Euer Opfer hat doch einen Sinn gehabt

Willy Brandt
Euer Opfer hat doch einen Sinn gehabt.
Gedenkrede des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Willy Brandt am 19. Juli 1955 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin



Euer Opfer hat doch einen Sinn gehabt, die Welt hat das in zunehmendem Maße erkannt – wir werden diesen tieferen und eigentlichen Sinn Eures Opfers unserem eigenen Volk immer mehr bewusst werden lassen – und das wird Euer nachträglicher Sieg sein.


Lassen Sie mich dem an die toten Freunde gerichteten Wort ein zweites hinzufügen, das uns selbst gilt: Unser Werk wird nur dann Bestand haben, wenn es auf dem Grunde des Rechts und der Gerechtigkeit errichtet ist, wenn es im Zeichen der Freiheit steht, und wenn wir uns in Gesinnung und Tat zu den Vorkämpfern für Freiheit und Recht nicht nur bekennen, sondern uns ihrer würdig erweisen.


Lasst uns nicht allein und immer zuerst fragen, wie anders alles hätte kommen können, wenn dem deutschen Widerstand gegen die braune Gewaltherrschaft unmittelbarer, handgreiflicher Erfolg beschieden gewesen wäre. Wir wollen zunächst bekunden, was leider noch nicht wirklich Gemeingut des Volkes geworden ist, dass wir unendlich viel ärmer wären ohne das, was uns die Frauen und Männer des Widerstandes vorgelebt haben – ohne den Opfergang, den Tausende der Besten für uns gegangen sind – ohne den Versuch der befreienden Tat im Juli des Jahres 1944.


Viel Leid wäre erspart geblieben.


Gewiss dürfen wir auch die Frage stellen, was Deutschland und Europa, was der Menschheit hätte erspart bleiben können; wir müssen diese Frage vor allem auch deswegen stellen, weil eine beträchtliche Zahl unserer Mitbürger nur allzu leicht zu vergessen bereit ist. Der jungen Generation soll jedenfalls nahe gebracht werden, wie anders das Leben unseres Volkes hätte verlaufen können, wenn es 1932/33 gelungen wäre, die Machtübernahme der Volksverderber zu verhindern – wenn es 1934 ein entschiedenes Aufbegehren gegen die frechen Herausforderer jeder Rechtsstaatlichkeit gegeben hätte – wenn man 1936 oder 1938/39 denen Einhalt geboten hätte, die den Marsch ins Nichts in Gang setzten. Der größere Teil der Zerstörung unserer Heimat war auch im Juli 1944 noch abzuwenden. Vielen Müttern wäre der Sohn, vielen Kindern der Vater erhalten geblieben. Viele und gute Köpfe hätten beim Neubau Deutschlands mitwirken können. Nicht die Besetzung durch fremde Truppen, wohl aber die Spaltung unseres Vaterlandes war damals noch abzuwenden. Die Einheit von Volk und Staat hätte durch die befreiende Tat gerettet und neu begründet werden können.


Ohne den deutschen Widerstand hätten wir es nach 1945 schwerer gehabt.


Es kam anders, weil der durch das Gewissen aufgegebenen Tat der erstrebte unmittelbare Erfolg versagt blieb. Aber wir wissen, und unser ganzes Volk sollte es wissen, dass wir es nach 1945 noch unendlich viel schwerer gehabt hätten, wenn nicht zuvor durch den deutschen Widerstand Brücken zu den anderen Völkern geschlagen worden wären. Nicht in erster Linie durch das Wort, sondern durch das Opfer ist die Vorstellung von der Einheit zwischen Führung und Volk und ist die daran abgeleitete These von der Kollektivschuld widerlegt worden. Bestehen blieb die Tatsache, dass wir uns nicht, solange es Zeit war, aufgerafft, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden gewusst und uns zur Bewahrung der Freiheit zusammengefunden hatten. Bestehen blieb die Tatsache, dass ein allzu großer Teil unserer Mitbürger sich hatte blenden lassen und dass allzu viele in das schändliche Tun verstrickt wurden. Aber es gab das andere Deutschland. Daran konnte, daran kann jedenfalls heute niemand mehr vorübergehen.


