Ein Leuchtturm unserer Geschichte

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Dr. Hans-Jochen Vogel

Ein Leuchtturm unserer Geschichte

Gedenkrede des Bundesministers für Raumordnung und Städtebau Dr. Hans-Jochen Vogel am 20. Juli 1973 im Herkulessaal der Residenz in München

Zu der heutigen Feierstunde überbringe ich Ihnen die sehr herzlichen Grüße und Wünsche des Herrn Bundeskanzlers und der Bundesregierung. Sie wissen, wie sehr sich gerade der Bundeskanzler Ihnen aufgrund seines eigenen Lebensweges verbunden fühlt und wie hoch er Ihren Anteil an der Rehabilitierung des deutschen Namens nach dem Zweiten Weltkrieg einschätzt. Um so mehr bedauert er, nicht selbst zu Ihnen kommen zu können.

Fast genau vor 29 Jahren, am 21. Juli 1944, schrieb Henning von Tresckow, einer der aktivsten Männer des Widerstandes, unter dem Eindruck des missglückten Aufstandes und schon im Angesicht des Todes folgende Sätze:

„Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß wir recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn Gott einst Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird. Niemand von uns kann über seinen Tod Klage führen. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.“

Mit Tresckow starben Tausende von Männern und Frauen durch Hinrichtung oder erzwungenen Selbstmord, manche wie Graf Stauffenberg schon am Tage des Attentats, manche nach Wochen schwerer Folter und entwürdigenden Schauprozessen, andere erst wenige Tage vor Kriegsende. Es waren Deutsche aller Berufe, aller politischen Richtungen und aller Konfessionen: Offiziere und Diplomaten, Sozialisten und Konservative, Geistliche und Arbeiter. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Historiker sprechen von 7.000 Verhafteten, von denen knapp 5.000 hingerichtet oder auch ohne jedes Verfahren ermordet wurden. Dieser Männer und Frauen gedenken wir heute, 29 Jahre nach der Erhebung gegen den Tyrannen, nach dem Aufstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Wir gedenken damit zugleich aller Opfer des inneren Widerstandes, die in den Jahren seit 1933 einsam und oft namenlos in den Gestapo-Kellern, Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern des Dritten Reiches starben. Denn der 20. Juli 1944 war kein isoliertes, kein spontanes Ereignis, sondern war der sichtbarste Ausdruck einer umfassenden und kontinuierlichen Bewegung des Protestes gegen Unrecht und Unmenschlichkeit, die in alle Schichten der Bevölkerung reichte - eine Bewegung, die der französische Historiker Maurice Beaumont einmal mit einem mächtigen und weitverzweigten Baum verglich, der mit vielen seiner Wurzeln hinabreichte in das Erdreich einer besseren Vergangenheit, eines anderen, eines humanistischen, geistigen, liberalen und sozialen Deutschlands.

Warum und wofür kämpften und starben diese Männer und Frauen? Was waren ihre Motive? Wo lagen ihre Ziele?

Sie hatten zunächst sehr realpolitische Ziele: Den Sturz Hitlers und seines Regimes, die Beendigung des Krieges und der von dem Regime unablässig verübten Verbrechen. Ein Erfolg des Aufstandes hätte sicher mehr Menschenleben gerettet und mehr materielle Verluste erspart als in den fünf vorausgegangenen Kriegsjahren bereits geopfert worden waren. Andererseits hätte er aber die Gefahr einer neuen Dolchstoß-Legende heraufbeschworen, die nach 1918 das politische Leben der Weimarer Republik auf so unheilvolle Weise vergiftet hat. Eine gesteuerte Niederlage anstelle eines chaotischen Zusammenbruchs, die für einen erträglichen Friedensschluss Raum ließ und die Errichtung einer neuen staatlichen Ordnung waren die nächsten Ziele. Es gab eine Kabinettsliste für eine vorläufige Regierung, den Entwurf einer Regierungserklärung und den Text eines Aufrufs an das deutsche Volk. Doch auch hier regten sich unter den Verschworenen Zweifel. Manche von ihnen sahen, dass es für die Steuerung der Katastrophe kaum noch einen Spielraum gab. Nicht nur die militärische, auch die außenpolitische Lage Deutschlands war hoffnungslos. Die Alliierten hatten sich auf der Konferenz von Casablanca auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands gegenüber Ost und West als Kriegsziel geeinigt und waren nicht bereit davon abzugehen. Und was würde innenpolitisch geschehen? Ein Bürgerkrieg lag im Bereich des Möglichen. Hitlers Faszinationskraft war erschüttert, aber noch keineswegs gebrochen. Breite Schichten waren nicht nur kriegs- sondern überhaupt kampfesmüde, apathisch und physisch erschöpft. Den sozialdemokratischen Widerstandsorganisationen war schon vor dem 20. Juli durch blutige Verfolgungen das Rückgrat gebrochen. Die beiden Persönlichkeiten, die die Massen mit sich hätten reißen können, standen nicht mehr zur Verfügung: Der Sozialdemokrat Dr. Julius Leber war bereits in Haft, der Feldmarschall Erwin Rommel schwer verwundet. Rommel wurde später zum Selbstmord gezwungen, Julius Leber hingerichtet.

