Ein Zeichen für Freiheit und Menschlichkeit

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Klaus Wowereit

Ein Zeichen für Freiheit und Menschlichkeit

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit am 20. Juli 2004 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute jährt sich zum 60. Mal der Tag, an dem sich tapfere Männer und Frauen gegen Hitler erhoben. Der 20. Juli: Das war ein Aufstand des Gewissens und ein Aufstand auf jede Gefahr. Eine kleine Gruppe mutiger Verschwörer stellte sich der entfesselten Barbarei entgegen. Wenn wir heute auf diese bewegten Tage zurückschauen, dann erscheint uns dieser Aufstand ebenso verzweifelt wie aussichtslos. Und als die Verschwörer in den Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof gedemütigt wurden, da schien sich das Verdikt von Hitlers Henker zu erfüllen: „Der Untergang in der Geschichte ist Ihnen gewiss.“

Zu diesem Zeitpunkt war der Nazi-Herrschaft selbst bereits der „Untergang in der Geschichte“ beschieden. Aber in den letzten Monaten wütete der Krieg nur noch fürchterlicher. Zahllose Menschen fanden noch den Tod. Hätte Stauffenbergs Bombe Hitler getötet und wäre der Umsturz geglückt, dann wäre den Menschen unsägliches Leid erspart geblieben. Darin liegt die Tragik des 20. Juli.

Und doch können wir heute, da sich der 20. Juli zum 60. Mal jährt, feststellen: Die Erinnerung an die Verschwörer gegen Hitler ist nicht verblasst. Sie erstrahlt heller denn je. Dass es soweit kam, liegt an der Abkehr von der Schwarz-Weiß-Malerei vergangener Jahre. Die Verschwörer vom 20. Juli taugen nicht zu heldenhafter Verklärung. Sie taugen schon gar nicht zur ideologischen Verdammung (wie es in der Vergangenheit leider nicht selten geschah).

Skrupel und Mut, Entschlossenheit und Ohnmacht lagen bei ihnen dicht beieinander. Nur ihr Gewissen, ihr im Laufe des Krieges geschärftes Bewusstsein für Verantwortung, Recht und Moral, gab ihnen innere Festigkeit.

Zu diesem runden Gedenktag ist die Präsenz des 20. Juli in der Öffentlichkeit dankenswert hoch. Und mehr noch: Wir erleben vielleicht zum ersten Mal, dass das öffentliche Gedenken des 20. Juli durch keine größere Kontroverse getrübt wird. Was hat es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht für heftige, zum Teil auch unwürdige Debatten gegeben. Zum Glück haben die Historiker und Widerstandsforscher vieles gerade gerückt und mit groben Fehlurteilen aufgeräumt. Wenn wir diese Debatten heute betrachten, dann fällt auf, wie schwer wir Deutsche uns mit dem Thema Widerstand tun. Es fällt vielen schwer, einen entscheidenden Antrieb für Widerstand zu akzeptieren: nämlich die selbstkritische Wahrnehmung der eigenen Verstrickung.

Schuld und Scham, aber auch Vaterlandsliebe und Pflichtbewusstsein waren die zentralen Motive der Männer und Frauen des 20. Juli. Es waren quälende, mitunter schmerzhafte Prozesse, die dem Entschluss zum Widerstand vorangingen. Viele der Verschwörer gehörten Offiziersfamilien an, die über Generationen hinweg treu und ergeben gedient haben. Gerade für sie bedeutete die Entscheidung zum Widerstand einen beispiellosen Bruch mit den Traditionen des preußisch-deutschen Militärs, aber auch mit der eigenen Familientradition – obwohl es doch im Grunde Hitler war, der diese Tradition verraten hatte. Die Entscheidung zum Widerstand war denn auch eine Rückbesinnung auf die wahren preußischen Tugenden wie Recht und Verantwortung. Bei diesem Schritt in den aktiven Widerstand waren die Männer und Frauen des 20. Juli ganz allein mit sich und ihrem Gewissen.

Joachim Gauck hat dies kürzlich auf den prägnanten Nenner gebracht: „Widerstand wird, Widerstand ist nicht.“ Eben das macht den 20. Juli für uns Nachgeborene so schwierig, aber auch so wertvoll. Das Beispiel dieser Männer und Frauen zeigt uns, dass Verstrickung in Unrecht und Barbarei nicht ausweglos sein muss; dass Menschen auch in größter Not den Mut zu einer befreienden Tat finden können, sofern sie ihrem Gewissen vertrauen.

Nicht um das eigene Leben und das ihrer Angehörigen fürchteten die Verschwörer. Sie fürchteten auch, dass ihre unerhörte Tat folgenlos blieb. Gewiss: Der Umsturz ist gescheitert. Aber auch nach sechs Jahrzehnten stechen der Mut und die moralische Integrität der Männer und Frauen des 20. Juli aus der deutschen Geschichte heraus. Wo doch unsere Geschichte so reich ist an Mutlosigkeit, Opportunismus und Kadavergehorsam.

Dem Umsturzversuch war kein Erfolg beschieden. Aber er war nicht umsonst. Die Tragik des Scheiterns öffnet unsern Blick auf die Menschen und ihre Motive. Die Männer und Frauen des 20. Juli haben in Deutschlands dunkelster Stunde ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen für Freiheit und Menschlichkeit.

Wir können aus ihrem Beispiel lernen, dass Mut, Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage Werte sind, die man erkämpfen muss und für die man kämpfen muss.

Wir können lernen, dass Widerstand gegen Diktatur und Unterdrückung niemals umsonst ist – nicht einmal in scheinbar aussichtsloser Lage.

Zu erkennen, dass der Einsatz für diese Werte Voraussetzung für eine gerechte, demokratische und solidarische Gesellschaft ist – darin liegt der Sinn des Gedenkens. Und darin liegt das Vermächtnis der Männer und Frauen vom 20. Juli sowie aller anderen, die sich Diktaturen widersetzen. Die Frauen und Männer des Widerstandes sind zu geistigen Wegbereitern unserer Republik geworden. Aus dem Widerstand gegen ein System, das Menschlichkeit ausschloss, ist das moralische Fundament eines Staates geworden, der die Würde des Menschen zum Bezugspunkt allen staatlichen Handelns macht.

Deshalb ist es richtig und bleibt es richtig, dass wir auch knapp 60 Jahre danach noch an den 20. Juli erinnern. In diesem Sinne verneigen wir uns vor den aufrechten und mutigen Frauen und Männern des Widerstandes.







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20.07.2004
Gerhard Schröder