Was sie taten, erkennen wir alle an.

Klaus Schütz

Was sie taten, erkennen wir alle an.

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Schütz am 19. Juli 1968 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Zum 20. Juli kommen hier nach Plötzensee die, deren Männer, Väter, Söhne, Brüder ermordet wurden. Es kommen also die, die in der gegebenen oder der gewollten Nähe zum Geschehen damals standen. Und dann sind wir anderen hier. Das sind die Älteren; und es sind die hier, die damals junge Menschen waren; es sind aber auch die hier, die noch Kinder waren oder ungeboren.

Wir alle wissen, was damals war. Wir sind hier, weil wir bejahen, was diese Gruppe von Deutschen am 20. Juli 1944 wollte, was sie versuchte. Darüber braucht im Grunde nicht gesprochen zu werden, weil die Richtigkeit und die Berechtigung ihrer Handlung außer Zweifel steht: Was sie taten, erkennen wir alle an.

Wenn diese Übereinstimmung besteht, dann sind wir hier, um an den 20. Juli 1944 zu erinnern und derer zu gedenken, die diesen Tag gewollt haben. Dann sind wir zu einer Feier hier. Dann vergegenwärtigen wir uns, was am und um den 20. Juli 1944 herum geschah. Wir sprechen von den Beweggründen derer, die damals handelten. Und wir danken und wir sagen gute Worte. Aber ich glaube, das ist zu einfach und zu bequem. Es belässt alles, wie es ist.

Wenn wir hier an dieser Stelle sprechen und gedenken, dann kann es nicht nur um den einen Tag, um den 20. Juli 1944 gehen. Der Kreis muss weitergespannt sein und über die Opfer dieses einen Tages hinausgehen. Viele haben vorher und nachher gelitten; Tausende haben den Tod gefunden, weil sie gegen das Unrecht aufbegehrten. An sie alle muss man sich heute erinnern. Dies ist der Tag im Jahr, es zu tun. Und wer von den vielen spricht, soll nicht nur an Deutschland denken. Er darf Leid und Erfahrungen anderer Völker nicht übergehen. Und deshalb ist es gut, dass neben uns auch unser und mein Freund Per Häkkerup, der frühere Außenminister des Königreichs Dänemark, heute und an dieser Stelle in Berlin steht.

Den Tatsachen und den Umständen des 20. Juli 1944 nachzugehen, sie zu erforschen und die Beweggründe der Handelnden zu verstehen, ist zu einem Teil die Sache der Historie. Aber hier geht es nicht um nur Geschichtsschreibung. Da ist vieles anderswo gründlich und ausführlich dargelegt.

Es geht mir übrigens auch nicht um eine Deutung im herkömmlichen Sinn. Ich weiß, dass Tatsachen und Motive für sich allein nicht stehen können, sondern dass erst die Deutung, die Interpretation den Zusammenhang herstellt und den Sinn vom Geschehen erschließt. Aber ich scheue mich zu deuten.

Es ist nicht die Scheu, den Aussagen, die bisher über den 20. Juli 1944 gemacht wurden, eine weitere hinzuzufügen, auch nicht, in eine der vorgegebenen Deutungen einzustimmen. Ich scheue mich vielmehr, etwas zu deuten, das mit dem Tod von vielen Menschen besiegelt ist. Niemand und nichts kann erfassen und aussagen, was in den Menschen – in jedem Einzelnen – vorging, die für ihre Überzeugung und in ihrer Überzeugung ermordet wurden. Diese Scheu ist begründet in dem Respekt, in der nicht einfach benennbaren Achtung vor den Frauen und Männern des 20. Juli 1944 und weit darüber hinaus des ganzen Widerstandes.

Wahrscheinlich ist an jeder der gebotenen Interpretationen etwas Richtiges. Aber keine, meine ich, kann wirklich begreifen, was war. Angesichts des Elends und des Grauens jener Jahre suchen viele von uns nach Anleihen bei der Metaphysik, um von dort Hilfe für das Verständnis und dadurch auch Erleichterung zu finden. Aber ich halte auch hier daran fest: Diese Interpretationshilfen, deren schlimmste, weil irrationalste das Wort Schicksal ist, verhüllen mehr, als sie aufzeigen. Dieser Verzicht, den man auch die Verweigerung einer Deutung nennen kann, trägt gewiss nicht dazu bei, eine Feier der Erinnerung, eine Feier des Gedenkens zu veranstalten. Auf solche Weise wird, das ist mir klar, die Übereinstimmung, der consensus unter uns gestört, von dem ich sprach.

