Soldat - Gehorsam - Widerstand

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harald Wust

Soldat - Gehorsam - Widerstand

Gedenkrede des Generalinspekteurs der Bundeswehr General Harald Wust am 20. Juli 1977 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Wenn ein Soldat die ehrenvolle Aufgabe erhält, am 33. Jahrestag des 20. Juli 1944 zu Ihnen zu sprechen, so scheinen mir dafür zwei wesentliche Gründe der Anlass zu sein:

einmal war - obwohl Kämpfer gegen die totalitäre Gewaltherrschaft des Dritten Reiches aus allen Schichten der Bevölkerung stammten - das Geschehen des 20. Juli 1944 vor allem durch Soldaten geprägt,

zum Anderen steht der Soldat immer in einem besonderen Pflichtverhältnis zum Staat und daraus ergibt sich ein unmittelbarer Bezug vom 20. Juli 1944 zur Gegenwart.

Nun mag sich vielen die Frage stellen, ob uns denn der 20. Juli heute - 33 Jahre nach dem Geschehen - überhaupt noch etwas zu sagen hat. Ist dieser 20. Juli etwa nur noch ein Gedenktag? Oder ist er mehr?

Ist seine Bedeutung nach so langer Zeit verblasst? Oder ist sie unverändert wirksam?

Diese Fragen verlangen Antworten. Nicht nur in unseren Streitkräften.

Ich bin der vierte Soldat, der seit 1958 auf dieser jährlichen Veranstaltung spricht. Meine Vorredner vergangener Jahre, die Generale Graf von Kielmansegg, Graf Baudissin und de Maizière hatten noch eine unmittelbare persönliche Beziehung zum Widerstand im Dritten Reich. Sie kannten viele ihrer Repräsentanten.

Ich dagegen gehöre einer soldatischen Generation an, die im Kriege zu Männern wurde und die im allgemeinen jenem Staat noch unkritisch gegenüberstand: einer Generation, die den Krieg fast ausschließlich an der Front erlebte und die dem Geschehen am 20. Juli 1944 mangels Einsicht distanziert, kritisch, vielleicht sogar verständnislos gegenüberstand.

Ein Eid, so hatten wir gelernt, bindet; er bindet zum Gehorsam - bis hin - so glaubten wir - bis hin zum bedingungslosen Gehorsam. Widerstand gegen den Staat, so schien es uns, war ein Verbrechen. Er war den meisten daher auch unvorstellbar.

Ein Eid - und auch davon waren wir überzeugt, weil es altüberlieferter deutscher Rechtstradition entsprach - begründete keine einseitige, sondern eine gegenseitige Verpflichtung:

Den Schutz durch den Eidnehmer und Dienst, Rat und Hilfe durch den Eidgeber. Wer wollte damals daran zweifeln, dass sich derjenige, der den Eid annahm, seiner Verpflichtung nicht ebenso bewusst war wie alle diejenigen, die den Eid leisteten?

Was wusste diese Generation schon von jenen Menschen, die sich besorgt mit der Entwicklung unseres Vaterlandes auseinander setzten, die sich aufgrund ihres Wissens mit der Frage zerquälten, ob sie sich angesichts des von ihnen erkannten Verrats des Eidnehmers noch an ihren Eid gebunden fühlen durften? Und was wusste diese Generation, was wussten die meisten Bürger in diesem Lande von den inneren Kämpfen dieser Menschen aus allen Teilen unserer Bevölkerung, die sich zum Widerstand entschlossen hatten, weil sie erkannten, dass Recht und Würde des Menschen missachtet wurden und der Staat ein Unrechtsstaat geworden war?

Ist der 20. Juli 1944 nur noch ein Gedenktag; ist seine Bedeutung nach so langer Zeit verblasst?

Oder hat uns der 20. Juli 1944 auch heute noch etwas zu sagen?

So hatte ich gefragt.

Wir dürfen auf der Suche nach einer Antwort sicherlich nicht nur beim Problem des Eides oder bei dem Versuch einer Erklärung des Widerstandes gegen die Tyrannei stehen bleiben.

Im Kern geht es um das Recht zum Widerstand - um das Gebot zum Widerstand, wenn Menschenrechte nicht mehr geachtet werden und der Staat in Gefahr ist, in einen Unrechtsstaat zu entarten.

