Ein leuchtendes Beispiel geistigen Mutes

Hanns Lilje

Ein leuchtendes Beispiel geistigen Mutes

Gedenkrede von Landesbischof Dr. Hanns Lilje am 19. Juli 1961 in der Gedenkstätte Plötzsensee, Berlin

Mit einer besonderen Dringlichkeit steht in diesem Jahr die Frage vor uns, welchen Sinn dieses unser Zusammensein haben kann, das wir im Gedenken an unsere Freunde und Brüder halten, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ihr Leben gelassen haben. Jener dunkle und unheilvolle Tag liegt nun schon 17 Jahre zurück, und wir machen uns deutlich, dass unsere Erinnerungsfeier drei verschiedene Motive bedenken muss.

Es ist zuerst – genau wie in den Jahren vorher – ganz einfach die Liebe und das dankbare Gedenken, das uns mit unseren Toten verbindet. Es wäre nicht gut, wenn unter den stürmischen Veränderungen der Zeit, unter so viel Äußerlichkeiten oder weltpolitischer Sorge, die Erinnerung verblasste und von uns mit leichter Hand behandelt würde. Das sorgfältige und genaue und dankbare Gedenken ziemt uns wohl. Denn nur so kann uns das geistige Erbe gesegnet bleiben, das sie uns hinterlassen haben, indem wir ihres tapferen Sterbens gedenken und an jenes Gotteswort uns halten, das zwischen den beiden Testamenten der Bibel im Buche der Weisheit im 3. Kapitel steht:

Gott versucht sie und findet,

dass sie sein wert sind.

Er prüft sie wie Gold im Ofen,

und nimmt sie an wie ein vollkommenes Opfer.

Es ist aber nicht nur jene Pflicht der Dankbarkeit, die uns innehalten und zurückdenken lässt, sondern es gehört wohl zu den eigentümlichen tragischen Zügen unserer deutschen Geschichte, dass wir dieses Gedenken und das damit verbundene geistige Erbgut nicht nur immer aufs Neue durchdenken, sondern immer auch aufs Neue erwerben, und das heißt in diesem Falle gegen Missdeutung und Herabwürdigung schützen müssen. Mit jener Tragik, die unsere politische Geschichte so oft überschattet hat, und mit der inneren Unsicherheit, die sich aus ungeklärten geistigen Kategorien gegenüber der Vergangenheit ergeben hat, hängt wohl zusammen, dass wir – was wir nie für möglich gehalten hätten – uns schon wieder mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob denn nicht doch, was jene getan und woran viele unter uns bewussten Anteil gehabt haben, ganz einfach Verrat gewesen wäre. Es ist nicht wohl geraten, wenn wir uns durch die seltsame Primitivität solcher Gedanken Ärgernis bereiten lassen. Wir werden, so absurd uns auch solch ein Gedanke erscheint, ihn doch nüchtern und deutlich prüfen und abweisen müssen. Wir werden es nur dann recht tun, wenn wir bei jeder Antwort auch uns selber neu fragen, in welchem Umfange uns jene ethische Kategorie klar gewesen und heute noch klar ist, die uns damals gezwungen hat, zu einer pervertierten Regierung unseres Volkes Nein zu sagen, den Widerstand – wie auch immer wir ihn ausgeübt haben, mit der Waffe in der Hand oder in anderen geistigen Formen – für eine unabweisbare ethische Verpflichtung zu halten und gerade unseren Toten nachzusagen, dass sie alle jene ethische Problematik, für die es vielleicht keine eindeutige Antwort gibt, dadurch gereinigt, geklärt und geläutert haben, dass sie ihre Entscheidung mit dem Opfer ihres Lebens besiegelt haben.

Muss man an dieser Stelle noch ein Wort sagen über eine boshafte propagandistische Verzerrung des 20. Juli, die in dieser Auflehnung nur den Versuch einer feudalistischen Clique zu sehen vermag, die an der Macht bleiben und nur aus diesem Grunde Hitler beseitigen wollte? Diese Anschauung ist zu schäbig, um widerlegt zu werden, aber sie ist zu gefährlich, um schweigend übergangen zu werden, darum mag es genügen, darauf hinzuweisen, dass – wie jeder weiß – Gewerkschaftler, Männer der beiden Kirchen, Pädagogen, Philosophen und Politiker neben Generälen und Trägern alter geschichtlicher Orden an dieser Auflehnung beteiligt waren, und daher gebührt jener verzerrenden Darstellung nur ein entschlossenes Nein.