Viele haben in diesen Jahren darüber nachgedacht, was wohl geschehen wäre, wenn die leise, aber klare Stimme des deutschen Widerstandes draußen in der Welt früher verstanden worden wäre. Manchen hat diese Frage so gequält, dass er dabei fast an den Rand der Verzweiflung geraten ist. Und dennoch sollten wir wissen, das Recht zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Versagen außerdeutscher Kräfte haben wir nur dann, wenn wir zuvor mit Offenheit und Ehrlichkeit über das deutsche Versagen – es war in vielem mehr als ein Versagen – gesprochen haben. So sehr wir uns gegen die primitive These von der Kollektivschuld gewandt haben, so wenig können wir uns aus der gemeinsamen Verantwortung lösen.


Hier und da fragt man, ob wir denn nicht endlich aufhören sollten, in die grauenvolle Vergangenheit zurückzublicken, ob wir denn immer wieder die Gegensätze im eigenen Volk aufreißen wollten, ob wir nicht endlich und endgültig vergessen sollten. Es ist wahr, für ein Volk, wie für den Einzelnen, dass sie nicht alles Bedrückende mit sich schleppen und jeden Tag erneut lebendig werden lassen können. Das Leben fordert sein Recht und wir müssen manches abstreifen und beiseite schieben, wenn wir nicht erdrückt werden wollen. Aber es ist ebenso wahr, dass wir entscheidende Erkenntnisse nicht vergessen dürfen. Vergeben ja, – vergessen nein, wenn es sich um die wirklich entscheidenden Fragen handelt.


Wir dürfen weder die Verbrechen noch die Opfer vergessen.


Ich glaube nicht an die Therapie des Gras-wachsen-Lassens. Ich glaube nicht, dass unser Leben auf einer Lüge aufgebaut sein kann. Es kann aber auch nicht aufgebaut werden auf einem bequemen Verdrängen des Unangenehmen. Es kann sich nicht in betriebsamer Äußerlichkeit und in der Jagd nach materiellen Werten allein erschöpfen. Der Prozess geistigen Wachstums, das mit uns selbst Ins-Reine-Kommen ist beim viel zitierten deutschen Nachkriegswunder zu kurz gekommen. Worauf es heute mehr denn je und mehr als alles andere ankommt, ist der Mut zur Wahrheit. Wir stehen im Heute, aber wir werden morgen nur bestehen können, wenn wir die Lehren von gestern und vorgestern in uns aufgenommen und verarbeitet haben. Und darum können und dürfen wir weder die Verbrechen noch die Opfer vergessen, weder das Schändliche, das dem deutschen Namen zugefügt wurde, noch das, was der Schande abzuwaschen gedient hat.


Mir will scheinen, dass eine würdige Deutung des deutschen Widerstandes und des 20. Juli, in den er ausmündete, bisher häufig durch eine Front der schlechten Gewissen und durch den mangelnden Mut zur Konsequenz erschwert worden ist. Aber es hieße die Zeichen der Zeit missverstehen, wenn man nicht die Bereitschaft zur Aufnahme spürte, die sogar bei umstrittenen filmischen Deutungen dieses Abschnittes jüngster deutscher Vergangenheit zu spüren ist. Es kommt darauf an, dass wir nicht in unserem Volk völlig falsche Fronten aufrichten oder bestehen lassen. Es kommt darauf an, dass wir die Würdigung des deutschen Widerstandes loslösen von Rechthaberei und falscher Anklage.


Es kann uns gar nicht darum gehen, diejenigen unserer Mitbürger anzuklagen, die die Dinge damals anders sahen und glaubten, ihre Pflicht zu tun. Keiner von uns darf sich ausnehmen, wenn von der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens die Rede ist. Jeder von uns sollte um die Rolle dessen, was man den Zufall im geschichtlichen Prozess nennt, wissen, jeder sollte auch wissen, dass wir nicht als gut oder böse geboren werden, sondern dass die Grenzen sehr viel unklarer sind. Nicht dazu sind wir da, selbstgerecht den Stab über andere zu brechen. Nicht zum Hassen sind wir da. Auf einer höheren Ebene der Einsicht müssen wir uns wieder zusammenfinden, alle, die wir aus den hinter uns liegenden Jahren gelernt haben.


Die Frauen und Männer des 20. Juli bedürfen keiner nachträglichen Rechtfertigung.


Aber eben darauf kommt es an, dass wir gelernt haben, und dass sich die Integration unseres Volkes auf dem Boden der Einsicht in die Lehren von gestern und in die Erfordernisse von morgen vollzieht.