Generaloberst Beck schrieb 1944 in seinem Aufruf an die Wehrmacht:

„Eine Staatsführung, die die Politik nicht mehr als die Kunst des Möglichen ansieht und die Erreichung ihrer Ziele nicht mit sparsamstem Kräfteeinsatz anstrebt, sondern in phantastischen Plänen grenzenloser Eroberungen schwelgt, die überhaupt keine sittlichen Bindungen weder dem eigenen noch einem anderen Volk gegenüber anerkennt, kann niemals zu einem Frieden mit den übrigen Völkern gelangen.“

Volk und Staat waren in Gefahr. Die Staatsführung ohne ethische Bindung. Hieraus leiteten die Männer des 20. Juli ihr Recht zum Widerstand her.

Der Aufstand des Gewissens am 20. Juli 1944 war ein verzweifelter Versuch, Deutschland zu retten. Das Ziel war ein deutscher Staat, in dem Recht und Freiheit verbürgt sein, Humanität und Moral gelten sollten. Deutschland sollte wieder ein Mitglied der europäischen Völkerfamilie werden.

Nur diese hohe, ethische Ziel machte es den Männern und Frauen des Widerstandes möglich, Grundsätze zu überwinden, denen gerade sie nach Erziehung und Tradition verpflichtet waren: Eid - Gehorsam - Loyalität - Staatstreue. Und wir wissen, welche Gewissenskämpfe sie durchzustehen hatten, um sich zu überwinden.

Ihre Hoffnung, das Ziel des Widerstandes am 20. Juli 1944 zu erreichen, wurde jäh zerstört. Heute wissen wir, dass es sich in unserer freiheitlich verfassten Demokratie unter andern Voraussetzungen verwirklicht hat.

Viele jener Männer jedoch, die damals vergeblich versuchten, das Vaterland in seinem Bestand, aber auch moralisch zu retten, zahlten mit ihrem Leben. Ihrer gedenken wir in Ehrfurcht. Wir fühlen uns ihrem Vermächtnis verpflichtet. Wir leben in ihrer Tradition.

Was bedeutet es, in der Tradition des 20. Juli 1944 zu leben?

Tradition leitet sich aus Handeln und Haltung her. Aus Handeln und Haltung, die für uns über den Augenblick hinaus Bedeutung behält. Aus Handeln und Haltung letztlich, die Orientierungshilfe sein können.

General Heusinger, der von den Widerstandskämpfern wie Stieff, Fellgiebel und von Tresckow als einer der ihren angesehen wurde, sagte 1960 als Generalinspekteur aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des Verbandes der Soldaten:

„Tradition bezieht sich auf Geist und Haltung. Darum habe ich in meinem Erlaß zum 20. Juli das Opfer jener Männer zu würdigen gesucht, die aus einer brennenden Not des Gewissens heraus aufgestanden sind gegen Unrecht und Unfreiheit. Wer seine Augen öffnet muß erkennen, daß in jenen Männern, in den Soldaten wie den Nichtsoldaten jene großen Werte deutscher abendländischer Gesinnung lebendig waren, die weiterzugeben für jede Generation unseres Volkes sittliche Pflicht ist.“

Handeln und Haltung derer, die im Widerstand für die Würde des Menschen, für die Wiederherstellung von Recht und Freiheit des Staates gekämpft haben, sind Verpflichtung für alle Bürger unseres Staates, nicht zuletzt gerade für den Bürger in Uniform. Ihr Vermächtnis gehört zu den unverzichtbaren Traditionen unseres Staates.

Dessen ist sich die Bundeswehr bewusst. Und sie dokumentiert diese Tradition auch nach außen hin. Durch die Benennung von Kasernen nach Männern des Widerstandes; und zwar nicht nur nach Soldaten wie Beck, Stauffenberg oder Rommel, sondern auch an Nichtsoldaten, die im Widerstand ihr Leben hingegeben haben wie der katholische Theologe Alfred Delp oder der politische Journalist Julius Leber.

Tradition muss lebendig gehalten werden, sonst verliert sie ihren Wert als Orientierungshilfe.

Ich zweifele daran, dass es in unserem Lande gelungen ist, das Vermächtnis des 20. Juli 1944 überall lebendig zu halten. Ein erschreckender und zunehmender Mangel an geschichtlichem Wissen und Geschichtsbewusstsein lässt Tradition schwinden.

