Ein Kampf gegen die Diktatur für Freiheit und Menschlichkeit

Per Haekkerup

Ein Kampf gegen die Diktatur für Freiheit und Menschlichkeit

Ansprache des ehemaligen dänischen Außenministers Per Haekkerup am 19. Juli 1968 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Ich glaube, dass die meisten Menschen, die zum ersten Mal die Gedenkstätte Plötzensee besuchen, von denselben besonderen Gefühlen beherrscht sind, wie ich in diesem Moment. An einer Stelle zu sein, die Zeuge so vielen menschlichen Leides gewesen ist, so viel Unmenschlichkeit gesehen hat und gleichzeitig so viel Würde, so viele schlechte Menschen und so viele bewundernswerte Menschen erlebt hat, muss jeden Menschen mit Demut erfüllen.

Unter den Menschen, die auf diesem Platz ihren letzten Lebensaugenblick erlebt haben, waren sowohl Teilnehmer des deutschen Widerstandes als auch Frauen und Männer aus den Widerstandsbewegungen in den verschiedenen europäischen Ländern. Die Opfer des 20. Juli, derer wir heute besonders gedenken, können als Symbol des Widerstandes aufgefasst werden. Tausende und Abertausende von Menschen haben für ihren Einsatz für die Freiheit, die Gerechtigkeit und den Rechtsstaat mit dem Leben bezahlen müssen. Wir sind ihnen allen unermesslichen Dank schuldig.

Die Tatsache, dass sowohl Deutsche als auch Widerstandskämpfer anderer Nationalitäten hier geehrt werden können, führt mich dazu, den Vergleich der Möglichkeiten und Umstände des deutschen Widerstandes mit der Widerstandsbewegung im übrigen Europa zu überlegen. Überall, wo die Nazi-Herrschaft des Dritten Reiches ausgeübt wurde, ist die große Mehrzahl der Menschen der gleichen Unterdrückung und demselben Terror unterworfen gewesen, in Deutschland wie in den anderen Ländern. In dieser Hinsicht sind die Vorkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit in allen europäischen Ländern denselben Maßnahmen ausgesetzt gewesen.

Man kann aber einen Unterschied zwischen den Deutschen und den anderen Europäern darin finden, dass es für die deutschen Menschen der damaligen Zeit eine besondere Verpflichtung war, gegenüber der Außenwelt klarzumachen, dass es ein anderes Deutschland gab. Dies ist durch den mutigen Einsatz von Hunderttausenden von Deutschen gelungen. Die meisten dieser Widerstandskämpfer haben ihren Einsatz im alltäglichen Leben geleistet, ohne dass es sofort zur Kenntnis der Außenwelt kam.

Mit dem Versuch des 20. Juli wurde es wie durch einen Blitz klargestellt, dass es einen echten Widerstand in Deutschland gegenüber den Nazis gab. Zwar waren die Männer des 20. Juli nur eine kleine Gruppe, aber außerhalb Deutschlands wurde es verstanden, dass ihre Tätigkeit nur durch eine geistige Grundlage des Widerstandes, der viele andere Ausdrücke gefunden hat, möglich war. Der deutsche Widerstand und die Frauen und Männer, die ihr Leben oder Gesundheit geopfert haben, haben somit einen Einsatz geleistet, der das deutsche Volk vor der kollektiven Schuld an den unglaublichen Unmenschlichkeiten der Nazis gerettet hat. Der Kampf gegen das Dritte Reich war nicht nur ein nationaler Kampf, sondern in erster Linie ein Kampf gegen die Diktatur für Freiheit und Menschlichkeit.

Wir verstehen in den anderen Ländern die besonderen Schwierigkeiten des deutschen Widerstandes. Der einzelne Deutsche musste überlegen, wie weit seine Verpflichtungen gegenüber dem Staat im Vergleich zu seinen Verpflichtungen gegenüber seinem eigenen Gewissen ging. Sie und er mussten den schweren Entschluss fassen, sich gegenüber seinen Landsleuten dem Verdacht des nationalen Verrats auszusetzen, um in Übereinstimmung mit den besten Traditionen des deutschen Volkes, den bei allen Menschen tiefliegenden Drang nach Freiheit und Menschlichkeit zu vertreten. In anderen Ländern waren die Grundlagen der Widerstandsbewegungen nicht nur ein Kampf gegen Diktatur, Terror und Unmenschlichkeit, sondern auch ein Kampf für die nationale Freiheit, für das Aufrechterhalten der Unabhängigkeit der verschiedenen Länder.

Wir verstehen auch im Ausland, dass die praktischen Arbeitsmöglichkeiten einer Widerstandsbewegung anders waren in Deutschland als bei uns. Wenn wir auch erlebt haben, dass einzelne Menschen in den anderen europäischen Ländern sich den Nazisten zur Verfügung stellten, so haben sie doch nur eine ganz kleine Minderheit ausgemacht. Die große Mehrheit der Bevölkerung außerhalb Deutschlands hat den aktiven Widerstandskämpfern in ihrem Kampf gegen den Terroristen geholfen, und die geistige Grundlage des Widerstandskampfes war die Ablehnung dieser überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung von den nazistischen Ideen. Das konnte nicht der Fall sein in Deutschland, und daher waren die Möglichkeiten des Widerstandskampfes kleiner, die Gefahr vielleicht größer und die Forderung zum persönlichen intellektuellen Mut stärker. Umso mehr schätzen wir den Einsatz, der geleistet wurde.

