Es galt und gilt, den Weg des Rechts genau zwischen den Extremen zu gehen.

Klaus Schütz

Es galt und gilt, den Weg des Rechts genau zwischen den Extremen zu gehen.

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Schütz am 19. Juli 1969 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wenn wir an dieser Stelle derer gedenken, die während des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte für ein besseres Deutschland litten und starben, dann kann es nicht nur um den einen Tag, um den 20. Juli 1944, gehen. Der Bogen muss weiter gespannt sein. Viele haben vorher und nachher gelitten. Tausende haben vorher und nachher den Tod gefunden. An sie alle muss heute erinnert werden. Und wer von den vielen spricht, soll nicht nur an Deutschland denken. Er darf Leid und Trauer anderer Völker nicht übergehen.

Ob es uns gefällt oder nicht: Wir müssen erkennen, dass wir auch 24 Jahre nach Kriegsende an den subjektiven und objektiven Folgen des Hitlerregimes noch schwer zu tragen haben. Wer das nicht erkennt, kann nicht gut deutsche Politik machen. Wir haben dabei schwer am Misstrauen vieler Menschen außerhalb unseres Landes und am fehlenden Vertrauen gerade junger Menschen in unserem Land zu tragen, ob unser Wille zur Verständigung wirklich aufrichtig ist und ob die Demokraten unseres Landes stark genug sind und sein werden, sich zu behaupten und ihren Kurs durchzusetzen. Und wir müssen wissen: Um wieder Vertrauen zu gewinnen, reicht es nicht aus, dass wir uns nur auf Widerstandskämpfer berufen und ihrer – wie heute – gedenken. Worte allein genügen hier nicht.

Dabei denke ich nicht nur, aber doch vor allem, an unser Verhältnis zu den Juden, und dabei denke ich ganz bewusst in diesen Tagen auch an Polen. Die Vernichtungsstätte Auschwitz und die willkürliche und totale Zerstörung der polnischen Hauptstadt sind nur zwei Symbole für das, was zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk steht und wohl immer unser Verhältnis kennzeichnen wird – auch dann, wenn wir sehr viel normaler miteinander leben werden.

Die deutsche Politik hat mehrfach ihr Verständnis für den Wunsch der Völker in Ost- und Südosteuropa und damit auch des polnischen Volkes erklärt, in gesicherten Grenzen zu leben. Um hier unser Verhältnis, also auch das deutsch-polnische Verhältnis zu normalisieren, reicht jedoch die Versicherung nicht aus, bei der Regelung von Grenzfragen auf Gewalt zu verzichten. Wenn wir konstruktiv für eine Zukunft in Frieden arbeiten wollen, müssen wir – auch und gerade dort, wo es bei uns schwierig und auch schmerzhaft ist – weitergehen, klarer sprechen und zweifelsfrei handeln.

Die Frage nach der Vergangenheit – gerade der jüngsten Vergangenheit der Deutschen – ist immer auch die Frage nach der Zukunft Deutschlands und nach der Stellung der Deutschen in Europa; es ist die Frage nach ihrem Standort heute, nach ihrer Stellung und nach ihrem Beitrag zu einer dauerhaften europäischen Friedensordnung. Nur in einem friedlich geordneten Europa, dem der Brückenschlag zwischen West und Ost gelungen ist, und in dem die Völker als Gleiche unter Gleichen miteinander um Fortschritt, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle wetteifern, kann dann auch das Vergangene positiv überwunden werden.

Der 20. Juli ist ein Anlass, über uns Deutsche nachzudenken – nachzudenken nicht nur über die Frage, warum ein Hitler in Deutschland an die Macht kommen konnte, sondern auch über die Gegenwart. Es muss aufgezeigt werden, was vor sich ging, als viele unserer Landsleute den Nationalsozialismus ablegten wie ein altes Kleidungsstück und in eine neue Ordnung überwechselten.

Wir haben sicherlich nicht den besten aller Staaten; und wir haben nicht das Höchstmaß an Selbstbesinnung aufgebracht; und wir sind nicht weise geworden. Trotzdem bin ich sicher: Es wird nicht noch einmal ein Diktator unser Volk verblenden können, und es wird von Deutschland kein Krieg mehr ausgehen, und es wird nicht noch einmal im Namen Deutschlands gemordet werden. Dennoch muss gefragt werden: Haben wir einen demokratischen Staat? Diese kritische Frage im Blick auf die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu stellen, ist nicht nur unser gutes Recht, sondern unsere Pflicht.

