Vermächtnis und Zukunftsaufgabe

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Prof. Dr. Karl Carstens

Vermächtnis und Zukunftsaufgabe

Ansprache des Bundespräsidenten Prof. Dr. Karl Carstens am 20. Juli 1981 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Der 20. Juli 1944 ist ein herausragendes Datum in der deutschen Geschichte. Es ist der Tag, an dem Deutsche den Versuch unternahmen, Hitler zu töten und damit Deutschland und Europa von der Tyrannei des Nationalsozialismus zu befreien.

Dieser Tag ist für uns und unsere Freunde in der Welt zu einem Symbol geworden: zu einem Symbol dafür, dass in deutschem Namen nicht nur Unrecht getan wurde, zu einem Symbol der höchsten Opferbereitschaft deutscher Männer und Frauen für das, was als richtig, als wahrhaftig, als gut erkannt wurde.

Der 20. Juli ist zu einem Zeichen des deutschen Widerstandes gegen Hitler und den Nationalsozialismus geworden. Dieser Widerstand fand hier einen Höhepunkt, aber er fand nicht nur hier statt. Es gab ihn an vielen anderen Tagen und an vielen Orten. Er hatte viele tragische Höhepunkte, von denen damals nur Wenige etwas wussten. Er griff in zahlreiche Einzelschicksale der Opfer, ihrer Angehörigen und ihrer Freunde ein.

Die Konzentrationslager kennen auch die Leidensgeschichte vieler Deutscher.

Dieser Tag ist ein Tag des Gedenkens. Wir gedenken, heute, am 20. Juli 1981, in Ehrfurcht und in Selbstbesinnung der Opfer des 20. Juli 1944. Wir gedenken aller Opfer des deutschen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Wir gedenken ihrer Angehörigen, die die Last mitgetragen haben und die mit ihnen gelitten haben.

Wir gedenken aber auch der Opfer des Nationalsozialismus, Deutsche und Ausländer, die nicht ein Teil des Widerstandes waren, sondern wegen ihres Glaubens und ihrer Rasse – ich nenne besonders die jüdischen Opfer –, die wegen ihrer Herkunft oder ihrer Überzeugung unschuldig ermordet wurden: Millionen von Männern, Frauen und Kindern. Das dürfen wir nie vergessen. Sie waren Grund und Rechtfertigung für den Widerstand.

„Viertausend Tage, viertausend unendliche Nächte“ – so formuliert Werner Bergengruen die Klage der Opfer –, „Stunde für Stunde befragt, ob eine das Zeichen brächte!“ Und er fährt fort: „... der Engel allein hat Striemen und Tränen gezählt. Er nur vernahm durch Fanfarengeschmetter, Festrufe und Glockendröhnen der Gefolterten Schreien, Angstseufzer und Todesstöhnen ...“

Der 20. Juli ist ein Tag, an dem wir in Deutschland uns in Ehrfurcht vor diesen Menschen verneigen: vor jenen, die ihr Leben bewusst eingesetzt haben und vor jenen, die unschuldig ermordet wurden.

Wir trauern um die Opfer – aber wir feiern auch ihr Andenken. Denn dieser Tag ist auch ein Vermächtnis, eine Aufforderung an uns und eine Aufgabe für die Zukunft. Das sind wir seinen Opfern schuldig, das hätten sie von uns verlangt.

Darin liegt die Bedeutung des Widerstandes. Er ermöglicht es uns, Vergangenheit und Zukunft zu verknüpfen, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft zusammenzuführen, und er verpflichtet uns für diese Zukunft.

Der Widerstand hat für das Selbstverständnis und die Selbstachtung von uns Deutschen große Bedeutung. So wie der Nationalsozialismus zur deutschen Geschichte gehört, gehört auch der Widerstand zur deutschen Geschichte.

Der Nationalsozialismus machte sich deutsche Geschichte, deutsche Tradition, auch deutsche Charaktereigenschaften zunutze; er missbrauchte sie, verformte sie, setzte sie für seine furchtbaren Zwecke ein.

Das hat dazu geführt, dass deutscher Geschichte, deutscher Tradition und dem, was man als deutsche Charaktereigenschaften ansieht, seither mit vielen Vorbehalten begegnet wird.

Aber der Nationalsozialismus ist nur ein Teil unserer Geschichte, er ist nicht die ganze Geschichte. Auch der Widerstand hier in Deutschland wuchs auf deutschem Boden, aus deutscher Geschichte, deutscher Tradition und deutschen Charaktereigenschaften.

Das haben auch viele Gruppen des Widerstandes im Ausland so gesehen. Sie haben nicht pauschal das ganze deutsche Volk verdammt. Sie waren unter den ersten, die für ein freies, vereintes Europa unter Einschluss der Deutschen eintraten.

Winston Churchill sagte 1946: „In Deutschland lebte eine Opposition, die zahlenmäßig durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, die aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde.

Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig getrieben von der Not ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unerkennbar, da sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden Ihre Taten und Opfer sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus. Wir hoffen auf die Zeit, in der dieses heroische Kapitel der inneren deutschen Geschichte eine gerechte Würdigung findet.“

Die geistigen Wurzeln des Widerstandes reichen weit in unsere Geschichte zurück. Er fand seine Grundlagen im Besten, was unser Volk auszeichnet an Freiheitssinn, Gerechtigkeitsgefühl, Achtung vor der Menschenwürde, Brüderlichkeit und auch Pflichtbewusstsein gegenüber dem moralischen Gewissen in uns.

Es ist wichtig, dass die Jugend davon erfährt. Denn es ist für eine Gemeinschaft lebensnotwendig, dass die in ihr verbundenen Menschen auf ihre Vergangenheit – es ist ihre Vergangenheit, daran lässt sich nichts ändern – nicht nur mit Verdrängungswünschen, mit Scheu oder gar mit Verachtung, sondern auch mit Stolz blicken. Und wir können auf die Männer und Frauen des Widerstandes stolz sein!

Unter ihnen finden sich viele Leitbilder für unsere Jugend. Ich nenne stellvertretend Carl Friedrich Goerdeler und Helmuth James von Moltke mit dem Kreisauer Kreis, aus dem christlichen Bereich Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp, die Studenten um Professor Kurt Huber und die Geschwister Hans und Sophie Scholl, für die Gewerkschaften Julius Leber, Wilhelm Leuschner, ferner Hans von Dohnanyi und Josef Wirmer, und schließlich die Männer des 20. Juli selbst: Claus von Stauffenberg, Henning von Tresckow, Ludwig Beck.

Ich nenne hier nur diese Namen: sie sollen für alle stehen, auch für die vielen, die im Verborgenen wirkten und unbekannt geblieben sind. Ich denke besonders an die, die Juden verbargen und sie dadurch vor Deportation und Vernichtung retteten.

Die Dokumente des Widerstandes, darunter die Briefe der zum Tode Verurteilten, sind menschlich tief bewegende Zeugnisse eines klaren moralischen Urteils, einer unpathetischen Opferbereitschaft, eines unbestechlichen Bekenntnisses zum Vaterland.

Es wäre gut, wenn diese Dokumente des Widerstandes in allen Schulen gelesen würden. Gut wäre es auch, wenn etwa die Geschichte des Widerstandes zahlreicher in den Anthologien deutscher Lyrik erscheinen würde.

Man kann daraus viel lernen. Die Dokumente zeigen die Beweggründe der Widerstandskämpfer und die Umstände des Widerstandes auf. Sie verhelfen uns auch zu einer Antwort auf die naheliegende und gerade von jungen Menschen immer wieder gestellte Frage: Warum haben nicht mehr, warum haben nicht alle Widerstand gegen dieses Unrecht geleistet?

Wir dürfen dieser Frage nicht ausweichen. Sie ist wichtig, damit die junge Generation etwas über das Leben in jener Zeit und in einer Diktatur überhaupt erfährt, über die Möglichkeiten, die der Einzelne hatte, über seine menschlichen Schwächen, über die Bedingungen – hier und im Ausland –, unter denen es zum nationalsozialistischen Unheil kommen konnte. Ich zitiere dazu Albrecht Haushofer, den die Gestapo beim Einmarsch der Russen im April 1945 erschoss. Er hat im letzten Kriegsjahr im Gefängnis von Moabit das Gedicht „Schuld“ verfasst. Darin sagt er, der als Widerstandskämpfer den sicheren Tod vor Augen hatte:

„Ich musste früher meine Pflicht erkennen,

ich musste schärfer Unheil Unheil nennen –

mein Urteil habe ich viel zu lang gelenkt ...

Ich klage mich in meinem Herzen an:

Ich habe mein Gewissen lang betrogen,

ich habe mich selbst und andere belogen –

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –

ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!

Und heute weiß ich, was ich schuldig war ...“

Haushofers Worte zeigen uns, wie schwer es war, sich zum aktiven Widerstand durchzuringen und wie groß – selbst bei denen, die das volle Ausmaß der Unmenschlichkeit des Systems kannten – die Versuchung war, dem äußersten, dem tödlichen Konflikt auszuweichen.

Ich möchte schließen mit einigen Worten zur gegenwärtigen Situation unseres Landes. Auch sie ist nicht frei von Intoleranz, von Gewalt, von Fanatismus und von Menschenverachtung.

Wenn es bei uns heute wieder Gruppen gibt, die nicht mehr zu einem Dialog bereit sind – der ja die Bereitschaft zuzuhören voraussetzt –, die nicht mehr bereit sind, eine andere als ihre eigene Meinung zu respektieren, die unser Rechtssystem und die Regeln unseres politischen Systems nicht anerkennen wollen und die gezielt und bewusst mit fanatischem Hass Gewalt als ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen, dann haben wir Grund, besorgt zu sein.