Wir wollen uns vor allem auch davor hüten, dass falsche Fronten im Lager derer errichtet werden, die im umfassenden Sinne des Wortes zum Widerstand gehörten. Jeder achte den Antrieb, die Überzeugung, das Opfer des anderen. Es gab Widerstand in Deutschland lange vor der Bewegung, zu deren Höhepunkt der 20. Juli wurde. Hunderttausende hatten bereits die Folterkeller und Konzentrationslager kennen gelernt, Zehntausende waren auf der Strecke geblieben. Niemand hat das Recht, die Überzeugungstreue dieser zumeist einfachen Menschen aus allen Schichten unseres Volkes zu bezweifeln. Niemand hat das Recht, ihren Einsatz für das andere Deutschland zu verkleinern. Niemand sollte sich zum Richter aufwerfen wollen über denjenigen, den Gefahr oder Gewissen außer Landes trieb. Niemand sollte sich aber auch anmaßen, den Maßstab mäkelnder Besserwisserei anzulegen, wenn es sich um ein nationales und geschichtliches Ereignis wie das des 20. Juli handelt. Wenn das Wort von der dahingerafften Blüte der Nation jemals einen Sinn gehabt hat, dann an jenem Tage, zu dessen Gedenken wir uns heute wiederum versammelt haben.


Die Frauen und Männer des Widerstandes, die Männer und Frauen des 20. Juli bedürfen nicht unserer Entschuldigung. Sie haben eine nachträgliche Rechtfertigung nicht nötig. Ihr Werk ruht in sich selbst, ihre Entscheidung spricht für sich selbst. Wir brauchen ihnen nicht hinterher zu bescheinigen, dass sie den Sieg nicht hätten verhindern wollen. Als ob wir – und das war doch gerade das Tragische – den Sieg des Bösen nur darum hätten wünschen können, weil es das eigene Land besetzt hielt. Nein, Dank und Bewunderung verdienen die wirklichen Vertreter des Widerstandes gerade deswegen, weil sie über hergekommene Maßstäbe und über die Opportunitäten des Tages zum Letzten durchgestoßen waren, zu den eigentlichen Worten, und nur für letzte Worte lohnt das letzte Opfer. Wo aus dem Teilwiderstand der Kampf gegen das verbrecherische Prinzip selbst wurde, da musste auch die Frage nach dem Recht zum Handeln verstummen. Da zwang sich die Pflicht zum Handeln auf.


Der Geist des Widerstandes sollte in unserer Arbeit Gestalt annehmen.


Das, was in den 20. Juli mündete, war eine echte und breite nationale Einheitsfront. Da standen nebeneinander der Sozialist und der Konservative, Männer der Linken, der Mitte und der Rechten, Angehörige aller Schichten und Bekenntnisse, Offiziere und Staatsdiener, Männer des geistigen Deutschland und nicht zuletzt beste Repräsentanten der jungen Generation. Das war ein nationales Aufbegehren gegen die Schmach, die die Verderber Deutschland zugefügt hatten und noch immer zufügten. Das war aber auch zugleich ein Bündnis, das großen übernationalen Lösungen zustrebte: im Allgemeinen den ewigen Menschheitssternen des Rechts der Würde, der Freiheit, im Konkreten: der Eingliederung unseres Volkes in die europäische Gemeinschaft und in eine weltumfassende Ordnung friedlichen Zusammenwirkens.


Es wäre uns nicht schlecht bekommen, hätten wir in die deutsche Gegenwart mehr, als es geschehen ist, herüberzuretten vermocht von der Radikalität des Wollens, von dem ungestümen Drang zur Erneuerung, der die berufenen Exponenten des Widerstandes beseelte. Es wäre uns nicht schlecht bekommen, wenn sich die Fähigkeit zum Erkennen des Wesentlichen, wenn sich das Begreifen des Entscheidenden in stärkerem Maße durchgesetzt hätten, wenn diejenigen stärker zueinander gefunden hätten, von deren Zusammenwirken Deutschlands Zukunft abhängt. Es würde uns auch heute noch nicht schlecht bekommen, wenn wir uns bemühten, mehr von dem Geist des Widerstandes und des 20. Juli in uns aufzunehmen und durch unsere Arbeit Gestalt annehmen zu lassen. Denn zu diesem Geist gehört das Streben nach einer lebendigen rechtsstaatlichen freiheitlichen Demokratie, gehört die Verpflichtung zur sozialen Verantwortung, gehört der Respekt vor der Tradition, vor allem aber auch die Verpflichtung vor dem, was uns heute aufgegeben ist, und was wir unseren Nachfahren zu überantworten haben.


