"Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade."

Otto Dibelius

„Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“

Predigt von Bischof Dr. Otto Dibelius am 20. Juli 1960 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde,

welches geschieht durch Gnade. (Hebr. 13,9)

Liebe Gemeinde,

wir sind hier beieinander, um der Opfer zu gedenken, die der 20. Juli 1944 gefordert hat, und zugleich der anderen Opfer, die nach Gesinnung und Schicksal mit den Männern und Frauen des 20. Juli zusammengehören.

Wir stehen dabei vor Gott als Vertreter eines großen Kreises, der über alle Unterschiede der Konfessionen, der Berufe und Parteien hinausgreift – ja, wie wir denken, im Grunde als Vertreter des ganzen deutschen Volkes. Dann aber müssen wir all das, was unter uns an Verschiedenheiten ist, zunächst einmal im Hintergrunde lassen und uns auf das besinnen, worin wir unmittelbar einig sind, wenn wir an die vergangenen Tage zurückdenken.

Vielleicht ist das nicht so einfach getan, wie es ausgesprochen wird. Das, woran wir zurückdenken, hat sich vollzogen unter Menschen sehr verschiedener Art. Wir stecken selber in Problemen, die zerreißend und qualvoll werden können, weil es sich dabei um allerletzte Entscheidungen handelt. Ich nenne nur die Frage, die uns noch heute als ein ungelöstes Problem auf der Seele liegt: die Frage, wie weit der aktive Widerstand gegen vorhandene Obrigkeit sich erstrecken darf.

Wir kommen aus einer Geschichte her, für die es ein solches Problem überhaupt nicht gab. Noch als mir zu Anfang des Jahres 1943 Dietrich Bonhoeffer zum ersten Mal im Einzelnen erzählte, welche Pläne bei einem Teil der Generalität und einem Teil der zivilen Mitarbeiter erwogen würden, habe ich instinktiv zurückgezuckt und gemeint: Das wird nicht zur Tat werden; ein preußischer General erhebt nicht die Hand gegen den Obersten Kriegsherrn, der mag sein, wer er will! Ich habe damals die Leidenschaft des Gewissens, die in jenem Kreise vorhanden war, unterschätzt. Ich habe sie unterschätzen müssen, weil ich nur wenige von den Männern, um die es sich handelte, persönlich kannte. Aber das Problem, das ich damals empfand, ist noch heute lebendig unter Ungezählten, unter ungezählten Christen zumal: Ist es christlich verantwortbar, sich durch Fahnenflucht dem zu entziehen, was einem bevorsteht, oder gar zu modernen Vernichtungsmitteln greifen, um gewaltsam eine Änderung herbeizuführen? Ich für meine Person glaube jetzt, mit diesem Problem fertig zu sein. Aber ich weiß, wie viele andere nicht damit fertig sind. Wir werden in großer Geduld diese Frage weiter vor Gottes Angesicht zu erwägen haben.

Aber in dieser Stunde soll es eben nicht um Probleme gehen. Wir lassen das alles beiseite und fragen schlicht und einfältig, was uns Gott zu sagen hat durch das Opfer der Männer und Frauen, derer wir gedenken. Wenn ich diese Frage beantworten soll, so möchte ich drei Dinge herausgreifen, in denen diese Männer und Frauen, so verschiedenartig sie waren, sich doch alle einig wussten.

Das erste ist, dass sie alle unter der wuchtigen Forderung ihres Gewissens gestanden haben. Wenn Annedore Leber ihren Gedächtnisband an die Opfer des 20. Juli mit dem Titel überschrieben hat: „Das Gewissen steht auf!“ – dann hat sie genau den Punkt getroffen, in dem jene Männer und Frauen alle einig waren. Sie alle sind der Meinung gewesen, dass es in einer Zeit untragbaren Terrors nicht genug sein kann, den Kopf zu schütteln und sich dem Zwang dieses Terrors so weit zu entziehen, wie man kann, sondern dass man dann gefordert ist, – gefordert nicht durch ein Bedürfnis nach Umsturz und Revolution, wie es manche haben, nicht gefordert durch irgendwelche persönlichen Erlebnisse. Ich weiß natürlich, dass unter den Männern, die damals im Vordergrunde standen, mehr als einer war, in dessen Herzen die letzte, bittere Feindschaft gegen die damalige Führung an dem Tage übermächtig wurde, an dem ihre eigenen Söhne vor Stalingrad umkamen und sie sich sagen mussten: Zwecklos und sinnlos wird uns das Teuerste geraubt!