Mitbürger, die in der Tradition des 20. Juli 1944 leben, die um die Qual der Missachtung von Menschenrechten wissen und denen bewusst ist, welche geschichtlichen Leistungen dazu geführt haben, dass wir im freiheitlichstem Staat unserer Geschichte leben, würden sich nicht versucht fühlen, sich an den Rand des Rechts zu stellen und Würde und Freiheit des Menschen in diesem Lande und Einrichtungen dieses Staates leichtfertig in Frage zu stellen.

Es ist eine der großen politischen Aufgaben der Bundeswehr, ihren Soldaten deutlich zu machen, in welcher Tradition sie leben, ihr Geschichtsbewusstsein zu wecken und vor Augen zu führen, weshalb dieses Land, sollte seine Freiheit jemals bedroht sein, verteidigungswert ist.

Die Bundeswehr entzieht sich dieser Aufgabe nicht. Aber ich meine, dass es Aufgabe aller in unserem Lande ist, die Verantwortung zu tragen, das Vermächtnis des 20. Juli in diesem Sinne aufrecht zu erhalten.

Und noch eines ist Vermächtnis des 20. Juli 1944, ist Bestandteil dieser Tradition: Das Gewissen wach zu halten und um die Mitverantwortung jedes Einzelnen für diesen Staat zu wissen. Für unsere Streitkräfte gilt der Ausspruch des Generaloberst Beck, dass der soldatische Gehorsam dort eine Grenze hat, wo Wissen, Gewissen und Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten. Dies erfordert, Wissen zu vermitteln, das Gewissen zu schärfen und Verantwortung bewusst zu machen. Nur auf dieser Grundlage lässt sich die Armee nach dem Grundsatz von Befehl und Gehorsam führen. Nur ist dieser Gehorsam kein blinder Gehorsam. Der Gehorsam, der in der Bundeswehr geschuldet wird, gründet sich auf Gewissen und Verantwortung.

Unser Soldatengesetz räumt jedem Soldaten das Recht ein, die Ausführung eines gegen die Menschenwürde verstoßenden oder nicht zu dienstlichen Zwecken erteilten Befehls abzulehnen. Und es verpflichtet den Untergebenen darüber hinaus, solche Befehle, die ein Verbrechen oder Vergehen fordern oder gegen das Völkerrecht verstoßen, zu verweigern.

Dies ist eine andere Dimension des Gehorsams als sie früher gefordert wurde. Es ist jene Form des Gehorsams, die die Männer des 20. Juli angestrebt und für sich selbst ohne Rechtsgrundlage, nur ihrem Gewissen verpflichtet, in Anspruch genommen haben.

Diese Normen gelten für die Bundeswehr und befähigen sie, ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu erfüllen. Sie machen die ethische Grundlage deutlich, auf der unsere Streitkräfte ihren Auftrag als Mittel einer an Friedenserhaltung orientierten Politik erfüllen.

Und sie tragen ebenso dazu bei, diesen Staat in unserem Lande und in der Familie der freien Völker dieser Welt glaubwürdig zu machen, wie die Vereidigung der Soldaten auf die Verfassung und die Bindung der Armee an die Verfassung. Und ich meine, dass diese Bindung eine Voraussetzung dafür ist, dass der Gehorsam unserer Soldaten auch vom Staat nicht missbraucht werden kann, so lange er ein Rechtsstaat bleibt.

Der 20. Juli - und damit beantworte ich die von mir eingangs gestellte Frage - hat für jeden von uns nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Fast scheint es, als sei das Vermächtnis jener, die im Widerstand standen, fordernder und deutlicher geworden.

Haltung und Handeln jener, die im Widerstand standen, sind Grundlage einer Tradition, die alle Bürger dieses Landes bindet, nicht nur die Soldaten. Uns ist aufgegeben, das Vermächtnis des 20. Juli 1944 zu erfüllen: Mitverantwortung dafür zu tragen, dass unser freiheitlich verfasster Rechtsstaat und Recht und Würde seiner Bürger erhalten bleiben. Jeder hat mit dafür zu sorgen, dass es sich lohnt, in diesem Lande zu leben. Und für die Soldaten füge ich hinzu, dass auch aus der Tradition des 20. Juli 1944 die sittliche Verpflichtung erwächst, Bestand und Freiheit dieses Staates - sollte es jemals notwendig sein - tapfer zu verteidigen.






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