Aber ich meine: Was am 20. Juli 1944, davor und danach geschah, ist zu ernst, als dass es im Rahmen einer Feier umhüllt werden dürfte. Es betrifft uns in Wirklichkeit zu sehr, als dass es durch eine Feier im Grunde weggestellt werden darf. Und vielleicht kann der Verzicht oder die Verweigerung einer Deutung, die oft genug eine Form der Distanzierung ist, dazu beitragen, uns unmittelbarer und direkter vor den 20. Juli 1944 zu stellen. Damit aber ist gefragt, was wir unter dem Anspruch dieses Tages zu tun haben. Mit dem Andenken an die, die ermordet wurden, ist es nicht getan. Ihnen sind wir es schuldig, am 20. Juli 1968 zu fragen, was an diesem Tage im Jahre 1944 nicht geschah. Ihnen sind wir es schuldig, zu fragen nach den Beweggründen derer, die danach nicht handelten.

Das ist die Frage, die sich alle Deutschen an diesem Tage stellen müssen – die sich alle Deutschen stellen müssten. Das ist die Frage, die uns Deutsche tatsächlich betrifft. Und wir wissen es: Es ist die Frage, die uns trifft. Sie rührt an das Leben jedes Einzelnen. Sie rührt an das Leben unseres Volkes in den vergangenen Jahrzehnten.

Wir wissen alle – das bedarf keiner Darlegung –, dass diese Frage in unserem Lande zu allermeist nicht gestellt wird. Sie wird unterdrückt oder intensiv verdrängt. Wir wissen ebenso, dass erst recht nur die allerwenigsten die Antwort auf diese Frage durchdenken und aussprechen. Und wir wissen auch – wir wissen es ganz genau –, warum die Frage nicht gestellt und mithin die Antwort nicht gegeben wird: weil dies den Einzelnen und unser Volk in die Verstrickung von Schuld führt. Weil dies notwendigerweise dazu führt, Scham zu empfinden.

Die Resignation und Kapitulation vieler in unserem Land, das „Mitlaufen“ ist kein Problem, das 1945 aufgehört hat zu existieren. Vor der Macht oder dem Schein von Macht allein zu resignieren; das finden wir auch heute. Und viele stellen sich auch heute nicht den wirklichen Herausforderungen dieser Zeit und auch nicht – dies muss ich als Regierender Bürgermeister des immer wieder bedrängten Berlins hier sagen – den Herausforderungen dieses gefährdeten Ortes. Nicht wenige durchschauen die Bedrohungen; sie setzen sich mit ihnen intellektuell auseinander – meist sogar zutreffend. Aber die Mehrheit zieht dann nicht die Folgerung, die heißen müsste: noch mehr eigenes Engagement für die freiheitliche Demokratie in unserem Land, aktives Mitarbeiten und nicht bloßes Mitreden.

Es ist möglicherweise nicht übermäßig opportun, so zu sprechen. Aber wie, frage ich, soll an diesem Tag, wie soll an diesem Ort gesprochen werden? Man redet an den Menschen des Widerstandes und an der Sache, die sie vertraten, vorbei, wenn man nur von ihnen spricht. Ihre Handlung hat nur dann den ganzen Sinn, wenn sie in die Praxis, also die Handlungen unseres Volkes einbezogen wird.

Denn dies ist die fatale Dialektik: wenn man nur auf den 20. Juli 1944 blickt und derer, die handelten, gedenkt, mit einem Wort: wenn man das, was gedacht und getan wurde, würdigt, ohne es zu vergegenwärtigen, ohne es auf unsere Gesellschaft zu beziehen, belässt man jene Menschen noch heute in der entsetzlichen Isolierung, in der sie damals waren. Sie werden dann als der Sonderfall betrachtet, als die Ausnahme, während es genau umgekehrt ist.

Sie waren es, die richtig handelten. Sie waren es, die das Normale zu tun beabsichtigten und nicht die anderen. Ihnen ging es um die Wiederherstellung von Recht und Sittlichkeit, von Moral und Menschenwürde. Sie wollten das, was selbstverständlich ist oder sein sollte.

