"Menschliche Geschichte ist immer neu und kennt doch wiederkehrende Muster."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Meyer

„Menschliche Geschichte ist immer neu und kennt doch wiederkehrende Muster.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer OP im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 2001 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Lesung 1 Kö 19, 11-21

„Salbe Elischa, den Sohn Schafats aus Abel-Mehola, zum Propheten an deiner Stelle!“

Elija tut das, er wirft den Propheten-Mantel auf Elischa, und es beginnt die Umwandlung des Elischa vom Bauern zum Propheten. Er muss das Drama des Propheten Elija integrieren, seinen Weg in die Freiheit Gottes nachvollziehen. Dann erst wird er der Geistträger, der die Zukunft Israels mitgestaltet.

Elija beruft Elischa nicht in Zeiten von Gottesgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Es ist und bleibt eine Zeit des Kampfes.

In Nordreich Israel hat sich mit König Ahab und Königin Isebel ein gut funktionierendes Gewaltsystem etabliert. Ahab ist dabei nicht gänzlich unempfindlich für Gottes Wort. Er macht sich auf die Einrede des Propheten immer wieder ein Gewissen. Er tut sogar Buße. Ganz anders seine Frau Isebel: Sie steht für die hemmungslose Durchsetzung der Ziele des Königshauses. Sie repräsentiert den Anti-Geist. Sie ist durch keine Gotteserfahrungen zu beeindrucken. Da kann ruhig Feuer vom Himmel fallen.

Der wundermächtige Elija ist verzweifelt. Auch seine Kraft reicht offensichtlich nicht aus, Israel zu bekehren. Er sieht sich als letzten derer, die auf der Seite des Gottes Israels stehen. Das ist das Ende. Er wünscht sich den Tod.

Doch unter der offenkundigen Fürsorge Gottes kommt er wieder zu sich, sieht er langsam Zukunft. In der Kraft der Speise nimmt er den langen Marsch zum Gottesberg unter seine Füße. Aber dort versteckt er sich in einer Höhle.

Zweimal stimmt er dasselbe Klagelied über seinen einsamen verlorenen Kampf an. Aber er tritt aus der Höhle heraus und vernimmt die Stimme Gottes:

„Geh deinen Weg durch die Wüste zurück, und begib dich nach Damaskus! Bist du dort angekommen, salbe Hasaël zum König über Aram! Jehu, den Sohn Nimschis, sollst du zum König von Israel salben, und Elischa, den Sohn Schafats aus Abel-Mehola, salbe zum Propheten an deiner Stelle. So wird es geschehen: Wer dem Schwert Hasaël entrinnt, den wird Jehu töten. Und wer dem Schwert Jehus entrinnt, den wird Elischa töten. Ich werde in Israel 7000 übriglassen, alle, deren Knie sich vor dem Baal nicht gebeugt und deren Mund ihn nicht geküßt hat.“

Was hört er da? Ermutigung und einen neuen Auftrag Gottes.

Er ist nicht allein.

Es gibt passiven Widerstand.

Er muss die richtigen Menschen auf den Weg und an die richtige Stelle bringen.

Darin eingeschlossen sind politische Gedanken und Schachzüge:

Ohne massiven äußeren Druck wird sich an dem System nichts ändern!

Ohne ein neues Königshaus bleibt die politische Kultur dieselbe!

Es gibt Menschen, die den Glauben an Gott tief in ihrem Herzen tragen. Die aber brauchen ein geistiges Zentrum.

Elija weiß: Das Programm Gottes geht nicht mit Träumern, sondern nur mit sehr realistisch denkenden, aber entschlossenen Leuten. Das müssen Leute sein, die wie Bauern Erdhaftung haben, das muss einer sein, der Land unter den Pflug nimmt, einer, der mit anderen zusammenarbeitet. Das muss einer sein, dem der Glaube wichtiger ist als alles andere.

Elija gehorcht, geht, gewinnt Elischa, nimmt ihn in die Schule und bringt ihn auf den Weg.

Die Berufung Elischas ist ein Zeichen der Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit. Elischa setzt vieles durch, schafft dem Glauben an Jahwe Raum. Er wird die politischen Führer auf den Weg bringen. Mit dem Ausland arbeitet er unter Trauer zusammen. Und alles erfüllt sich zu seiner Zeit.

Menschliche Geschichte ist immer neu und kennt doch wiederkehrende Muster.