Zu den Ungereimtheiten unserer Entwicklung der letzten Jahre gehört, dass wir bei weitem nicht alles getan haben, was uns aufgegeben war, um das Andenken der Vorkämpfer und Märtyrer deutscher Freiheit zu ehren, zu schützen, rein zu halten. Eine kämpferische Gemeinschaft, also mehr als eine staatliche Traditionskompanie, hat nicht nur das Recht, sie hat die Pflicht, solchen Elementen den Mund zu stopfen, die gegenüber den Kämpfern und den Opfern des Widerstandes als Verleumder und Ehrabschneider aufzutreten belieben. Eine Gemeinschaft mit dem rechten Sinn für die Rangordnung der Probleme – aber gerade daran hat es bei uns sehr gehapert – hat die Pflicht zu umfassender Hilfe für die Überlebenden des Terrors, für die Hinterbliebenen derer, die das Leben einsetzten.


Gute Ansätze der geistigen Kräfte in Deutschland wurden jetzt spürbar.


Auf diesem Gebiet bleibt noch immer vieles zu tun, was längst hätte getan werden müssen. Und wir in Berlin haben das nicht nur gesagt, wir haben im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten auch gezeigt, dass wir eine andere Rangordnung und ein anderes Tempo für richtig gehalten haben würden.
Die eigentliche, die wirkliche Ehrung liegt allein darin, dass wir dem Beispiel derer nacheifern, die uns vorangegangen sind. Allein dadurch sprechen wir auch ihren Nächsten einen Dank aus, der über das Konventionelle hinausreicht. Es geht nicht darum, an Worten oder Buchstaben zu kleben, es geht darum, Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten zu überwinden und die wirklichen geistigen Kräfte des anderen, des eigentlichen Deutschland freizulegen und zu entwickeln. In Göttingen ist davon jüngst etwas sichtbar geworden. In Bonn konnte man davon, als es um die Struktur künftiger Streitkräfte ging, auch ein wenig spüren. Das waren Ansätze, gute Ansätze, wirkliche Schritte nach vorn.


Das Ringen um unsere Zukunft als ein Volk geht weiter. Wir haben vor zwei Jahren die beispiellose Erhebung unserer Landsleute in Ost-Berlin und in der Berlin umgebenden Zone erlebt. Wir wissen, das opferreiche Ringen um Selbstbestimmung, Rechtssicherheit, altmodische Anständigkeit und moderne Gestaltung unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens geht weiter. Wir haben gesehen, auch in der Auseinandersetzung mit dem neuen Totalitarismus hat sich nur als glaubwürdig erwiesen und wird nur Bestand haben, was grundsätzlich und was fest in den Herzen der Menschen verankert ist. Wir werden in der vor uns liegenden Zeit, wenn es darum geht, wieder zusammenzufügen, was willkürlich auseinandergerissen wurde, wenn es sich darum handelt, neue Formen des gemeinschaftlichen, staatlichen und zwischenstaatlichen Lebens zu entwickeln, noch unendlich viel – gedanklich und moralisch – zu schöpfen haben aus jenem Abschnitt der Geschichte deutscher Freiheitskämpfe, der in den Jahren von 1933 bis 1945 durchlebt und durchlitten wurde und dessen Geschichte erst ansatz- und bruchstückweise niedergeschrieben werden konnte.


Eine Flamme weist uns den Weg.


Wenn wir dann eines hoffentlich nicht fernen Tages das Ziel der deutschen Einheit in Freiheit erreicht haben werden, dann werden wir trotz aller Drangsal und Bitternis dessen, was hinter uns liegt, die Hände falten und Dank sagen, dass wir teilhaben durften an diesem schweren, aber großen Werk. Dann wird ein wiedervereinigtes und innerlich befreites Volk in Ehrfurcht sein Haupt neigen und derer gedenken, die uns den Weg durch die Finsternis gewiesen haben.


Die von ihnen entzündete Flamme ist niemals erloschen. Sie hat an Leuchtkraft zugenommen. Sie zeigt uns den Weg, den wir gehen müssen.

Weitere Reden

19.07.1955
 Emil Henk
Emil Henk