Manche von ihnen leiten das Recht zum Kampf gegen unseren Staat aus dem Widerstandsrecht des Bürgers ab. Dieser Anspruch kommt einer Verunglimpfung der Männer und Frauen des 20. Juli gleich, die gegen ein Terrorregime gekämpft haben und nicht gegen einen demokratischen Rechtsstaat, der wie der unsere auch seinen Gegnern mit rechtsstaatlichen Mitteln gegenübertritt.

Vielleicht bedarf es der Erfahrung, die meine Generation gehabt hat, um zu erkennen, dass wir in einer vorher nie gekannten freiheitlichen Ordnung leben, in einer Ordnung, die auch grundsätzliche Abweichungen verträgt.

Ich bejahe diese Toleranz aus Überzeugung. Beginnt diese freiheitliche Ordnung aber, den Bruch des Rechts hinzunehmen und vor der Gewalt zu weichen, fürchte ich um sie. Denn jene, die das Recht brechen und Gewalt anwenden, bleiben dabei, wenn sie selbst einmal Macht in ihren Händen haben. Das haben uns die dreißiger und vierziger Jahre gezeigt.

Ich bin – das möchte ich an diesem Tage sagen – besorgt darüber, dass Menschen in unserem Lande immer noch ein ungenügendes Verständnis unserer freiheitlichen Demokratie haben. Sie wissen die Freiheiten und Vorteile der Demokratie zu nutzen, aber sie respektieren ihre Regeln und Grenzen nicht.

Vielleicht liegt das daran, dass wir die Pflichten, die eine Demokratie auferlegt, zu wenig in das Bewusstsein gerückt haben. Sicher hat es damit zu tun, dass eine Neigung besteht, vor allem die Schwächen unserer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in den Vordergrund zu stellen.

Ich trete dafür ein, Schwächen aufzuzeigen und Verbesserungen anzustreben. Aber das Ganze muss innerhalb des gesicherten Rahmens unserer Demokratie und unserer rechtsstaatlichen Ordnung stattfinden.

Ich trete dafür ein, Konflikte auszutragen, aber nicht mit Gewalt, sondern im Rahmen des demokratischen Prozesses.

Das Verständnis für diesen Zusammenhang zu festigen, scheint mir eine unserer wichtigsten Aufgaben zu sein. Die Schulen wie die verschiedenen Institutionen der politischen Bildung sollten sich dieser positiv ausgerichteten Aufgabe verstärkt zuwenden.

In diesem Bekenntnis – zur Freiheit, zur Menschenwürde, zur Demokratie – besteht das Vermächtnis des demokratischen Widerstandes. Damit haben uns die Männer und Frauen, derer wir heute gedenken, einen Weg aus dem Dunkel der Vergangenheit in eine bessere Zukunft gewiesen. Dafür haben sie ihr Leben gegeben. Dafür danken wir ihnen.

Und noch etwas macht mir Sorge: In den letzten Wochen bin ich darauf angesprochen worden, dass jüdische Mitbürger anonyme oder sogar namentlich unterzeichnete Briefe erhalten haben, in denen sie beschimpft und bedroht werden. Hier sind wir alle zu größter Aufmerksamkeit verpflichtet und zur Bekämpfung derartiger Tendenzen aufgerufen, auch wenn sie nur von einer kleinen Minderheit ausgehen.

Unsere jüdischen Mitbürger, die das entsetzliche Geschehen der dreißiger und vierziger Jahre überlebt haben und die im Vertrauen auf die besseren Kräfte in unserem Volke nach Deutschland zurückgekehrt sind, sollen versichert sein, dass die große Mehrheit ihrer Mitbürger, für die ich mich zum Sprecher mache, an ihrer Seite steht.

So zeigt uns der Rückblick auf den 20. Juli 1944 jedes Jahr von neuem, was wir den Männern und Frauen des Widerstandes zu verdanken haben, aber auch, welche konkreten Verpflichtungen sie uns im Hinblick auf die Gegenwart und die Zukunft auferlegen. Solange wir in ihrem Geiste handeln, sind wir auf dem rechten Wege. Wenn wir in Fehler zurückfallen, gegen die sie mit aller Kraft gekämpft haben, droht uns Gefahr.

Die große Mehrheit unserer Mitbürger, auch der jungen Mitbürger, bekennt sich zu unserer Demokratie; sie ist bereit, ihre Regeln zu respektieren, sie ist gegen Gewaltanwendung.

Lassen Sie uns alle gemeinsam diese Demokratie verteidigen. Unterstützen wir unsere staatlichen Organe, deren Aufgabe es ist, das Recht auf die Freiheit zu schützen.

Aber sorgen wir auch dafür, dass die Ideale, die zu allen Zeiten die Besten unseres Volkes und gerade auch die Männer und Frauen des Widerstandes beseelt haben, uns weiterhin voranleuchten:

Freiheitssinn, Gerechtigkeitsgefühl, Achtung vor der Menschenwürde, Brüderlichkeit und Pflichtbewusstsein gegenüber dem moralischen Gewissen in uns.







Weitere Reden

20.07.1981
Dr. h.c. Annemarie Renger
Dr. h.c. Annemarie Renger