Die Verschworenen kannten diese Zweifel und Risiken. Ihr Weg bis zum Attentat und zum Staatsstreich war lang und immer wieder unterbrochen von Fehlschlägen und nagender Entmutigung. Lange hielten sie auch an der Absicht fest, Gewalt zu vermeiden und die legale Form zu wahren. Erst spät rangen sie sich unter Gewissenszweifeln zu der Einsicht durch, dass der Tyrannenmord als letzte und einzige Möglichkeit blieb. Dies war das Wagnis. Es missglückte - infolge einer Kette schicksalhafter Zufälle. Was den Terror hätte beenden sollen, entflammte ihn noch einmal zu höchster Grausamkeit.

Vieles spricht dafür, dass die Verschworenen den Fehlschlag im Voraus ahnten. Aber mehr noch als die Hoffnung auf den Erfolg trieb sie die Pflicht, der ethische Sinn ihres Handelns. „Wir haben uns geprüft vor Gott und dem Gewissen: Es muß geschehen“, waren die Worte Stauffenbergs. Von Tresckow sind die Sätze überliefert: „Das Attentat auf Hitler muß erfolgen um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“ Und Erwin Planck, damals Staatssekretär, bejahte den Anschlag „allein schon um der moralischen Rehabilitierung Deutschlands willen ...“

Dieses Ziel haben die Verschworenen zusammen mit allen, die in den Jahren der Gewaltherrschaft Widerstand leisteten, erreicht. „In Deutschland“, so erklärte Winston Churchill bereits 1946 vor dem britischen Unterhaus, „lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen und außen - einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament des neuen Aufbaues.“ Und ganz ohne Zweifel ist unsere Wiedereingliederung in die Familie der Völker, ist selbst noch die Entspannungspolitik der letzten Jahre durch ihr Handeln, ihr Leiden und ihr Sterben erleichtert und beschleunigt worden.

Aber ist das alles? Ich glaube nicht. Die Männer und Frauen des Widerstandes wollten über ihren Tod hinaus mehr. Kurt Huber umschrieb das in seinem Schlusswort vor dem Volksgerichtshof mit dem Satz:

„Was ich bezweckte, war die Rückkehr zu klaren, sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, die Wiederherstellung der Legalität.“

Und Bebo Wagner, der Augsburger Sozialdemokrat, schrieb kurz vor seiner Hinrichtung aus dem Gefängnis München-Stadelheim:

„Wir aber bereiten den Boden für eine bessere und friedlichere Zukunft, für eine neue Menschlichkeit.“

Dringen diese Botschaften noch in unser Ohr und in unser Bewusstsein? Haben wir sie an die junge Generation weitergegeben? Handeln wir danach? Oder beschwichtigen wir unsere eigenen Zweifel mit Feierstunden, die zu Pflichtübungen werden? Waldemar von Knoeringen, selbst ein Mann des Widerstandes, haben diese Fragen bis an sein Lebensende beschäftigt. So zweifelte er schon vor zehn Jahren in einer Gedenkrede für den sozialdemokratischen Widerstand, ob wir als deutsches Volk, als deutsche Demokratie die Größe und Bedeutung dieses Widerstandes wirklich erkannt und verstanden hätten. „Haben wir Überlebende auch“, so fragte er, „den Boden bereitet für eine neue Menschlichkeit, wie sie Bebo Wagner vor seiner Hinrichtung visionär vorausahnte?“ Und er frug weiter: „Wie viele von uns hätten denn die moralische Kraft, für diese Demokratie ihr Leben zu wagen? Ist sie nicht unrealistisch, ist sie nicht zu emotional, zu idealistisch, diese Mahnung aus den Gräbern des Widerstandes?“

Ich bin nicht sicher, ob wir heute beide Fragen guten Gewissens bejahen können.

Lassen Sie mich deshalb die Mahnung des Widerstandes, die Mahnung des 20. Juli 1944 noch einmal in drei Punkten zusammenfassen.

1.

