Ihr Opfer blieb nicht vergeblich.

Wolfgang Schäuble

Ihr Opfer blieb nicht vergeblich.

Gedenkrede des Vorsitzenden der CDU/CSU Fraktion des Deutschen Bundestages Dr. Wolfgang Schäuble am 20. Juli 1992 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, Berlin

Wir gedenken der Männer des 20. Juli 1944, und wir gedenken der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes gegen Hitler und gegen sein verbrecherisches Nazi-Regime. Sie gaben ihr Leben, um Deutschland zu befreien – wenn schon nicht von Hitler, dann wenigstens von der Schande, die diese Barbaren über unser Vaterland gebracht haben. Und wir gedenken dieser Frauen und Männer in einem endlich wieder freien und geeinten Deutschland in seiner Hauptstadt Berlin. Ohne den 20. Juli 1944 und die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes wäre dies nicht möglich. Sie opferten ihr Leben ohne Illusion über die kurzfristigen Erfolgsaussichten. Auch wenn das Attentat scheiterte und der Aufstand bis zum Abend in Berlin niedergeschlagen war, so blieb ihr Opfer doch nicht vergeblich. Sie setzten Maßstäbe und sie haben es uns Deutschen ermöglicht, unsere Würde wiederzuerlangen. Carlo Schmid hat es einmal so ausgedrückt: „Hätte es nicht das Heldentum der Frauen und Männer des Widerstandes gegeben, was gäbe unserem Volk das Recht, den Menschen anderer Völker ins Auge zu blicken?“

Dass den Frauen und Männern des 20. Juli ihr Handeln als solches wichtig war, selbst wenn der Erfolg mehr als ungewiss erscheinen musste, das hat Henning von Tresckow zum Ausdruck gebracht, als er auf die Frage Stauffenbergs, ob angesichts der hoffnungslosen Lage das Attentat auf Hitler politisch und militärisch überhaupt noch einen Sinn mache, mit den berühmten, bis heute und auf alle Zukunft in der deutschen Geschichte über dem Geschehen des 20. Juli stehenden Worten antwortete: „Das Attentat muß erfolgen, ... Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht nur auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ Der große Wurf musste gewagt werden, um die Lebensehre eines verstörten und verblendeten Volkes zurückzugewinnen.

Der 20. Juli 1944 mit seinem tragischen Ausgang stellt den Höhepunkt und letztlich auch das Ende der Opposition gegen Hitler dar. Mit dem Scheitern des Attentats wurde deutlich, dass die deutsche Passion bis zur bitteren Neige durchlitten werden musste. Eine „Dolchstoß-Legende“ wie nach dem 1. Weltkrieg konnte sich danach nicht erneut im Bewusstsein der Deutschen festkrallen.

Dem deutschen Widerstand wohnt eine tiefe Tragik inne. Andere Versuche zuvor waren an Hitlers instinktivem Misstrauen, an ungünstigen Umständen oder am Versagen der Akteure gescheitert. Diesmal lag es an einer fast lächerlichen, technischen Zufälligkeit – mit der Folge, dass sich mit seinem Überleben Hitlers Wahn immer weiter steigerte, ein besonderes Werkzeug der Vorsehung zu sein. Der „Fluch des Glücks“, wie Heinrich Mann die frühen Jahre der Deutschen mit Hitler nannte, setzte sich fort, hielt das Volk an seiner Seite. Die „Religion der Erfolge“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) wirkte weiter; zuletzt als stammelnde Hoffnung auf die den Endsieg rettenden Wunderwaffen. Die böse Wucht der Goebbels’schen Verheißungen und Drohungen, die Angst vor der Rache der Gegner Deutschlands verlängerten die Zwangsgemeinschaft der Massen mit dem Diktator, der seine eigene Treuepflicht gegen Volk und Vaterland längst verraten hatte.

