Für eine lebendige Erinnerungskultur

Michael Müller


Begrüßung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin anlässlich des Empfangs für die Angehörigen am 19. Juli 2019 im Roten Rathaus


Heute vor genau 75 Jahren, am 20. Juli 1944 um 12:42 Uhr, explodierte im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ die Bombe, die Hitler töten und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu Fall bringen sollte.


Das Attentat schlug fehl, Hitler überlebte. Der Umsturz scheiterte binnen eines einzigen Tages. Wenige Minuten nach Mitternacht wurden hier im Hof des Bendlerblocks führende Persönlichkeiten der „Operation Walküre“ im Scheinwerferlicht eines Lastwagens erschossen: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften [SPRICH: Haften], Friedrich Olbricht und Albrecht Mertz von Quirnheim. Generaloberst Ludwig Beck, der vergeblich versucht hatte, sich selbst zu erschießen, starb durch die Kugel eines hitlertreuen Feldwebels.


Die Rache des Regimes war fürchterlich: Rund 150 Menschen fielen ihr zum Opfer. Viele von ihnen waren zuvor misshandelt und in Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof massiv gedemütigt worden. Jene, die nicht gleich ermordet wurden, lebten in Angst um ihre Kinder und Angehörigen. Sie wurden Opfer von Sippenhaft und mussten bis zuletzt Hitlers Rache fürchten. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die starken Frauen des 20. Juli würdigen. Sie teilten die Motive ihrer Männer und mussten unter schwierigsten Bedingungen ihre Familien beschützen.


Der Aufstand vom 20. Juli 1944 hinterlässt kein leichtes Erbe. Die öffentlichen Gedenkfeiern, die Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter 1952 initiierte, fanden in einem zwiespältigen gesellschaftlichen Klima statt. Die tapferen Männer und Frauen des 20. Juli wurden in der Nachkriegszeit oft geschmäht, unterschätzt oder übersehen.


Das würdigende Gedenken der einzigartigen historischen Leistung der Verschwörerinnen und Verschwörer gegen Hitler musste hart erkämpft werden – und ist bis heute Gegenstand von Kontroversen, wie die aktuelle Debatte über die Motive Stauffenbergs zeigt.


Meine Damen und Herren,


wir erleben, wie sich Rechtspopulisten und Rechtsextreme unter Berufung auf den 20. Juli als Widerstandskämpfer gegen einen angeblich unfreien Staat stilisieren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Denn heute leben wir in einem Land, das die Freiheitsrechte jeder und jedes Einzelnen umfassend schützt. Wir leben in einem Land, in dem jede und jeder – unter anderem – für die eigene Meinung eintreten und mitbestimmen kann. In dem niemand aufgrund seines Glaubens, seiner Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung verfolgt oder diskriminiert werden darf.


Auch das Gedenken an den 20. Juli 1944 zeigt uns auf eindringliche Weise, dass dies alles andere als selbstverständlich ist. Gemeinsam müssen wir unsere Freiheit und unsere Demokratie immer wieder verteidigen. Und ebenso müssen wir das Gedenken an den 20. Juli vor der Vereinnahmung durch Rechtspopulisten und Rechtsextreme schützen.


Wir können heute kaum begreifen, was es bedeutet, in einem verbrecherischen Staat allein auf sein Gewissen zurückgeworfen zu sein. Und aus dessen intensiver Befragung die Kraft und die Einsicht für Widerstand und Umsturz – auf jede Gefahr hin – zu ziehen. Für die Offiziere des 20. Juli bedeutete das einen oft quälenden Prozess des Herauslösens aus tiefsitzenden Loyalitäten, die mit militärischem Pflichtgefühl verbunden sind. Der Selbstbefreiung ging die Einsicht in das zutiefst verbrecherische Wesen des NS-Staats voraus. Aus dieser Perspektive wurde die Notwendigkeit des Umsturzes immer drängender.


„Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhindern.“ So hat es Stauffenberg selbst formuliert. Es kann also keine Rede davon sein, dass Stauffenbergs mutige Tat ein politisches und moralisches Motiv gefehlt habe, wie jetzt eine Biographie behauptet.


So sehr sich die politischen Haltungen der Männer und Frauen des 20. Juli von unseren unterscheiden, und so wenig Stauffenbergs Vorstellungen einer Nachkriegsordnung mit unserer liberal-westlichen Demokratie zu tun hatten – in einem Punkt sind wir ihm und den Verschwörern gegen Hitler sehr nah: Nämlich in ihrer Menschlichkeit, ihrem zutiefst humanen Motiv, den verbrecherischen Krieg und den Völkermord an den europäischen Juden zu beenden.


Wäre der Umsturzversuch vom 20. Juli erfolgreich gewesen, Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs zählten zu denen mit der größten Zahl an Opfern.


Meine Damen und Herren,


nicht die deutsche Bevölkerung als Ganzes, sondern Einzelne  und Gruppen widersetzten sich der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Es waren neben den tapferen Verschwörern des 20. Juli Kommunisten und Sozialdemokraten, Widerstandsgruppen wie die Europäische Union, die Rote Kapelle, der Kreisauer Kreis, engagierte Christen und Menschen, die andere Menschen vor Verfolgung schützten – also jene „stillen Helden“, die, wie es Berlins Ehrenbürgerin Inge Deutschkron formulierte, „Großes taten, ohne sich dessen bewusst zu sein.“


Und nicht zu vergessen die Widerstandskämpfer aus der Tschechoslowakei, aus Polen, aus Frankreich oder tatarische Widerstandskämpfer, die sich der Kollaboration mit der Wehrmacht widersetzten und dafür oft mit ihrem Leben bezahlten.


Auch an diese Menschen erinnern wir, wenn wir des Widerstands gedenken.


Dass wir heute so viel wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus, über seine Opfer wie über die Menschen, die Widerstand leisteten, ist das Verdienst von Historikerinnen und Historikern, von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Forschungs- und Gedenkeinrichtungen wie der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Und oft sind es engagierte Bürgerinnen und Bürger selbst, die in ihrem Lebensumfeld Spuren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entdecken und mithelfen, authentische Erinnerungsorte zu schaffen. Oder fragen, wer in der Nazizeit in ihren Wohnungen gelebt hat und am Ende für jüdische Opfer Stolpersteine verlegen lassen.


Über Jahrzehnte ist so in Berlin und anderswo eine lebendige Erinnerungskultur entstanden, die entscheidend dazu beiträgt, jene Freiheit zu bewahren, aus der sie entstanden ist.


Wer also unsere Erinnerungskultur kleinredet und verächtlich macht, der greift ganz direkt unsere Freiheit an. Deshalb ist es so wichtig, dass wir der tapferen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer gegen Hitler gedenken. Ihr Leben, ihr mutiges Handeln und Sterben zeigt uns eindringlich, mit welch hohem Einsatz der Kampf gegen die Überwindung der nationalsozialistischen Barbarei geführt wurde. Ihr innerer Kampf, ihre quälenden Gewissensprüfungen, an deren Ende die Entscheidung zu Attentat und Umsturz stand, sind Grundlagen unserer Freiheit.


Wir verneigen uns vor den aufrechten und mutigen Frauen und Männern des Widerstandes.