Ihnen ging es um Recht und Anstand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans-Jürgen Papier

Ihnen ging es um Recht und Anstand

Gedenkrede des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c.

Hans-Jürgen Papier am 20. Juli 2005 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Als Peter Graf Yorck von Wartenburg sich am 7. und 8. August des Jahrs 1944 vor dem Volksgerichtshof unter seinem brüllenden Präsidenten Roland Freisler für die Vorgänge am 20. Juli 1944 verantworten muss, bekennt er sich zu seiner Verantwortung: Wesentlicher Grund seines Handelns sei „der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtung Gott gegenüber“. Peter Graf Yorck von Wartenburg, eine der zentralen Figuren des „Kreisauer Kreises“, wird noch am 8. August 1944 unmittelbar nach der Urteilsverkündung hier in Plötzensee hingerichtet. Er gibt sein Leben für seine Überzeugung.

„Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird.“ Mit diesen Worten nimmt General Henning von Tresckow am Morgen des 21. Juli 1944 Abschied von seinem Freund Fabian von Schlabrendorff. Er wählt nach dem am Vortag gescheiterten Anschlag auf Hitler den Freitod, weil er fürchtete, ihm könnten unter Folter Aussagen abgepresst werden, die andere Widerständler belasten würden. Er gibt sein Leben für seine Überzeugung.

„Ich habe nur einen Kopf, und ich kann ihn für keine bessere Sache einsetzen als diese. Liebe wächst nur durch Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Und ohne Liebe gibt es eben kein Vaterland.“ Es sind dies die Worte des am 20. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Sozialdemokraten Julius Leber, der erst zwei weitere Monate später, in denen er immer wieder verhört und misshandelt wurde, ebenfalls hier in Plötzensee hingerichtet wird. Am 5. Januar 1945 gibt auch er sein Leben für seine Überzeugung.

Mit Peter Graf Yorck von Wartenburg, Henning von Tresckow und Julius Leber zitiere ich drei ganz unterschiedliche Männer des Widerstands. Männer eines auch ganz unterschiedlichen Widerstands gegen die Diktatur der Nationalsozialisten, der kurz nach der Machtergreifung der NSDAP vor allem von kommunistischen und sozial-demokratischen sowie anderen linken Gruppen geprägt war, die aber dann innerhalb weniger Jahre durch die Gestapo und die SS stark geschwächt wurden. In den folgenden Jahren waren verstärkt religiös und ethisch motivierte Gruppen und Einzelpersonen aktiv. Zu einer sowohl größeren als auch politisch motivierten Widerstandsaktion war indes erst die Organisation um den 20. Juli 1944 fähig, die sich zu einem Großteil aus Funktionseliten des Dritten Reiches rekrutierte und damit einen gewissen Zugang zum Staatsapparat hatte. Sie, die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, plante die einzige Aktion, die eine realistische Chance gehabt hätte, das verbrecherische System grundlegend zu ändern. Was aber führte diese Männer, die Gewerkschafter und Offiziere, Diplomaten und Geistliche waren, zur gemeinsamen Tat zusammen?

Carl Zuckmayer, der sein Drama „Des Teufels General“ im Juli 1945 den Widerstandskämpfern Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner und Helmuth James Graf von Moltke gewidmet hat – sie sind alle ebenfalls hier an diesem Ort in den Tod gegangen -, lässt in einem bewegenden Dialog den Widerständler Oderbruch auf die Frage des Generals Harras nach den Motiven des Widerstands antworten: „Manche kamen aus Scham. Andre aus Wut, aus Hass. Einige, weil sie ihre Heimat, viele weil sie ihre Arbeit liebten und ihr Werk oder die Idee der Freiheit und die Freiheit ihrer Brüder. Aber alle – auch die unversöhnlich hassen – sind gekommen, weil sie etwas mehr lieben als sich selbst.“

Die gemeinsame Basis derer, die den Staatsstreich vorbereiteten und in dem Zuckmayerschen Sinne „etwas mehr liebten als sich selbst“, war ihre ethisch-moralische Überzeugung. Ihr fühlten sich diese lauteren Männer verbunden und verpflichtet. In ihren Denkschriften und Programmen finden wir das Bekenntnis zur Würde des Menschen, zur Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Bekenntnis zum Glauben an die Herrschaft des Rechts, den Glauben an die Freiheit und an die Kraft, sie zum Wohle des Menschen zu nutzen, sowie an die friedliche Zusammenarbeit der Völker in Europa. Die Idee und Tradition des deutschen Rechtsdenkens und die Verpflichtung gegenüber dem Rechtsstaat waren treibende Kräfte, die zum Handeln führten. Hinzu kam ein beeindruckender Glaube an Gott. So schreibt etwa Dietrich Bonhoeffer während schwerster Bombenangriffe inhaftiert im Gestapogefängnis in Berlin zum „Neujahr 1945“ – in ergreifender Weise: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“ Der Tod – angeordnet von Himmler persönlich, wenige Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg - bleibt auch diesem aufrechten Christen und Unterstützer des 20. Juli 1944 nicht erspart.