Der Widerstand hat Männer und Frauen aller Volks- und Berufsschichten, aller Glaubensbekenntnisse und aller politischen Richtungen vereint. Sie stimmten trotz aller Gegensätze im Einzelnen in fundamentalen Fragen überein. Sie waren sich bewusst, dass die Weimarer Republik am Fehlen dieser fundamentalen Übereinstimmung zugrunde gegangen ist. Auch wir brauchen diese grundsätzliche Übereinstimmung und dürfen sie durch eine übertriebene Polarisierung, durch ein ganz unsinniges Freund-Fein-Denken, durch die gegenseitige Verteufelung von Gruppen und Schichten unseres Volkes nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

2.

Der Widerstand wusste, dass Staat und Recht untrennbar zusammengehören. Das Recht bindet den Staat, aber auch den Einzelnen. Nur der Rechtsstaat gewährleistet die Freiheit, macht die Ausübung von Herrschaft und Gewalt berechenbar, ja erträglich. Die Weimarer Republik starb, als die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit durchbrochen und rechtsfreie Räume für die willkürliche Anwendung von Gewalt, physischen und psychischen Terror geschaffen wurden. Auch wir können ohne den Rechtsstaat die Freiheit nicht bewahren. Deshalb müssen wir jeden Versuch, ihn zu durchlöchern, jeden Ansatz, wo auch immer, rechtfreie Räume entstehen zu lassen, jeder Intention, materielle oder politische Ziele durch Rechtsbruch zu erreichen, entschieden widerstehen.

3.

Der Widerstand hat erkannt, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auch dadurch möglich wurde, dass sich die Republik nicht entschieden genug gegen ihre Feinde zur Wehr gesetzt hat, dass sie fanatisch Intoleranten mit Toleranz begegnete. Ein Goebbels höhnte schon vor 1933 die Demokraten, die ihn mit Freifahrkarte und Immunität ausgestattet hätten.

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch haben die Demokraten in diesem Land daraus ihre Konsequenz gezogen. Sie schrieben unter Federführung Wilhelm Hoegners in die bayerische Verfassung von 1946 unter anderem die Sätze:

„Der ungestörte Genuss der Freiheit für Jedermann hängt davon ab, dass alle ihre Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen. Die Verfassung dient dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner. Ihr Schutz gegen Angriffe ist nach innen gewährleistet durch die Gesetze, die Rechtspflege und die Polizei. Vereine und Gesellschaften, die darauf ausgehen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu vernichten oder gegen Volk, Staat oder Verfassung Gewalt anzuwenden, können verboten werden.“

Von diesen Sätzen sollten wir nichts abstreichen. Und vor allem: Wer die Verfassung und den demokratischen Rechtsstaat verteidigt, sollte das nicht ängstlich und mit schlechtem Gewissen tun, sondern mit der festen Überzeugung, dass er der Freiheit und der Menschlichkeit, dem Frieden und der Zukunft besser dient als die Zaghaften, die Gleichgültigen und die Opportunisten, die unveräußerliche Prinzipien zur Handelsware machen, mit der sie einen kleinen Aufschub, ein bisschen Beifall oder auch nur das eine erhoffen, dass man sie in Ruhe ihren Geschäften nachgehen lässt.

Waldemar von Knoeringen hat gefragt, wie viele von uns denn die moralische Kraft hätten, für diese Demokratie ihr Leben zu wagen. Nun, das verlangen wir heute - übrigens mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit und oft genug sogar mit innerer Kühle - von einer Handvoll unserer Polizeibeamter. Von uns erwartet das niemand. Aber Engagement im Alltag, die Bereitschaft, Rechtsbruch Rechtsbruch zu nennen, die rechtmäßige Ausübung staatlicher Autorität gegen Rechtsbrecher nicht widerwillig hinzunehmen, sondern als notwendig zu begrüßen und notfalls zu verteidigen, den Mut auch zu Reformen, die uns aus den Fesseln eines vordergründigen und abstumpfenden Wohlstands-Materialismus befreien - das kann man billigerweise von uns fordern. Uns dieser Forderung nicht zu verschließen, ihr im Konkreten gerecht zu werden - das ist eine politische Konsequenz aus dem Handeln der Frauen und Männer des 20. Juli und das ist wahrscheinlich eine bessere Ehrung ihres Gedenkens als die wohlklingendste aber folgenlose Festansprache. Lassen Sie uns auf diese Weise dafür Sorge tragen, dass der 20. Juli nicht zu einem historischen Datum wird, das schon hinter dem Horizont unserer Geschichte versinkt sondern ein Leuchtturm bleibt, dessen Signale uns vor neuer Not bewahren.






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