelnden und tief erregten Welt draußen auf jeden Fall ausgewiesen, dass es auch in unserem Volk damals Menschen gab, die nicht dem Nationalsozialismus verfallen waren. Wir können es nicht ausdenken, wie alles weiter verlaufen wäre, wenn ihr Anschlag Erfolg gehabt hätte.

Eines aber scheint mir sicher zu sein. Der Hitler-Mythos und der nationalistische Wahn wären 1944 mit dem Tode Hitlers noch nicht zerbrochen gewesen. Geblieben wäre eine wütende Anklage, dass die Attentäter uns um den Sieg und um die Herrlichkeit des großdeutschen Reiches gebracht hätten.

Wir Älteren haben die Vergiftung der Weimarer Demokratie durch die Dolchstoßlegende erlebt, die zähe Verleumdung derer, die 1918 dem Kaiser und den Fürsten der Bundesländer das Heft aus der Hand nahmen, die Republik proklamierten und im Versailler Vertrag die Konsequenzen der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg unterzeichneten.

Die „Deutsche Zeitung“, ein Blatt der Deutschnationalen, vom 28. Juni 1919 schrieb damals unter der dicken Balken-Überschrift „Rache!“: „Heute wird im Spiegelsaal von Versailles der Schandfrieden unterzeichnet. Vergib es ihnen nicht! Wo im glorreichen Jahr 1871 das deutsche Kaisertum in alter Herrlichkeit erstand, wird heute die deutsche Ehre zu Grabe getragen. Vergiß es ihnen nicht! In rastloser Arbeit wird sich das deutsche Volk wieder emporarbeiten, um sich den Platz unter den Nationen zurückzuerobern, der ihm zukommt. Dann Rache für die Schmach von 1919!“ In derselben deutschnationalen Zeitung ist auch zu lesen: „Bismarcks Reich von Deutschen zerbrochen. Deutschland geknechtet von Juda. Das ist der Sieg des 9. November.“

Diese ganze Zeitung – sie war beileibe nicht die einzige – ist Auftakt für die nachfolgende jahrelange Hitler-Propaganda gegen die sogenannten Verbrecher vom 9. November 1918. Ihnen wurden vom ersten Tag an Rache und Vergeltung angedroht. Die Konzentrationslager der Nationalsozialisten haben sie schließlich vollends vollstreckt.

Hitler konnte sein Werk bis in die bedingungslose Kapitulation des Zweiten Weltkrieges und bis zu seinem Selbstmord zu Ende führen. Hier kann keine neue Dolchstoßlegende ansetzen.

Wenn ich mich jetzt noch einigen Überlegungen zu der Frage zuwenden darf, welche Flamme wir im Gedenken an die Widerstandskämpfer am Brennen halten wollen, so sollte als Erstes die eindringliche Warnung vor neuem Nationalismus ausgesprochen werden.

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 liebten wahrlich unser Vaterland. Aus dieser Liebe handelten sie. Der seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 in unserem Volk gezüchtete gewalttätige Nationalismus hat sich in den beiden nachfolgenden Weltkriegen genug ausgetobt. Er hat für uns selbst und unsere Umwelt genug Unheil angerichtet. Solches Unheil darf nicht wiederkehren. Hier gilt es, allen neuen Anfängen sehr entschlossen zu wehren.

Gerade hier in Berlin muss immer wieder daran erinnert werden, dass unsere heutige Bedrängnis der Spaltung das Ergebnis nationalistischer Überhebung ist. Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein. Ein nationalbewusster Deutscher kann heute nur Europäer sein.

Krieg ist ohnehin keine Möglichkeit mehr, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt. Darum ist Verständigung unsere nationale Aufgabe, wie sie auch den Widerstandskämpfern vorgeschwebt hat.

Sie alle handelten und starben für eine bessere Welt, für Recht und Gerechtigkeit. Der Hamburger Arbeiterführer Fiete Schulze, auf dessen Namen die DDR übrigens eines ihrer Schiffe getauft hat, schrieb vor seiner Hinrichtung im Juni 1935 in einem Abschiedsbrief an seine Schwester: „Du haderst mit den Verhältnissen, die Dir den Bruder nehmen. Warum willst Du nicht verstehen, daß ich dafür sterbe, daß viele nicht mehr einen frühen und gewaltsamen Tod zu sterben brauchen? Noch ist es nicht so, doch hilft mein Leben und Sterben es bessern.“

Solches Vermächtnis stellt uns vor die immerwährende Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Die Widerstandskämpfer, die nur mit einem Anschein von Justiz einfach niedergemacht wurden, fragen uns, ob wir gegen antidemokratische Geistesrichtungen immun bleiben, ob wir den Geist der ruhigen Vernunft in der Politik bewahren, ob wir Recht und Gerechtigkeit gegen jedermann obwalten lassen. Ich schließe mit einem persönlichen Wort. Mich lässt die Frage nicht los, warum ich im Dritten Reich nicht mehr widerstanden habe. Aus dieser Frage heraus habe ich als früheres Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands die Stuttgarter Erklärung vom Oktober 1945 auch persönlich mit gesprochen, in der es unter anderem heißt: „Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Bei meiner Eidesleistung am 1. Juli habe ich davon gesprochen, dass unsere freiheitliche demokratische Ordnung eines weltanschaulich neutralen Staates ein großes Angebot ist. Dieses Angebot wahrzunehmen, zu leben und zu verwirklichen gehört zu den Vermächtnissen des Widerstandes.






Weitere Reden

19.07.1969
Dr. Jürgen Kunze
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