Die an dem persönlichen Einsatz und letztlich an dem persönlichen Opfer sichtbar gewordene Tatsache, dass es in Deutschland auch Widerstand gegen Hitler, dass es auch Gegner des Regimes gab, war nach dem Niedergang Deutschlands eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Rückkehr aller Deutschen in den Kreis der zivilisierten Nationen zu ebnen. Der 20. Juli 1944 hat es uns Deutschen ermöglicht, der Welt für einen Augenblick das Antlitz des anderen Deutschlands zu zeigen. Winston Churchill hat schon 1946 im britischen Unterhaus erklärt, dass dieser Widerstand zum Edelsten und Größten gehört, was in der Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde: „Ihre Taten und Opfer – so Churchill – sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaues.“

Und dennoch werden beim Blick auf den 20. Juli 1944 in besonderer Weise der Niedergang der Rechtsstaatlichkeit und das komplette Versagen des geltenden Rechts anschaulich. Denn Rückhalt fand der Widerstand im Dritten Reich nur in der eigenen, höchstpersönlichen religiösen Bindung und im sittlichen Ideal der Humanität; seine Entschlossenheit speiste sich sicherlich aus der verpflichtenden Kraft unserer Kultur- und Rechtstradition.

Aber der Staat, seine Institutionen und sein Recht, hatte sie alle alleine gelassen. Kein Verfassungsorgan, kein Parlament und kein Gericht waren in der Lage, diesen mutigen Männern und ihren inneren Überzeugungen, ihrem Gewissen beizustehen. Der Rechtsstaat hatte bereits versagt, er ließ seine Verteidiger auf verlorenem Posten zurück. Sie waren gezwungen, in kleinen Zirkeln zu sprechen, immer Gefahr laufend, verraten zu werden. Es ging nicht allein um ihr Schicksal, auch das Wohl und Wehe ihrer zumeist jungen Familien stand und fiel mit ihrem Handeln. Den Männern und Frauen des 20. Juli wurde eine menschliche und politische Grenzsituation mit der Prüfung zugemutet, ob der Tyrannenmord und der Aufstand gegen die eigene Führung durch das eigene Gewissen gerechtfertigt waren. Jenes religiöse Gewissen, das ihnen mit dem fünften Gebot aufgab: „Du sollst nicht töten.“ Jenes soldatische Gewissen, das ihnen, die sie teilweise noch in der kaiserlichen Armee gedient hatten, verbot, den Fahneneid zu brechen, den auf den „Führer und Reichskanzler“ selbst zu schwören sie seit dem 2. August 1934 gezwungen waren. Es ist bezeichnend, dass bis lange in die Nachkriegszeit hinein die Frage nach der Vereinbarkeit der Tat mit den soldatischen Pflichten sehr im Vordergrund der historischen Würdigung des 20. Juli 1944 stand. Friedrich Schiller, ein Vertreter des anderen, des im Dritten Reich so unsichtbaren humanistischen Deutschlands, springt den Widerständlern durch den tapferen Werner Stauffacher in „Wilhelm Tell“ [Zweiter Aufzug, Zweite Szene] gewissermaßen zur Seite:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,

Und holt herunter seine ew´gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“

Heute müssen wir betrübt sein, dass die Männer des 20. Juli 1944 ihre „ew´gen Rechte“ seinerzeit nicht in ihrem Deutschland und seiner Rechtsordnung finden konnten. Leicht lässt sich sagen, dass es das Recht eines jeden Menschen ist, sich von denen zu befreien, die den Menschen zum seelenlosen Objekt ihrer verbrecherischen Willkür degradieren und ihn zwingen, zum Komplizen ihrer Unmenschlichkeit zu werden. Wer aber den ethischen Hintergrund der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 kennt, hat eine Ahnung davon, in welcher Grenzsituation sich der Christenmensch, der Soldat, der Patriot, der Familienvater befunden haben wird, als er allein mit sich und seinem Gewissen die Zulässigkeit seines Handelns erfragte.

Heute erscheint es uns beinahe unerträglich, den Widerständlern den Rückgriff auf höhere Werte als das Recht zumuten zu müssen. Aber unsere heutige Sichtweise ist geprägt durch die Wirkkraft des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. So steht es gleich zu Beginn unserer Verfassung geschrieben. Die Väter des Grundgesetzes haben sehr wohl bedacht, in welche Situationen der Unrechtsstaat des Dritten Reiches Menschen gebracht hat und welche Sicherungen Recht und Staat benötigen. Dem Grundgesetz liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Staat um des Menschen willen, und nicht der Mensch um des Staates willen da ist. Niemals darf der Mensch bloß als Objekt, stets muss er auch „als Zweck an sich selbst“ [Kant] behandelt werden. In jedem Menschen wird die Menschheit als solche geehrt. Der Staat ist endlich, nicht total – er besitzt Grenzen und vorgegebene Verpflichtungen. Die Ideologie des „Du bist nichts, der Staat ist alles“ ist dem Grundgesetz gänzlich fremd. Kein Verfassungsorgan, keine Regierung kann sich der Geltung der Menschenwürde entziehen. Sie gilt unverbrüchlich und unabänderlich – sie ist resistent gegen Eingriffe aller staatlichen Gewalten.