Aber das hat niemals im Vordergrunde gestanden. Das Entscheidende war, dass ihr Gewissen etwas von ihnen verlangte und dass sie dieser Stimme ihres Gewissens bedingungslos gehorcht haben. Im Rückblick auf eine Zeit, in der so viel Dunkel war, im Rückblick auf eine Zeit, in der mir ein junger Assessor sagte: „Ich schwöre jeden Eid, wenn ich dadurch Regierungsrat werden kann“, im Rückblick auf eine Zeit, in der die Selbstsucht des Menschenherzens rücksichtslos über alle inneren Bindungen hinwegging, ist und bleibt es uns eine Befreiung, dass da eine Schar gestanden hat, die ein Gewissen hatte und die wusste, dass sie ihrem Gewissen verpflichtet war!

Das andere ist, dass sie alle zum Opfer bereit waren! Vielleicht noch nicht von Anfang an zum letzten Opfer. Es waren unter ihnen nicht nur viele, die darum gerungen haben: Sie wollten überleben, sie wollten ihre Kräfte doch noch einmal daran setzen, etwas Neues im deutschen Volke aufzubauen! – Sondern es waren da auch viele, die sich zunächst gar nicht klar darüber waren, dass sie mit dem, was sie redeten und taten, um ihren Kopf spielten. Aber als es dann vor ihren Augen stand, dass das Letzte von ihnen gefordert werde, da haben sie dieses Opfer gebracht und zwar, soweit meine Kenntnis reicht, eigentlich alle ohne Klage, ohne Bitterkeit, im stillen Gehorsam gegen Gott, der keinem Menschenleben, das vor ihm bestehen will, das Opfer erspart. Nicht wenige vor ihnen hätten fliehen können. Und sie sind nicht geflohen!

Diese Frage nach dem persönlichen Opfer gehört zu den schwersten Fragen an den deutschen Charakter, an den Charakter eines Volkes, das zwar bisweilen große Opfer bringt, aber in der Regel erst dann, wenn es dazu gezwungen wird, dem aber der Gedanke des freien Opfers sehr fern liegt. Darum ist der Rückblick auf diese Männer und Frauen des 20. Juli in unseren Herzen wie ein tiefes, befreites Atemholen: Es war damals noch ein Kreis da, der in großer innerer Freiheit zum letzten Opfer bereit war!

Und wenn ich noch ein drittes nennen darf: Wir haben eben aus dem Hebräerbrief gehört, dass es ein köstlich Ding ist, wenn das Herz fest wird. Es ist bei unseren Brüdern und Schwestern von damals das Herz gewiss in mancher Stunde unruhig und ängstlich geworden. Sie haben Zeit gebraucht, um sich zu einer Klarheit darüber durchzuringen, wo die Grenzen für das liegen, was einem Christenmenschen erlaubt ist. Aber als sie sich entschieden hatten und als dann das Schwere über sie hereinbrach, als sie vor den Richtern des Terrors standen: Ich weiß keinen, der nicht fest und aufrichtig gestanden hätte, das Todesurteil vor Augen, umgeben von der Macht des Terrors auf allen Gesichtern. Sie standen ruhig und fest und haben ihren Blutrichtern nicht den Gefallen getan, ein zitterndes Häuflein ängstlicher Menschen zu sein. Was hebt unser Herz höher empor, was macht uns freier von den Bedrängnissen unserer eigenen Zeit, als dessen gewiss zu werden, dass in unserem Volk ein Kreis da war und mit Gottes Hilfe immer da sein wird, der sich nicht verlocken lässt von links oder rechts, sondern der zu seinem Gewissen und zu seiner Opferbereitschaft steht und ein festes Herz gewonnen hat durch die Gnade Gottes?

