Menschenrechte als Maßstab

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans Katzer

Menschenrechte als Maßstab

Ansprache des stellvertretenden Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und Vizepräsidenten des Europa-Parlaments Hans Katzer am 20. Juli 1979 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Im März dieses Jahres war die Uraufführung des Filmes „Geheime Reichssache“. Zu Ende des Films sah man, eingebettet in eine Dokumentation über das 3. Reich, die Folgen des unmenschlichen Systems. Zerstörte Städte und Dörfer in Deutschland, in ganz Europa. Und stärker noch: Die geschundene Menschheit Europas, die Würde der Menschen in bestialischer Weise zertreten. Das war das Ende der Diktatur, die durch Rassenhass, übersteigerten Nationalismus und Größenwahn die ethischen-moralischen Normen glaubte außer Kraft setzen zu können. Schweigend, bewegt, beschämt und erschüttert verließen wir nach der Aufführung den Saal.

Auf der Straße stieß ich auf eine Gruppe junger Menschen. Ich hörte sie immer wieder sagen: „Ich hätte nie gedacht, dass so viele im Widerstand waren.“ Ich sagte zum Erstaunen der jungen Leute: „Dies hier war zwar ein bedeutsamer Ausschnitt aus der Geschichte des Widerstandes. Aber eben nur ein Ausschnitt. In Wirklichkeit war sowohl der Kreis der aktiven Widerstandskämpfer erheblich größer, aber auch die Zahl der Namenlosen, die treu und furchtlos Hilfe leisteten.“

35 Jahre nach dem 20. Juli 1944 müssen uns die Worte dieser Jugendlichen betroffen machen. Es ist sicherlich nicht Schuld der jungen Generation, wenn sie so wenig über die damalige Zeit und den Widerstand weiß, sondern unsere Schuld. Es gab Holocaust, Plötzensee, Kreisauer Kreis, Goerdeler Kreis, weiße Rose und viele andere. Der Aufstand des 20. Juli scheiterte, aber die Tyrannen, die von Angst getrieben blindwütig mordeten, wussten, dass das System gescheitert war und nicht die Männer und Frauen des Widerstandes. Wie sagte doch im Angesicht des Todes – dies war eine der eindrucksvollsten Aufnahmen im Film – Josef Wirmer zu seinem Henker Roland Freisler: „Wenn ich hänge, haben Sie die Angst.“

Und Graf von Schwanenfeld: „Ich dachte an die vielen Morde.“

Nein, gescheitert waren nicht die Männer und Frauen des 20. Juli, gescheitert war Hitler und sein zutiefst unmoralisches, verbrecherisches System.

Alle Grausamkeiten der Verfolgung waren nicht mehr in der Lage, die grundsätzlichen Umwälzungen aufzuhalten, die längst vor dem Tag der Hinrichtungen begonnen hatten. Ordnung in Freiheit und soziale Gerechtigkeit, so hieß es in der Denkschrift von Carl Goerdeler. Für uns stellt sich die Frage: Sind wir bereit, das Postulat der Freiheit und des Rechts auch für uns und unsere Umwelt so bedingungslos als unsere Maxime anzuerkennen und entsprechend zu handeln? Gedenkworte und Ehrungen sind nötig und angebracht. Aber die Opfer, die für uns gebracht wurden, haben Anspruch darauf, auch heute 35 Jahre nach ihrer Ermordung, von uns eine klare Antwort zu erhalten und entsprechendes Handeln. Es ist gut, wenn heute hier eine Veranstaltung stattfindet, wenn Kränze niedergelegt werden. Wenn in der Bendlerstraße in Berlin Gedenkstunden stattfinden, wenn Gottesdienste in Plötzensee, wenn in der Kirche „Regina Martyrum“ die „Pieta“ verkündet wird. „Der Tod ist das Tor zum Leben.“ Aber! Wenn wir dem Opfer der Männer und Frauen des 20. Juli gerecht werden sollen, dann heißt das ganz konkret:

1. Junge Menschen sollen nicht mehr sagen müssen: „Ich dachte nicht, dass so viele im Widerstand waren.“

Deshalb brauchen wir Geschichtsunterricht in unseren Schulen. Hier kommt übrigens niemand in Verlegenheit, denn alle Schichten unseres Volkes können sich wiedererkennen in den Persönlichkeiten des 20. Juli. Sie wurden nebeneinander gehenkt, so wie sie in den letzten Jahren gelebt hatten. Der Edelmann, der Arbeiter, der General, der Bürgermeister, der Gewerkschafter – alle Richtungen –, der Priester, der Diplomat, der Mann des Geistes, der Offizier und der Soldat.

Jeder findet sich hier wieder. Und wir sollten dafür sorgen, dass die Schulen in die Lage versetzt werden, dass den Schülern unschwer klargemacht werden kann, wenn über Recht und Freiheit und Gerechtigkeit und konsequenter Kampf gegen alles Unrecht gesprochen wird, gibt es viele Beispiele in unserer Geschichte, die mit Namen belegt werden können. Auch die jüngste Geschichte des Widerstands belegt dies.

Josef Wirmer, Generaloberst Beck, Heinrich Körner, Prälat Otto Müller, Helmuth Graf Moltke, Dr. Carl Goerdeler, Graf Schenk von Stauffenberg, Alfons Delp, SJ. Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Leuschner, Eugen Gerstenmaier, Max Habermann, Jakob Kaiser, Andreas Hermes, Bernhard Letterhaus, v. Witzleben, v. Hammerstein, Julius Leber, Gerig, Nikolaus Groß.