Aber noch dringlicher spricht zu uns die Situation, in der wir uns in diesem Augenblick treffen. Der Druck, der propagandistische und organisatorische Druck, der auf unsere Schwestern und Brüder aus dem anderen Teile unseres Vaterlandes ausgeübt wird, um sie am Besuch der großen christlichen Versammlung zu hindern, die in diesen Tagen in Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, zusammenkommt, diese Versuche sind ein schwerer Schatten über diesem Tag, denn wenn es schon denen, die drüben die Macht haben, gerechtfertigt erscheint, eine so sehr vom Geiste des Friedens getragene Veranstaltung wie den Kirchentag ihren Verbotssprüchen zu unterwerfen, ist das wie ein grelles Schlaglicht auf die politische Gesamtsituation überhaupt. Vielleicht haben wir uns zu sehr an diesen Zustand der Spaltung gewöhnt, und es mag uns daher gut tun, so schroff erneut daran erinnert zu werden. Gewusst haben wir Jahr um Jahr von dieser schwierigen, bedrückenden und sich allmählich der Hoffnungslosigkeit nähernden Situation.

Wenn in dieser stillen und edlen Stunde des Gedenkens diese Schatten von uns beschworen werden, dann nur deshalb, weil aus allen diesen Zusammenhängen, dem persönlichen Gedenken, dem Wunsche, das Andenken unserer Toten gegen Missdeutung zu schützen, der bedrückenden Erkenntnis von der geschichtlichen Realität des gespaltenen Deutschlands, die Frage, die sich erhebt, dringlicher denn je zuvor, was das Andenken, das wir hier pflegen, unserem Volke in einer solchen schicksalhaften Entscheidung nützen kann. Über die erste Antwort kann kein Zweifel sein. Was die Männer und Frauen auszeichnete, an deren Sterben wir in dieser Feierstunde erneut zurückdenken, ist die Tatsache, dass sie uns ein leuchtendes Beispiel geistigen Mutes gewesen sind. Man zögert, persönliche Erinnerungen heraufzubeschwören, und doch darf ich in diesem Augenblick Erinnerungsbilder auftauchen lassen an einige von denen, die Gott der Herr heimgerufen hat, und die in jenen Tagen der Haft durch ihre gesammelte, aufrechte Heiterkeit der Seele, durch die Unerschütterlichkeit ihres Glaubens, durch die Klarheit und Unbeirrbarkeit ihrer Urteilsbildung uns Vorbild gewesen sind. Ich sage es umso unbefangener, dass jene uns den Mut als die entscheidende geschichtliche Kategorie gezeigt haben, weil es ein ganz und gar unpathetisches, nicht der falschen Heroisierung oder Dramatisierung ausgesetztes Verhalten war.

Die stille und mannhafte Würde, mit der sie ihr Schicksal getragen haben, die aufrechte, von allem Lauten abgewandte Art, die dem tosenden Pathos des rächenden Richters gegenüber doppelt eindrucksvoll war, weil sie eine tiefe Sicherheit um die vertretene Sache an den Tag legte – das alles bedeutet ein geistiges Gut, das nicht einfach verloren sein kann. Wir wissen zwar aus jenen schlimmen Jahren, welche Tiefen der Mensch erreichen kann, in welchem Maße er seine Würde bewusst oder unbewusst aufs Spiel setzen kann, und zu welcher Pervertierung auch der großen Zusammenhänge von Volk, Vaterland und Freiheit der Mensch unter propagandistischer Irreführung fähig ist. Aber wir wollen den Glauben daran nicht aufgeben, dass diese Haltung geistigen Mutes auch zu den unverlierbaren Gütern der Menschheit gehören kann. Jedes Beispiel solcher Mannhaftigkeit ist für unser Volk in seiner gegenwärtigen Lage ein unschätzbares Geschenk, und es tut uns gut, daran zu erinnern, dass gerade in jenen politischen Zeiten der Krise, in denen die harten Realitäten immer unverhüllter ans Licht treten, in denen nicht mehr die Flucht in komplizierte Programmatik möglich ist, sondern unsere Verlegenheiten elementar vor unser geistiges Auge treten, der geistige Mut die erste wichtige entscheidende Voraussetzung ist, ohne die es überhaupt keine Möglichkeit gibt, sich geschichtlich zu behaupten. Es ist unsere, der Zurückgebliebenen Verpflichtung, an unserem Teile deutlich zu machen, dass der Mensch sich in dem Grauen der Geschichte nicht fürchten darf.