Der Kampf war nicht vergebens. Die Kräfte der Diktatur mussten den Kräften der Freiheit und der Demokratie weichen. Doch leider nicht überall. Es gibt auch auf unserem Kontinent Überreste der alten faschistischen Diktatur. Das stalinistische System wurde fortgesetzt, und neue Diktaturen entstehen auch in Europa. Gleichzeitig ist eine neue Unsicherheit entstanden durch die Anwendung von undemokratischen Methoden in allen Teilen der Welt, teilweise auch in Europa.

Vergleichen wir mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, sehen wir, dass wir 23 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mitten im Zweiten waren. 23 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir Frieden und ein gewisses Gleichgewicht in Europa. Wir können in unserem Vergleich feststellen, dass die Generation, die den Ersten Weltkrieg ausgekämpft hat, auch den Krieg verloren hat, nicht nur in den besiegten Ländern. In großen Teilen von Europa ist die Menschheit nach dem Ersten Weltkrieg in faschistische und nazistische Gewaltmethoden verfallen. Heute ist das anders.

Wir sollen nicht glauben, dass die Demokratie und die Freiheit ein für allemal gesichert sind. Die Freiheit muss täglich wieder erkämpft werden, wieder erreicht werden. Das gilt für die Völker, die unter den existierenden ganz- oder halbtotalitären Regimen leiden. Aber die wiederholte tägliche Erkämpfung der Freiheit berührt auch die außerordentlich wichtige Frage, wie die Reaktion eines Teiles der jungen Generation ist.

Man hat von einer weltumfassenden Jugendrevolution oder Jugendbewegung gesprochen. Man sieht Studentenaufstände in Europa, in Asien, Afrika, Südamerika und Nordamerika. Meines Erachtens ist es aber falsch zu glauben, dass die Situation der Jugend oder nur eines Teiles der Jugend, den wir Studenten nennen, dieselbe ist in den verschiedenen Erdteilen. Wie kann man die Situation der Jugend in den Entwicklungsländern, in Afrika, Asien und Südamerika mit der Situation der Jugend in Nordamerika und Europa vergleichen und glauben, dass dieselben Voraussetzungen vorhanden sind? Und wie kann man glauben, dass innerhalb eines Erdteiles mit den großen Unterschieden der Lebensbedingungen die Jugendprobleme die gleichen sein sollten? Ich glaube, man irrt sich. Aber wenn wir unseren Teilkontinent sehen, wird es offen hervorgehoben, dass das, was wir erleben, die Reaktion der Jugend der Wohlstandsgesellschaft ist. Es wird erzählt, dass die Jugendlichen nichts haben, wofür sie kämpfen können oder woran sie glauben können, dass es für die Jugendlichen zu langsam geht mit der Entwicklung und so weiter.

Ich glaube, dass es übertrieben ist, wenn man die Reaktionen gegenüber unserer Gesellschaft als eine Reaktion des großen Teiles der Jugendlichen sieht. Diese gewaltsame Reaktion trifft nur bei einer Minderheit zu, und zwar oft bei einer sehr kleinen Minderheit. Aber mit den vielen modernen Vermittlungsmitteln ist es wohl unvermeidlich, dass man den Umfang solcher Reaktionen übertreibt. Wenn es auch ein Teil der Jugendlichen ist, der in dieser Weise reagiert, müssen wir im übrigen Teil der Bevölkerung überlegen, was die Grundlage hierfür ist.

Auf der einen Seite glaube ich, muss man einsehen, dass der Staat und die Gesellschaft ihre Verantwortung akzeptieren für die Gebiete, wo Reformen stark notwendig sind und wo sie durch traditionsgeprägte konservative Haltung zu lange auf sich haben warten lassen müssen.

Auf der anderen Seite muss die junge Generation verstehen, dass – wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft lebt – es nur akzeptabel ist, wenn sie demokratische Methoden anwendet. Gewaltmethoden können nicht anerkannt werden. Gewalt ruft Gewalt hervor. Gewaltanwendung einer Minderheit gibt anderen das moralische Recht, auch Macht und Gewalt zu verwenden. Die Erfahrungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren sprechen ihre viel zu deutliche Sprache. Wir wollen nicht akzeptieren, dass eine anscheinend unschuldige Anerkennung von Gewaltmethoden sich zu einer Anarchie entwickelt, zu einem Kampf aller gegen alle. Wo die demokratischen Methoden nicht gestattet sind, wo die Diktatur herrscht, ist die Situation anders, aber in einer Demokratie muss man den demokratischen Spielregeln folgen, sonst steht zu viel auf dem Spiel.

Hat diese Problematik etwas zu tun mit den Menschen, die wir heute im Gedächtnis haben? Glücklicherweise nicht. Und wir müssen sichern, dass das auch nicht der Fall sein wird. Denn dann wären ihre Opfer vergebens gebracht.

Die deutschen Frauen und Männer, die wir heute ehren, haben ihren Einsatz für den Fortbestand des wahren Deutschlands und für die Freiheit und Gerechtigkeit der Menschheit geleistet.






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