Ich weiß, die Liste ist viel, viel länger. Mir geht es um eine generelle Anregung.

An unsere Kommunalpolitiker, Schulen, Straßen mehr als bisher nach Persönlichkeiten des Widerstandes zu benennen.

2. Dazu gehört, dass wir die Überlebenden, die Angehörigen und die unmittelbar Betroffenen ermuntern, aus ihrer Bescheidenheit herauszutreten und, so sehr es ihrem Wesen widersprechen mag. Zeugen zu sein, für das, wofür ihre Männer, Frauen, Väter und Kinder bereit waren, ihr Leben zu opfern, wenn es um Freiheit und Gerechtigkeit geht. Neben einer personellen Verdeutlichung gilt es darum das zentrale Vermächtnis Widerstand als moralische und politische Kategorie, Widerstand gegen totalitären Unrechtsstaat, Widerstand gegen jedes Unrecht als Verpflichtung für jeden Einzelnen herauszustellen.

So steht der 17. Juni 1953 in einem inneren Zusammenhang zum 20. Juli 1944. Der 17. Juni 1953 ist eine erschütternde Mahnung. Niemand kann übersehen, wie schicksalhaft das Geschehen am 17. Juni 1953 aus der Schuld jener Diktatur erwachsen ist, die durch ihren ebenso blinden wie grausamen Machtwillen die Katastrophe für das ganze Volk herbeiführte. Jene, die am 17. Juni gegen Diktatur und für persönliche Freiheit und Achtung der menschlichen Würde ihr Leben einsetzten, sie handelten aus der gleichen Gesinnung wie die Männer und Frauen des 20. Juli.

Lassen Sie mich einen anderen Aspekt hinzufügen. Die Tragik des Widerstands besteht nicht darin, den Einsatz des eigenen Lebens zu wagen. Die Tragik besteht darin, den Gewissenskonflikt zwischen der eigenen Tat und der Gefährdung anderer, engster Angehöriger z.B., nicht lösen zu können, wenn ein unmenschliches Regime sich nicht scheut, die Angehörigen mitzuverfolgen. Hätten die Beteiligten des 20. Juli sich nicht für das Attentat entschieden, hätten sie vornehmlich an ihre Familien und Freunde gedacht, niemand hätte einen Vorwurf aussprechen können.

Wäre das dann Anpassung? Ja sicherlich! Unter solch grausamen Bedingungen haben sich viele angepasst! Wer wagt es, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen?! Viele, die sich heute vorschnell zu Richtern über die Vergangenheit aufschwingen, scheinen diese Bedingungen bei ihrem Urteil auszuklammern. Geschichte ist die Geschichte menschlichen Handelns. Die Auseinandersetzung mit unserer jüngsten Geschichte fällt uns mitunter schwer. Liegen diese Schwierigkeiten – nicht ausschließlich – aber vielleicht auch darin begründet, dass wir diese jüngste Geschichte eindimensional weitergegeben haben? Wir haben stets die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und den verheerenden Krieg in Erinnerung gerufen. Wir haben stets Empörung über die Gräueltaten wachgehalten.

Nach dem Film „Holocaust“ ist noch einmal die ganze Empörung der Jüngeren und die Betroffenheit der damaligen Generation sichtbar geworden. In diesem Bemühen dürfen wir nicht nachlassen! Aber Empörung löst die Frage aus, wie konnte es dazu kommen, wie konnte die betroffene Generation diese Gewaltakte zulassen. Haben wir diese Frage für heutige Generationen befriedigend beantwortet? Haben wir neben Empörung auch Verständnis geweckt – nicht als Rechtfertigung, nicht als Entschuldigung. Haben wir Verständnis geweckt für das Verhalten der Menschen unter totalitären Bedingungen? Wer die Methoden totalitärer Ideologien, an die Macht zu kommen und zu bleiben, nicht vermittelt, macht das Verhalten der Menschen, macht die Schwierigkeiten des Widerstandes unverständlich. Es ist schon früh, schon in den zwanziger Jahren z.B. von der katholischen Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus gewarnt worden. Ohne Echo!

Joachim Fest und Sebastian Haffner haben in ihren Hitlerbeiträgen sich um diese Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft bemüht. Empörung müssen wir vermitteln für unsere Verantwortung in der Vergangenheit. Der 20. Juli ist Ausdruck dieser radikalsten Empörung des Gewissens. Sie verliert trotz ihres Scheiterns nichts von ihrer Notwendigkeit, und ohne diese Tat wäre Deutschland ärmer. Es war nicht vergebens. Wenn die Geschichte des 20. Juli uns eine politisch nachvollziehbare Erfahrung lehren soll, dann die, den Widerstand zum Vorbild unserer Geschichte zu machen.

Die Erfahrung kann nur lauten – und dies ist der Geist, der den Widerstand geprägt hat – alles zu tun, damit ein totalitäres Regime nicht noch einmal in Deutschland eine Chance erhält!

In diesem Geiste haben die Frauen und Männer des 20. Juli an einem anderen, an einem menschlichen Deutschland gearbeitet, für das sie dann ihr Leben gaben. Ein Deutschland, in dem das Sittengesetz, in dem die Menschenrechte zum primären Maßstab der Verfassung und des politischen Handelns erhoben werden.







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