Wenn ich die Geltung der Menschenwürde als oberstes Verfassungsprinzip so hervorhebe, dann auch deshalb, weil ich meine, dass die Einsamkeit der Widerständler um Claus Schenk Graf von Stauffenberg auch in einem Versagen der Weimarer Reichsverfassung begründet ist, die ja niemals formell außer Kraft gesetzt wurde und dennoch den Übergang zum Führerstaat nicht verhindern konnte. Unter der Weimarer Reichsverfassung wurden Verfassungsänderungen für zulässig angesehen, sofern nur die hierfür erforderlichen qualifizierten Mehrheiten in den Gesetzgebungsorganen vorlagen. Materielle Grenzen waren dem Gesetzgeber nicht gezogen. Die Verfassung stand nach damaligem Verfassungsverständnis bei Einhaltung der Verfahren „nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben“; Verfassungsänderungen waren „ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite“ zulässig, also auch etwa hinsichtlich der Staats- und Regierungsform des Reiches oder der Geltung von Grundrechten. Während wir unter Geltung des Grundgesetzes plakativ die Formel: „Gesetze nur nach Maßgabe der Grundrechte“ verwenden, galt seinerzeit: „Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze“.

Diesem verfassungsrechtlichen Befund entsprach ein relativistisches, die Idee demokratischer Selbstbestimmung verabsolutierendes Demokratieverständnis. Die Zahl der Anhänger, nicht der sachliche Gehalt einer politischen Auffassung entschied über die Führung im Staat, „weil keine politische Anschauung beweisbar und keine widerlegbar“ [Radbruch] war. Verfassungsrechtlich galt es als gesichert, dass der Staat sich auch zur Rettung der Demokratie nicht gegen den Mehrheitswillen behaupten dürfe, ohne aufzuhören Demokratie zu sein [Kelsen]. Neben dem parlamentarischen System der Weimarer Republik, das häufig wechselnde Regierungen zuließ, auch wenn diese keine Mehrheit im Reichstag fanden, war es vor allem diese inhaltliche Beliebigkeit, die Wert- und Prinzipienlosigkeit, die verhinderte, dass sich ein Grundrechtsverständnis ausprägen konnte. Die Weimarer Demokratie scheiterte zwar nicht allein und auch nicht vorrangig aufgrund der geschilderten Mängel ihrer Verfassung; sie scheiterte vor allem an der fehlenden Verwurzelung der Demokratie in der Bevölkerung und in den maßgeblichen gesellschaftlichen Kreisen und Einrichtungen – Sie kennen vielleicht das Wort von der „Demokratie ohne Demokraten“. Dass es auch einigen der Widerständler nicht in erster Linie um die Demokratie ging, ist bekannt. Ihnen ging es jedoch um Recht und Anstand und damit um Tugenden, die mit einer demokratischen Gesellschaftsform gut vereinbar sind, die sie ermöglichen und sie prägen.

Hätten die Menschen eine Ahnung von einer funktionierenden grundwertefundierten Demokratie gehabt, hätten sie Freiheit und Bindung in einem kompensatorischen Verhältnis kennen gelernt, dann wäre es vielleicht eher möglich gewesen, denen mit den Waffen des Rechts das Handwerk zu legen, die darauf aus waren, die junge, zerbrechliche und von äußeren Faktoren nicht begünstigte Demokratie zu unterminieren. So aber zerbrach die von Beginn an fragile Demokratie, weil niemand ihr wahrhaft Leben einzuhauchen imstande gewesen war. So rückhaltlos wie die Demokratie von Weimar war letztlich auch der Widerstand gegen Hitler, sogar noch im Jahre 1944, ein „Widerstand ohne Volk“ [Joachim Fest]. Ja selbst in den ersten Nachkriegsjahren war die Würdigung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 noch keineswegs so selbstverständlich, wie dies heute der Fall ist. Noch während des Remer-Prozesses 1952 in Braunschweig wurden Angehörige der Widerständler von dem ehemaligen Wehrmachtsmajor Remer mit dem Vorwurf des Landesverrats konfrontiert, bis Oberstaatsanwalt Fritz Bauer klarstellte: „Am 20. Juli 1944 war das deutsche Volk total verraten von seiner Regierung, und ein total verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats sein.“ Erst allmählich haben sich die Deutschen also diesen Tag des Gedenkens an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft angeeignet.

Der junge Jesuit Alfred Delp – auch er ging am 2. Februar 1945 hier in Plötzensee in den Tod – hinterließ uns das folgende Wort: “Es ist die Zeit der Aussaat, nicht der Ernte. Gott sät; einmal wird er auch wieder ernten. Um das eine will ich mich mühen: wenigstens als fruchtbares Saatkorn in die Erde zu fallen.“ Wenn heute die Würde des Menschen ein festes Fundament in Staat und Gesellschaft hat, dann auch deshalb, weil die Saat eines Alfred Delp aufgegangen ist: Er und seine Verbündeten haben „das Bild des Menschen wieder aufgerichtet“ [Moltke].





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