Nur wenige konnten die Barriere durchbrechen, die für die Mehrzahl, vor allem der in obrigkeitsstaatlicher Tradition erzogenen Soldaten und Beamten, bestand. Die meisten entschieden sich für die Pflichterfüllung, für die Treue zu dem geleisteten Eid. Was gerade in Deutschland aus spezifischer Traditionsverhaftung lähmend der Zivilcourage entgegenwirkte, war das korrumpierte Pathos der „Pflicht“. Helmut Graf von Moltke klagte dies in seinem Abschiedsbrief an seine Söhne mit den Worten an: „Ich habe ein Leben lang gegen einen Geist der Enge und Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, des erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und seinen letzten Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat.“

Aber, wie wir wissen, nicht nur in diesem. Wer in einer Diktatur lebt, entwickelt Formen vorbehaltsreichen, opportunistischen oder gläubigen Mitläufertums, die jene nicht zu leichtfertiger Verächtlichkeit berechtigen, die niemals selbst persönlich in eine Diktatur gestellt waren. Gegen deren perfekte Technik der Kontrolle, Indoktrination und Manipulation aufzubegehren bedeutet nicht nur Loyalitätsbruch mit dem System, sondern auch höchste Gefährdung des eigenen Lebens, der Familie und der Freunde.

Es liegt nahe, das, was damals war und das, was uns heute bedrängt, zusammen zu sehen und deshalb unsere Gedanken auf die Lage eines Volkes unter totalitärer Herrschaft zu richten – bemüht um ein begründetes und gerechtes Urteil über das Verhalten derer, die ihr unterworfen sind.

Der zeitliche Abstand, der uns heute ein sicheres Urteil über den 20. Juli 1944 erlaubt, fehlt uns bei der Beschäftigung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit von totalitärem Sozialismus und Teilung. Dennoch müssen wir uns diesen Fragen stellen nach der friedlichen Wende in Deutschland und Europa. So wie uns bei der Vollendung der deutschen Einheit – wirtschaftlich, sozial, politisch, ökologisch – wenig Zeit bleibt und darin ein Hauptproblem liegt im Wechselbad von Hoffnungen und Enttäuschungen, Veränderungen und Beharren, so ist auch die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit ohne zeitlichen Abstand besonders schwierig.

Täter und Opfer, Handelnde, Leidende, Duldende, Mitwisser und solche, die nichts wissen wollten, sie alle leben nach der Wiedervereinigung in einem freiheitlichen Rechtsstaat zusammen. Und Täter und Opfer, Handelnde, Leidende, Duldende, Mitwisser und Nichts-wissen-Wollende sind wir alle – in West wie in Ost – ob wir es wollen und wissen oder auch nicht. 40 Jahre Teilung sind unsere gemeinsame Geschichte und unser gemeinsames Schicksal. Dem müssen wir uns stellen, auch wenn wir nicht die Zäsur einer wirklichen Revolution oder einer bedingungslosen Kapitulation haben. Unsere gemeinsame Vergangenheit wird uns vielleicht mehr und länger erschüttern als alle ökonomischen, sozialen und ökologischen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zusammengenommen.

Ich warne vor selbstgerechten Urteilen über die Menschen und ihr Verhalten in 40 Jahren SED-Herrschaft. Hätten wir im Westen, wenn wir nicht das Glück gehabt hätten, im freien Teil unseres Vaterlandes aufzuwachsen, uns anders verhalten als unsere Landsleute jenseits von Mauer und Stacheldraht? Ich glaube nicht. Es hätte genauso einige wenige Tapfere gegeben, ein Teil wäre geflohen und der Rest hätte sich angepasst. Die Menschen sind in ihrer Mehrzahl keine geborenen Widerstandskämpfer oder Märtyrer. So ist die menschliche Natur. Wer das bestreitet, weiß wenig davon.

Totalitäre Regime verstehen es, das normale Sozialverhalten der Menschen so zu manipulieren, dass sie deren Leistungen, insbesondere auch die sittlichen Leistungen im nichtpolitischen Alltag, auf die Mühlen ihrer Zwecke leiten und als Zustimmung zu ihrer Herrschaft hinstellen.

