Ein Symboltag des Widerstandes

Eberhard Diepgen

Ein Symboltag des Widerstandes

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Eberhard Diepgen am 20. Juli 1994 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Zum 50. Mal jährt sich heute der Tag, an dem der aussichtsreichste Versuch scheiterte, den Diktator Adolf Hitler zu beseitigen. Am 20. Juli 1944 wurde die Selbstbefreiung gewagt. Es war ein Versuch, dem Verbrechen ein Ende zu bereiten. Den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes wollen wir heute und auch künftig ein ehrendes Andenken bewahren.

Der 20. Juli ist aber auch ein Symboltag des Widerstandes, der Tag, an dem die Bundesrepublik all derer gedenkt, die in Deutschland den Nationalsozialismus bekämpft haben, die ihr Leben oder ihre Freiheit dafür gaben – und weitgehend vergessen sind. Die Frauen und Männer um Stauffenberg, die jungen Leute um Sophie und Hans Scholl, Harnack, Schulze-Boysen und viele andere – dass es diese Menschen gab, hat es mir leichter gemacht, mich auch angesichts von Verbrechen in der deutschen Geschichte zu meinem Vaterland zu bekennen.

Die Männer und Frauen, die an der Operation „Walküre“ beteiligt waren, hatten erkannt, dass Hitler Deutschland und Europa in eine Katastrophe führte. Sie fühlten sich verantwortlich für die Nation und sie waren selbst der Macht am nächsten. Die demokratische Grundordnung, nach der wir seit fünfundvierzig Jahren leben, ist nicht genau jener Staat, den sich die Frauen und Männer des 20. Juli vorgestellt haben. Aber das mindert nicht die moralische Größe ihres Versuchs.

Für die moralische Beurteilung war außerdem Erfolg oder Scheitern der Tat des 20. Juli zweitrangig. Entscheidend war der Mut zum Handeln aus Freiheit und Gewissen. Es bleibt aber dennoch ein Dilemma deutschen Widerstandes gegen Totalitarismus in diesem Jahrhundert, dass einerseits die Männer und Frauen des 20. Juli ohne eine breite Unterstützung der Bevölkerung blieben, während andererseits beim Aufstand des 17. Juni 1953 die Hunderttausende, die sich gegen das Ulbricht-Regime erhoben, ohne Führung waren.

Das Andenken der Frauen und Männer des deutschen Widerstandes gehört zu den großen Vermächtnissen unserer Geschichte. Es ist kein Zufall, dass die Gruppe um Graf Stauffenberg aus alten preußischen Traditionen kam. Es war die Fortsetzung jenes Denkens und Handelns eines Generals Friedrichs des Großen, der sich geweigert hatte, ein Dorf zu plündern, und der dafür aus der Armee ausgestoßen wurde. Sein Name war Johann von der Marwitz, und auf seinem Grabstein in Friedersdorf steht das denkwürdige Wort: „Er wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“

Die Erinnerung an den deutschen Widerstand ist in vielen Formen denkbar. Und es ist selbstverständlich, dass Ergebnisse historischer Forschung zu Akzentverschiebungen führen. In der früheren DDR wurde der kommunistische Kampf gegen Hitler ganz einseitig überhöht. Dies, obwohl er hinter dem zurückgeblieben war, was man angesichts der schon vor 1933 etablierten Kampforganisationen und konspirativen Netze hätte vermuten können. Kirchlicher, konservativer und militärischer Widerstand wurden in der DDR lange Zeit diskreditiert oder verschwiegen. Unsere Gesellschaft hat demgegenüber ein offeneres und ehrlicheres Verständnis im Umgang mit Geschichte.

Der Widerstand ist in den letzten Jahren in seiner ganzen Vielfalt erforscht worden. In Berlin zeigten zahlreiche Ausstellungen und Publikationen Männer und Frauen, die sich – oft im kleinen, privaten Rahmen – gegen die Diktatur gewehrt haben. In vielen Städten Deutschlands hat man erkundet, welche Formen der Widerstand in einzelnen Stadtvierteln hatte, welche Vielfalt an Aktionen und Motiven es gab. Das ändert nichts an der Tatsache, dass das Regime übermächtig war und dass es daher der Hilfe von außen bedurfte, um Deutschland von der Diktatur zu befreien.

Der Bendlerblock ist ein Ort, an dem sich deutsche Geschichte in tragischer Weise ereignet hat. Hier war der Arbeitsplatz von Graf Stauffenberg. Hier wurden unmittelbar nach den Ereignissen die ersten Männer hingerichtet. Diese Gedenkstätte hier ist der Ort, an dem wir den deutschen Widerstand ehren.

Es besteht aber gleichwohl ein Unterschied zwischen der Ehrung und der vollständigen historischen Aufarbeitung. Die aktuelle Diskussion um das Museum rührt unter anderem daher, dass die räumliche Nähe zwischen dem Arbeitsplatz des Grafen Stauffenberg und der Darstellung von Widerstandsformen, die neue Verbrechen gegen Freiheit und Menschlichkeit anstrebten, zu Missverständnissen führen kann. Die Erinnerung an den Widerstand insgesamt, an seine Vielfalt und seine unterschiedlichen Ziele, also die umfassende historische Darstellung, ist eine Aufgabe der Nation. Sie könnte künftig zu den Arbeiten des Deutschen Historischen Museums gehören

Dieser Ort, wo vor 50 Jahren kurz nach Mitternacht ehrenhafte Deutsche standrechtlich erschossen wurden, erinnert daran, Mut und Handlungsbereitschaft zu beweisen, wo Freiheit und Gewissen dies fordern. Entschlossen für ein Leben in Freiheit einzutreten – das ist das Vermächtnis derer, die für ihre Überzeugung ermordet wurden. Mag die Tat auch erfolglos geblieben sein, mag sie in ihrer Vergeblichkeit auch den Lauf der Dinge nicht beeinflusst haben – sie hat aber das Urteil über jene Zeit verändert und damit den demokratischen Neubeginn in Deutschland erleichtert. Daran denken wir auch nach 50 Jahren mit Hochachtung und Dankbarkeit.







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