Elija und Elischa: das ist auch ähnlich wie Johannes der Täufer und Jesus – und doch ganz anders. Vor allem ist Jesus unendlich tiefer gesichert bei seinem Vater, und dessen Sieg steht für ihn fest. „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“

Der Anfang des sich durchsetzenden Willens Gottes ist es, dass die Namen der Jünger – höchst verborgen – im Himmel eingeschrieben sind.

Und doch es geht um Öffentlichkeit und damit um Politik.

Es geht um den Gotteswillen im Leben.

Jesus entschließt sich, nach Jerusalem zu gehen, um eine Entscheidung für das Evangelium herbeizuführen. Er sichert dem Wort eine Öffentlichkeit. Die Botschaft selbst verkümmert nicht zu einer Kompromissbotschaft.

Mit Blick auf seine Ermordung am Kreuz bildet Jesus für eine neue Öffentlichkeit Nachfolger heran.

Schwestern und Brüder!

Die Elija-Geschichten und die Jesus-Geschichten sind bis heute keine überholten Geschichten. Die Elija-Erfahrungen sind Grundprogramm geistlichen Lebens.

Dietrich Bonhoeffer kennt sie und bringt sie im Gefängnis Tegel ins Wort als „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“. Zucht – Tat – Leiden – Tod.

Nur der züchtige Mensch wird den Raum menschlichen Gestaltens ausmessen können. Gültige Gestalt der Schöpfung darf er enthüllen. Aber damit ist er der Realität nicht ausreichend auf der Spur. Er hat noch nichts begriffen von den Mächten, die versuchen, Geschichte gottlos zu gestalten. Sie sind auch durch Gotteserfahrungen nicht zu beeindrucken. Paulus weiß das: Unser Kampf geht nicht gegen Fleisch und Blut, sondern mit den Mächten und Gewalten in der Höhe. Hans-Bernd von Haeften bringt es vor Freisler auf den Punkt, als er die weltgeschichtliche Rolle des Führers deutet, er sei der große Vollstrecker des Bösen.

Wer sich diesem konzentrierten Bösen widersetzt, erfährt bestürzend die eigene Unzulänglichkeit. Wer ist denn in einer Gottesnähe, dass er das Böse parieren könnte? Gott selbst gewährt sie und eröffnet Zukunft.

Wie sehr es um einen Kampf des Geistes geht, deckt der Prozess gegen die Mitglieder des Kreisauer Kreises auf.

Junge Männer, die in ihren Lebensbereichen erfolgreich soziales Leben gestalteten, waren versehen mit einem entschlossenen Wissen um die Alternative zum Nationalsozialismus aus christlichen Geist. Dessen werden sie angeklagt. Freisler wird zynisch zu Moltke sagen: „Sie haben also gemeint, Sie könnten einfach so ohne den Führer über die Zukunft Deutschlands nachdenken.“ Und Freisler sagt: „Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir beanspruchen den ganzen Menschen.“

Moltke hat die Vernehmung so erlebt: „Es war eine Art Dialog – ein geistiger zwischen F. und mir, denn Worte konnte ich nicht viele machen – bei dem wir uns durch und durch erkannten. ... wir haben sozusagen im luftleeren Raum miteinander gesprochen. Er hat bei mir keinen einzigen Witz auf meine Kosten gemacht, ... Nein, hier war es blutiger Ernst: ‚Von wem nehmen Sie Ihre Befehle? Vom Jenseits oder von Adolf Hitler?’ ‚Wem gilt Ihre Treue und Ihr Glaube?’ Alles rhetorische Fragen natürlich – ...“

An Moltke sieht man es vielleicht am schönsten, wie er sich hat von Christus ganz beanspruchen machen – und immer mehr vereinnahmen lassen bis zum Abschied aus dieser Welt. Weil er Christ ist, hat er hier keine Zukunft – in der anderen umso mehr.

Dennoch ist klar: Gottes Weg geht durch die menschliche Geschichte weiter.

Schon 1955 hat Hans Lilje, der selbst in der Lehrter Straße und in Tegel inhaftiert war, in einem Gottesdienst im Gefängnisbau wesentliche Dinge hervorgehoben:

Unser Verhältnis zu denen, die das Leben hingegeben hatten, darf nicht rückwärtsgewandt sein.

Unser Leben in der Gegenwart darf nicht auf dem Gedanken beruhen: Wir sind noch einmal davongekommen. Dankbar dürfen wir sein, dass uns unsere Zeit geschenkt ist. Sie ist eine Gabe aus der Liebe Gottes. Aus Dankbarkeit sollen wir die Aufgabe der Zukunft annehmen.