Bei allen Vorbehalten gegen die Gleichsetzung der Nazi-Diktatur mit der SED-Herrschaft fragt sich dennoch, ob sich nicht auch in der SED – wie in der Nazi-Zeit – Formen vorbehaltsreichen Überlebens, wie opportunistischen, gar gläubigen Mitläufertums entwickelt hatten? Gab es auch nicht immer tausend Gründe, der einen großen Entscheidung auszuweichen? Gab es in beiden totalitären Systemen nicht auch Zeichen der Hoffnung oder eine Fülle öffentlicher Wohltaten, Konzession und Bestechlichkeiten, die das Einrichten in System-Nischen bei weitem attraktiver machten, als etwa Repressionen in Kauf zu nehmen? Bedeutete Aufbegehren gegen die perfekte Technik einer Kontrolle, Indoktrination und Manipulation nicht auch im sozialistischen Staat sowohl einen Loyalitätsbruch mit dem System wie auch eine Gefährdung zumindest des sozialen Standards?

Wir brauchen den Mut zur Wahrheit, und wir müssen der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit widerstehen. Nur daraus wächst die Kraft zur Versöhnung, ohne die wir nach so viel Elend, Diktatur und Teilung nicht zusammenfinden.

Der schnelle Wandel von Diktatur zu Demokratie, von Sozialismus zu sozialer Marktwirtschaft, von Teilung zu Einheit mutet den Menschen in Ost und West viel zu, und denen im Osten gewiss unvergleichlich mehr als uns im Westen. Die zu SED-Zeiten Unterdrückten und Benachteiligten erwarten Gerechtigkeit, und wir wissen, dass Strafrecht im Rechtsstaat zur Aufarbeitung von Geschichte nur höchst unvollkommen taugt oder dass auch die Eigentumsordnung unseres Grundgesetzes nicht 60 Jahre nachträglich ungeschehen machen kann.

Dies alles schafft neue Verletzungen und lässt alte Wunden schwer verheilen, da neue aufbrechen. Ohne die Bereitschaft, zu teilen und gemeinsam zu tragen, schaffen wir das nicht. Und diese Bereitschaft finden wir nur, wenn wir uns unserer Verpflichtung für unser Gemeinwesen sicher sind. Keiner lebt für sich allein. Und eine Ordnung von Freiheit und Gerechtigkeit ist uns nicht gegeben – es sei denn wir leben sie selbst.

Der Widerstand gegen Hitler lehrt uns, dass Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit unseres Einsatzes bedürfen. Jede Freiheitsordnung benötigt ein gemeinsames Verständnis von Grundwerten. Und jede Freiheitsordnung braucht freie Bürger, die sich für das Gemeinwesen einsetzen.

Wer handelt, lädt immer auch Schuld auf sich. Aber wer sich verweigert und wegduckt, dessen Schuld ist größer. Auch daran mahnt uns der 20. Juli.

Das Leben – wie im Widerstand gegen Hitler – oder die Freiheit – wie in der Opposition gegen die SED-Herrschaft – wird heute nicht gefordert, aber Zivilcourage und Engagement und die Bereitschaft, neben den eigenen Interessen auch die Notwendigkeit der Gemeinschaft zu sehen.

Den Männern und Frauen des Widerstandes gegen Hitler war nicht gegeben, ihre Vorstellungen verwirklichen zu können – eine freiheitliche Ordnung gestalten zu dürfen. Wir haben es heute besser. So sollten wir uns aufrütteln lassen von dem Vermächtnis Graf Stauffenbergs, der gesagt hat: „Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutsche zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt.“

Wir haben heute die Chance einer solchen Ordnung. Sie gibt uns viele Rechte. Zu Rechten gehören immer auch Pflichten. Die Pflicht, Verantwortung zu zeigen, sich für unsere Freiheitsordnung einzusetzen – das sind wir den Opfern, den Helden des 20. Juli schuldig.







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20.07.1992
Dr. Christine Bergmann
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