Das ist es, was uns in dieser Stunde bewegt. Aber jedes solches Gedenken vor Gottes Angesicht wird notwendigerweise zu einem Appell an unser eigenes Herz. „Ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach“ steht im Hebräerbrief kurz vor unserem Text. Wir werden uns zu fragen haben, ob wir in diesen drei Dingen, die ich genannt habe, die Erben, die legitimen Erben unserer Brüder und Schwestern von damals geworden sind?

Mit dem Gewissen fange ich an. Ist es nicht wirklich wieder so, dass wir in einer Zeit leben, wo die Gewissen ersetzt werden durch intelligente Überlegungen, bei denen man schließlich immer einen Ausweg und eine Rechtfertigung findet, wenn man innerlich zum Kollaborateur einer fremden geistigen Macht werden will? Und doch: Worum geht es in einer menschlichen Gemeinschaft? Was hat es denn für einen Sinn, dass wir miteinander leben, dass wir uns mühen – jeder auf seinem Arbeitsgebiet – um die Gegenwart und um die Zukunft, – wenn wir uns dann in einer Welt sehen, in der das Gewissen gestorben ist, in der die materiellen Interessen ihren ungehemmten Lauf haben und jede Erhebung des Menschen zu einer höheren Ebene hinauf unmöglich geworden ist – was hat das alles dann noch für einen Sinn? Ich bin noch immer nicht darüber hinweg, dass vor ein paar Wochen der Führer einer Erziehungsgemeinschaft – wenn die Zeitungsberichte richtig sind – vor versammelten Volk gesagt hat: Die Zeit ist da, wo wir uns endlich losmachen müssen von der Vorstellung, dass es in unserem Beruf zuerst um das Dienen gehe; jetzt muss offen gesagt werden: Es geht um das Verdienen. Ich bin immer noch nicht über den Schock hinweg, den mir das versetzt hat. So spricht heute ein Erzieher in Deutschland! In unserem Deutschland! Wofür leben wir eigentlich, wenn es so bei uns aussieht?

Es gibt freilich auch irregeleitete Gewissen, und es ist nicht immer ganz leicht, sein Gewissen so auszurichten, dass nicht Meinungen zu Gewissensanliegen erklärt und Interessen mit Forderungen des Gewissens verwechselt werden. Darum wollen wir Gott bitten, dass er uns in dem mühseligen Alltag, in dem wir stehen, das wieder schenke, was die Brüder und Schwestern vom 20. Juli in Freiheit und Gefängnis und mitten in ihrer Todesbereitschaft gehabt haben: Gott helfe uns zu einem starken, in der Schule Jesu Christi fest gewordenen Gewissen.

Und das andere ist die Opferbereitschaft. Ich sagte schon, wie schwer gerade das Opfern dem deutschen Volke wird. Aber stehen wir nicht vor der Frage, ob wir nicht in der Zukunft noch zu viel größeren Opfern gerufen werden könnten, als die Opfer vergangener Tage gewesen sind? Ich meine jetzt nicht die materiellen Opfer. Gold ist Dreck – sagte der Rembrandt-Deutsche. Wir sind zweimal über die materiellen Verluste hinweggekommen, wir würden zum dritten Mal auch darüber hinwegkommen. Die eigentlichen Opfer liegen ganz woanders. Ist es Gottes Wille, dass ich meine alte Liebe zu meinem Vaterland zum Opfer bringen muss für eine neue Anschauung, für die Vaterlandsliebe dasselbe ist wie Lokalpatriotismus, dass es nicht mehr um Deutschland, sondern um Europa geht, um das Abendland? Muss ich alle meine alten Lebensideale opfern, um mich einzuordnen in den Tritt der neuen Bataillone, für die die materielle Macht alles ist, worauf es ankommt? Wird das von mir gefordert werden mit allen seinen Konsequenzen? Wird das von uns allen gefordert werden? Werden wir wirklich unser ganzes bisheriges Denken und Sein einer neuen Zeit als Opfer vor die Füße werfen müssen?