Es besteht die Gefahr der Bitterkeit, weil die Geschichte nie das Paradies wird, weil sie immer wieder den Kampf nötig macht.

Die Liebe Gottes hat mit uns einen Plan. Da die Gefängnistüren hinter ihm zugefallen sind, ist sich Lilje sicher: Nun ist es klar, dass nur noch der Plan Gottes gilt.

„Er bewahre uns vor der Gefahr der Planlosigkeit. Ich habe manchmal fast physisch in diesen Mauern gespürt, daß über unserem Leben ein geheimnisvoller Plan Gottes waltet. Als die Tür meiner Zelle ins Schloß fiel, da ereignete sich für mich der aufschlußreichste psychologische Augenblick meiner ganzen Haft. Da habe ich gewußt: Von nun gilt Gottes Plan. Ich kann meinem Leben keinen Tag hinzusetzen oder keinen Tag abstreichen; keine irdische Autorität kann das, nur ER. Das sollten wir im sogenannten Alltag nie wieder vergessen. Es gilt Gottes Plan. Auch darin, daß in diesem Augenblick keiner hier ist, den er nicht hergeführt hätte – zur Besinnung, zur Tröstung, zum neuen Entschluß. Das ist Gottes geheimnisvoller Plan."

Es ist aber klar: „Wenn das in einem Volk geschehen ist, dann kann dies Volk nie wieder so tun, als wäre es nicht geschehen. Wenn sich dies in der Geschichte einer Familie ereignet hat, kann keine Menschenhand diesen Segen aus der Familiengeschichte wieder auslöschen.“

Was sagt uns das nachdem 57 Jahre ins Land gegangen sind?

Die Zeit, in der wir leben, ist uns gegeben. Jede Zeit hat ihren Auftrag und ihre besondere Gnade. Die schweren Zeiten geben uns die großen Geschichten an die Hand, die zum Erbe gehören, aus dem wir leben.

Unsere Zeit ist Zeit des Elischa.

In manchen Ländern ist es auch heute höchst gefährlich, für den Menschen im Namen des Evangeliums einzutreten. Das geht bis in oberflächlich christliche Länder: El Salvador, Guatemala, Mexiko.

Bei uns, liebe Schwestern und Brüder, sieht es so aus, als seien wir frei. Jeder kann tun, was er will. Aber es ist eher so: Jeder muss tun, was er will. Jeder darf sich Gedanken über alles machen. Keiner aber soll eine Öffentlichkeit herstellen und das Ganze des Menschen einfordern.

Die Konsumwelt ist eine totale, die mit ihren Denkstrukturen einfängt und Vorrecht beansprucht.

Gesundheitstechnologien sind dem effizienten Leben zuzuordnen, und im Hintergrund feiert die Theorie vom „lebensunwerten Leben“ der Nazis fröhlich Urständ.



Immanuel Kant setzt dagegen: Der Mensch ist ein Zweck an sich selbst und darf nicht von anderen verzweckt werden. Jesus sieht den Wert des Menschen noch viel tiefer in der personalen Beziehung jedes Menschen zu Gott begründet. Wer vom ganzen Menschen her, der von Gott geliebt ist, die Würde jedes einzelnen Menschen einfordert, der gerät schnell an den Rand.

Wer im Bereich der Gentechnologie sagt, man darf mit Menschen nicht experimentieren und seien sie erst am Beginn ihres Lebens, der zieht sich den Vorwurf zu, er sei mitleidslos gegenüber den Kranken, denen doch sonst geholfen werden könnte.

Was ist zu tun? Für den Kampf braucht es zuerst Einübung.

Einübung in die Askese gegenüber dem Lob.

Wer die Lehre Gottes vertreten will, gehört nicht überall zu den geliebten und mit Lob überschütteten Menschen. Es kann einem die Tür vor der Nase zugemacht werden.

Einübung in die lebendige Beziehung mit Gott.

Der Jünger muss sich in den direkten Gehorsam einüben. Man nimmt sonst den καιρός nicht wahr.

Wenn Elija dem Elischa zum Abschied von seiner Familie mit auf den Weg gibt: „Geh, aber komm dann zurück! Bedenke, was ich an dir getan habe.“ (1 Kö 19, 20) Dann werden uns die Zeugen von Plötzensee zurufen: Bedenkt, was wir an euch getan haben, als Gott uns in eure Familie und Gemeinde gestellt hat.

Mögen wir diesem Ruf gerecht werden!






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