Das Jahr 1968 ist das Jahr der Menschenrechte. Dies alles ist also sehr aktuell, denn genau um dies ging es: um die Rechte des und der Menschen. Der 20. Juli ist Anlass, nachzudenken über uns Deutsche. Dabei muss vor allem auch von der Gegenwart, von uns in Deutschland gesprochen werden. Es muss aufgezeigt werden, was da vor sich ging, als viele unserer Landsleute den Nationalsozialismus, die entsetzlichen zwölf Jahre ablegten wie ein altes Kleidungsstück und in eine neue Ordnung überwechselten.

Und es muss aktiv etwas getan werden gegen diejenigen Gruppierungen, die in unserem Land so erfolgreich Protestwähler um sich gesammelt haben und die diesen Protest in Bahnen lenken, die gerade in Deutschland eigentlich verschüttet und vergessen sein müssten. Und wir müssen politische Mittel finden und einsetzen beispielsweise gegen eine Zeitung, die vom 20. Juli bis Israel gegen alles ist, wogegen auch schon ihre Vorgänger waren.

Die Weimarer Republik ist zu einem wesentlichen Teil daran gescheitert, dass sie die Traditionen des wilhelminischen Deutschlands nicht überwinden konnte. Die glänzende Verfassung der ersten deutschen Republik, die rationale Atmosphäre, die gerade in dieser Stadt Berlin damals herrschte, reichte nicht aus, den Herrschaftsantritt Hitlers zu verhindern.

Die Bundesrepublik ist unsere zweite, doch immer noch sehr junge Demokratie. Sie sollte an die Versäumnisse der zwanziger Jahre denken und an die Gefahren, die Versäumnissen innewohnen. Sie sollten wirklich darangehen aufzuarbeiten, was aus dem dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte aufzuarbeiten ist. Man kann nicht abschütteln, was gewesen ist. Die Götzen der Vergangenheit werden sonst leicht zu den Gespenstern der Gegenwart.

Die Auseinandersetzung mit den zwölf Jahren Nationalsozialismus in Deutschland verursacht Schmerz. Es kann für einen Deutschen keine teilnahmslose und distanzierte Betrachtung jener Jahre geben. Und nur dieser Schmerz ist, wenn ich das so sagen darf, so gut wie das entscheidende Merkmal einer wirklichen Auseinandersetzung mit unserer jüngeren Geschichte. Doch dieser Schmerz ist gering im Verhältnis zu dem, was die Menschen um den 20. Juli 1944, die Menschen des deutschen Widerstandes, erlitten und ertrugen. Ihnen sind wir es schuldig, in diesem Sinne an die Arbeit zu gehen. Das ist kein Akt der Pietät. Das ist eine Arbeit für die Gegenwart, für unser Land und für unsere Zukunft.

Darf ich noch ein Weiteres sagen: So wichtig dieser Tag auch für unsere zukünftige Arbeit ist und sein muss, so sehr muss man sich davor hüten, die Probleme und Aussagen von damals heraufzubeschwören – lediglich zur Begriffsbestimmung in der Diskussion von heute. Manches Wort, das in aktuellen Diskussionen so leicht über die Lippen kommt, ist im Vergleich zu dem, was war, unangemessen und außerhalb jeder Proportionen. Der deutsche Widerstand eignet sich für keine Seite zur Propaganda, um Probleme des Tages – seien sie auch noch so schwierig und ihre politische Bewältigung auch noch so kräftezehrend – zu behandeln, er sollte verschont bleiben davon.

Aber dies muss gesagt werden: Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, so auch am 20. Juli 1944, fanden sich viele Frauen und Männer von gegensätzlicher Anschauung, von gegensätzlichem Werdegang und Wollen zusammen, um eine große Aufgabe der Nation zu meistern und für unser ganzes Volk eine große moralische Herausforderung zu bestehen.

Und also zum Schluss meine Frage. Ich stelle sie im Wissen um die vielen Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze, auch der Generationskonflikte dieser Tage: Können und wollen wir nicht in unserem Land gemeinsam die Herausforderungen annehmen, die sich hier im Innern und von außen, in Berlin und anderswo täglich immer drängender stellen? Ich weiß, dies ist heute mehr als eine Frage, dies ist ein Appell. Es ist ein Appell an alle, die Chance zu nutzen, an dem Ausbau unseres Rechtsstaates mitzuarbeiten und unsere freiheitliche Grundordnung weiterzuentwickeln.






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