Niemand weiß, was Gott über uns beschlossen hat. Wir wissen nur das eine: Bereit sein ist alles, bereit sein zum Opfer! Sobald wir begreifen, dass es Gott ist, der von uns Opfer fordert, dann ist alles klar. Dann steht vor uns das Kreuz von Golgatha mit seinem unaussprechlichen Opfer. Zu diesem Kreuz sehen wir empor. Wir bitten Gott: Mach uns zum letzten Opfer bereit!

Und dann das feste Herz! In dieser Zeit, in der die Drohungen der Mächtigen das öffentliche Gespräch erfüllen, in dieser Zeit, in der die Bevölkerung von West-Berlin langsam absinkt, weil immer mehr Menschen den Mut verlieren, sich dem auszusetzen, was hier etwa noch einmal passieren könnte, in dieser Zeit, in der die Unruhe durch alle Kontinente geht, eine Unruhe, die kein einzelner Mensch meistern kann, geht der Zweifel und die Ängstlichkeit von einem zum anderen. Jeden Tag wird es neu lebendig, was wir so oft gesagt haben: dass das große Charakteristikum unserer Zeit die Angst ist. Wie man in dieser Zeit ein festes Herz haben will ohne den Glauben an einen Gott, der uns mit seiner schützenden Hand von einer Gefahr in die andere geleitet, der uns auch dann, wenn Menschen sagen, wir hätten endgültig verloren und seien ausgelöscht, niemals tiefer fallen lässt als in seine barmherzige Hand – ich weiß es nicht!

Ein festes Herz! Es mag manchmal scheinen, als seien feste Herzen das große Hindernis für eine Verständigung zwischen den Menschen und zwischen den Völkern. Was wir brauchten, damit Friede werde, seien verständnisvolle und verständnisbereite Menschen! Und gewiss segnen wir jeden, der Brücken baut und um des Friedens willen zum Kompromiss bereit ist. Aber wo es um das Letzte geht, um Freiheit und Recht, um Wahrhaftigkeit und Glauben, da hilft kein Kompromiss. Da hilft nur das eine, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade! Um einen festen Glauben wollen wir Gott bitten. Mit den festen Glauben wird der Friede einkehren im Gedanken an das, was war, an das, was ist und an das, was sein wird!

Wenn ich mit einem persönlichen Wort schließen darf: Ich kann durch einen Gedächtnistag wie diesen nicht hindurchgehen, ohne daran zu denken, wie im Ersten Weltkrieg mein jüngerer Bruder fiel. In seinem Notizbuch fanden wir Verse, die er unmittelbar vor seinem Tode geschrieben hatte. Einer dieser Verse stand dann bis zur nationalsozialistischen Zeit im Treppenhaus der Universität Halle angeschrieben:

Kein Rätsel ist so groß,

so bitter keine Not,

als daß sich alles Leben

muß heben aus dem Tod.

So selig ist kein Los,

so heilig kein Gebot,

als sich für vieler Leben

zu geben in den Tod.

Wenn ich an alle Brüder und Schwestern denke, die vor 15, 16, 17 Jahren ihren Tod gestorben sind für uns alle, dann kann ich als Christ nicht stehen bleiben bei dem Gefühl der Bitterkeit, dass das alles hat so kommen müssen, sondern ich kann nur im Aufblick zu meinem Herrn Jesus Christus sagen:

So selig ist kein Los,

so heilig kein Gebot,

als sich für vieler Leben

zu geben in den Tod.

Gelobt sei Jesus Christus!

Amen.