Es ist zwar auch über die eigentliche Tiefe kein Zweifel, aus der dieser geistige Mut erwachsen ist. Diejenigen, die im Hitlerreich ihr Leben für die Rettung Deutschlands von seinem Bedrücker dahingegeben haben, waren in der letzten Glaubensentscheidung nicht alle einig. Die überwiegende Mehrheit ist im christlichen Glauben fest gegründet gewesen und durch die schwere Lebensführung tiefer hineingewachsen. Die anderen aber haben auch auf ihrem Wege das tapfere Ja zu ihrem Schicksal gelernt und gesprochen. Man darf es jedenfalls nicht verschweigen, dass die Fähigkeit geistiger Selbstbehauptung entscheidend, ja ausschließlich davon abhängt, dass man sich den innerweltlichen Instanzen nicht unterworfen weiß. Nicht die Machthaber des Tages, die ja gemessen an dem Lauf der Geschichte fast immer nur ein kurzes Leben haben, sind die entscheidende Autorität, sondern der lebendige Gott, der Herr der Geschichte. Wer dies weiß, ist grundsätzlich der Botmäßigkeit vorläufiger irdischer Autoritäten entnommen und damit auch der Furcht vor ihnen.

Politik ist zwar die Kunst des Möglichen und kann nur mit einem hohen Maß nüchterner, realistischer Urteilsbildung betrieben werden. Aber die geschichtliche Sendung, der Auftrag zu geschichtlichem Einsatz darf nicht nach den Chancen des Erfolgs fragen und darf noch weniger jenem Denken Raum geben, für das der Erfolg die einzige Legitimation ist. Das ist vielleicht die größte Lehre, die jene, deren wir heute gedenken, uns hinterlassen haben, dass es geschichtliche Situationen gibt, in denen der Mensch nur noch ins Dunkle hinein glauben, aus diesem Glauben sich entscheiden und mit der Tapferkeit des Herzens auf die dunkle Zukunft zugehen kann. In welchem Maße wir diese Gesinnung heute brauchen, das braucht nicht erst ausgeführt zu werden. Wie auch immer die Entscheidung im Einzelnen ausfällt, und aus welchen Quellen auch immer der Mensch diesen letzten Glauben schöpft – so viel ist gewiss, dass ohne ein solches letztes Fundament gerade die wesentlichste geistige Geschichtsentscheidung der Gegenwart uns nicht gelingen wird. Ich brauche nicht noch einmal daran zu erinnern, dass auf der anderen Seite eine Weltanschauung von großer Geschlossenheit und unleugbarer propagandistischer Kraft uns gegenübersteht. Die Ungenauigkeit des Denkens, das Unverpflichtete unserer geistigen Haltung im Westen ist nicht nur gefährlich, sondern tödlich. Wer das Andenken unserer Toten ehren will, der tue alles, was in seinen geistigen und charakterlichen Kräften steht, diese Schwäche zu überwinden und abzuwehren.

Damit hängt das Letzte zusammen. Man kann nicht vom Opfer des Lebens reden, das diese gebracht haben, ohne sich dem Geiste dieser Opferbereitschaft aufzuschließen. Es ist ja von einer großartigen Seltsamkeit, dass wir in Deutschland diese selbe Frage zweimal haben in geschichtlicher Breite durchdenken müssen. Schon nach dem Ersten Weltkriege, der uns die harte Frage auferlegte, ob das Opfer der Gefallenen sinnlos gewesen sei, hat viele von uns, die damals teilgenommen haben, hart und unmittelbar an diese Frage geführt. Es war die Zeit, in der Friedrich Lienhard in seinem Drama den Heinrich von Ofterdingen im Gedenken an die Gefallenen ausrufen ließ: ”Oh, dass ich je so gierig leben konnte!” Es ist die gleiche geistige Situation, vor der wir heute stehen. Wir bedürfen keines Wortes der Geringschätzung über die unleugbare wirtschaftliche Blüte im Westen unseres Vaterlandes, wir können schon deshalb unbefangen von dieser Tatsache reden, weil ja alle, die damals gestorben sind für ein besseres, freieres und glücklicheres Deutschland, ihren Einsatz gewagt haben, und wenn nach Jahren bitterer Not und schwerer innerer und äußerer Bedrängnis die Freundlichkeit Gottes uns wieder in ein geordnetes Leben zurückgeführt hat, dann besteht unsere Aufgabe gewiss nicht darin, diese wiederhergestellte Ordnung mit einem halben Herzen oder gar mit einem bösen Gewissen zu verwalten. Das tapfere herzhafte Ja zu diesem Wandel unseres deutschen Schicksals ist nicht unerlaubt und nicht verdächtig. Aber es ist uns ja allen klar und am Tage, dass die gedankenlose, plumpe Benutzung des wiederhergestellten Wohlstandes ein Volk nicht stark, sondern schwach, nicht gewiss, sondern nervös, nicht tapfer, sondern feige macht.