Das eigentliche Problem einer Demokratie sind letztlich nicht ihre Formen, sondern die Frage, ob es genügend Demokraten gibt, die diese Formen durch ihre Überzeugungskraft mit Leben erfüllen. Das war das Problem der Weimarer Republik. Und das ist unsere Frage heute. Eine der Wurzeln der tiefen Unruhe in der jungen Generation unserer Tage liegt hier bloß. Wer glaubt, ohne einen dicken Trennungsstrich zur nationalsozialistischen Zeit auskommen zu können, wird scheitern. Wir hören im Augenblick im Rahmen der Erörterung unserer Grenzfragen Worte wie Verzicht und Verrat. Dabei wird – wie ich meine – immer und allzu leicht übersehen, welches System, welche Regierung tatsächlich all das aufgegeben, all das verraten, wer in Wirklichkeit auf all das verzichtet hat. Nationalsozialismus war Verrat an Land und Volk, und seine Neuauflage in Deutschland ist Verrat an Land und Volk.

Schon aus diesem Grund muss aktiv gegen diejenigen Gruppierungen vorgegangen werden, die in unserem Land den sonst üblichen Protest um sich sammeln und ihn in Bahnen zu lenken suchen, die gerade bei uns verschüttet und vergessen sein sollten. Ich sehe da übrigens keine unmittelbare Gefahr für unsere innere Ordnung; denn die Anhänger derer werden immer nur eine kleine Minderheit sein. Und dennoch halte ich das, was hier vorgeht und sich dann auch noch in einer Partei organisiert und in der Gewissheit auf öffentliche Parteienfinanzierung in unsere Parlamente einzudringen versucht, für eine nicht erträgliche Belastung – für unser Land, für Berlin und für den deutschen Namen in der Welt.

Das meine ich bewusst in alle Richtungen, nach Osten und nach Westen. Das ist ein Anschlag auf die Glaubwürdigkeit deutscher Friedenspolitik, und es gibt all denen, die zwischen uns und anderen Völkern erneut und immer wieder Misstrauen und Hass säen wollen, einen Vorwand für ungerechtfertigte Anschuldigungen und Verleumdungen.

In den Augen so mancher Mitbürger sind heute junge Menschen die Unruhestifter der Nation. Weil sie sich nicht widerspruchslos in unsere Gesellschaft einordnen wollen und lautstark gegen Missstände oder auch vermeintliche Missstände protestieren, gelten sie als Aufwiegler und Ruhestörer. Hier musste und hier muss sich unsere freiheitliche Grundordnung bewähren. Wir in Berlin haben da unsere Erfahrungen gemacht und auch Lehren gezogen. Das war nicht einfach, weil es galt und gilt, den Weg des Rechts genau zwischen den Extremen zu gehen. Aber auch hier gilt: Wir sind nach außen nur so stark, wie wir im Innern sind.

In den Formen und in den Grenzen, die eine rechtsstaatliche Ordnung für möglich hält, aber nur in diesen Formen und in diesen Grenzen, kann und soll jeder seine Meinung sagen und für seine Überzeugung demonstrieren, auch und gerade wenn sie sich nicht mit der Überzeugung der Mehrheit deckt oder ihr sogar völlig entgegengesetzt ist. Wir müssen wissen, auch für das Recht auf Meinungsfreiheit sind die Gegner der nationalsozialistischen Diktatur gestorben.

Unsere Aufgabe ist es und die Aufgabe der nachrückenden Generationen bleibt es, Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze zu überbrücken, um an dem Ausbau der Demokratie und der freiheitlichen Grundordnung weiterzuarbeiten; denn Unrecht, Unfreiheit und Verletzung der Menschenwürde gibt es auch heute noch. Nicht nur in anderen Ländern, in die wir so gern schauen, um uns zu rechtfertigen. Sie gibt es auch bei uns und in unserer Mitte.

Die Demokratie kennt keine durch Wohlstand und Konsum gewährleistete immerwährende Sicherheit. Wir müssen unsere Demokratie auch als ständigen Belagerungszustand verstehen, ständig von innen und von außen bedroht – gerade und vor allem in dieser von vielen Seiten bedrängten Stadt.

So wollen wir heute der Frauen und Männer gedenken, die für unser Vaterland ein Beispiel gaben: die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch ihren höchsten Repräsentanten, unseren Bundespräsidenten, das Abgeordnetenhaus von Berlin und der Senat von Berlin, die Bürger dieser Stadt und viele außerhalb der Grenzen unseres Landes.

Wir verneigen uns vor denen, die für Freiheit und für Recht und für Menschenwürde kämpften und ihren Einsatz mit dem Leben bezahlten.






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