Nichts aber würde den Sinn dieser feierlichen Gedenkstunde mehr verfehlen als ein matter moralischer Aufruf. In allen diesen Entscheidungen, den großen der politischen Geschichte, der Frage, woher der Mensch in der bedrohten Gegenwart Mut gewinnen kann, und der Frage nach der geistigen und gereinigten Disziplin, liegt jene große Frage unserer Generation zugrunde, die Frage nach dem Menschen, dessen Würde in so unvorstellbarer Weise mit Füßen getreten ist, der nicht nur der Erniedrigung, sondern auch der brutalen Vernichtung preisgegeben wurde, den die von der Dämonie der Macht Besessenen geschlagen, missbraucht, ausgenutzt und mit Füßen getreten haben, auf die das Wort aus Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende” passt:

„Ich aber hab sie hin zu Tausenden geworfen,

um einer Torheit, eines Einfalls willen

wie man den Kehricht schüttet vor die Tür.”

Dieses bedrückendste Drama unserer Generation ist nicht mit dem Tage zu Ende gegangen, da die Herrschaft des nationalsozialistischen Tyrannen aufhörte. Diese Erniedrigung des Menschen vollzieht sich fort und fort, und noch einmal muss es gesagt werden, dass keine Kraft der Abwehr oder der Überwindung da ist, wo man um das Bild des Menschen nicht weiß oder von einem falschen Bilde geleitet ist, wo hinter allen Möglichkeiten modernen Fortschrittes das Bild des Menschen nicht mehr erkennbar ist. Es muss unser Trost und zugleich der Richtpunkt unseres Denkens sein, zu wissen, dass aber der Mensch, dessen Antlitz auf Gott gerichtet ist, die erste elementare und fundamentale Gegebenheit der Geschichte bleibt. Nicht von einer Idee oder Konstruktion, nicht von einer Philosophie oder Ideologie lebt die Gemeinschaft der Menschen und Völker, sondern allein von der geoffenbarten Wahrheit vom Menschen. Der Tyrann, der Gigant, der es anders haben will, täuscht und führt in die Irre, weil sein Auge diese Wahrheit nicht mehr zu erkennen vermag. Wenn wir das Andenken unserer Toten recht ehren wollen, muss es unsere Bemühung sein, dieses Bild des Menschen in seiner echten Würde wieder erkennbar zu machen. „Einer solchen Stimme, die uns des Menschen Willen spricht, kann kein Sprecher der Erde Gleiches entgegensetzen.“ Solche Kunde ist in der Tat unausrottbar und unüberwindbar und in dem Augenblick, wo eine solche Kunde ihn erreicht, weiß der Mensch, was ihm eigentlich fehlt. Statt sich von flüchtigen Wünschen aufpeitschen zu lassen oder in der Gedankenlosigkeit des Wohllebens, den Errungenschaften unserer Zeit hinzugeben, aus denen er dann durch schwere geschichtliche Krise jäh aufgeschreckt wird, muss der Mensch an seiner wahren, ihm von Gott mitgeteilten Würde wieder anfangen zu denken. Hier ist der Ort der echten Freiheit – der Unabhängigkeit von Umständen und Anfechtungen. Und nur, wo solche Freiheit ist, kann echte und heilsame Ordnung sein.

„Wieder und wieder werden die Tyrannen den Tod rufen, damit er die Erde überdecke und die Schmach ihres Versagens verberge. Wer aber ein einziges Mal es für richtig hielt, dass irgendeines Zweckes wegen die Freiheit der Person übergangen wurde, ist mitschuldig an der Zeit.“ (Reinhold Schneider).

An jenem Prozess, der im Augenblick in Jerusalem geführt wird, ist nicht einmal dies das Bedrückende, dass einer unter den vielen, die in so sichtbarer Weise schuldig geworden sind, auf eine Weise sich der Verantwortung stellt, die weder ihn noch seine Auftraggeber ehrt, und eine Schande erkennbar werden lässt, an der wir alle mittragen, sondern hier wird deutlich, dass unter dem Getöse gewaltiger aber hohler Ideologien eine ganze Zeit einen Anschlag auf den Menschen bedeutet hat. Die tiefe Pervertierung, die sich daraus ergeben hat, kann nur überwunden werden, wenn wir wieder die innere Vollmacht gewinnen, den Menschen aufzurufen zu dem Mute, seine Würde wiederzugewinnen und zu tragen. Christus, der allein dem Geschändeten und Erniedrigten Würde zu verleihen vermag, möge sich unseres Volkes erbarmen und die Würde, die verlorengegangene, beschmutzte, erniedrigte Würde des Menschen wieder unter uns möglich machen! Es ist eine große und unausweichliche Verpflichtung, die in einer Stunde wie dieser aufs Neue vor uns hintritt. Nicht das ist die Frage, ob wir noch ein Recht haben, das Gedenken an diese unsere Toten zu ehren, sondern dass wir nicht aufhören dürfen, an sie zu denken und aus diesem Gedenken unsere geschichtliche Verpflichtung neu zu begreifen.






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