Wir fordern für die Toten des Widerstandes den Respekt, der ihnen gebührt.

Fabian von Schlabrendorff

Wir fordern für die Toten des Widerstandes den Respekt, der ihnen gebührt.

Gedenkrede von Fabian von Schlabrendorff am 20. Juli 1967 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin

Meine lieben Freunde!

Der Stelle nahe, an der mitten in der Nacht vom 20. zum 21. Juli 1944 die Exekution an unseren Kampfgefährten General Olbricht, Oberst Graf von Stauffenberg, Oberst Ritter Mertz von Quirnheim und Oberleutnant von Haeften vollzogen wurde, haben wir uns versammelt zum Gedenken an die Opfer des Widerstandes, zur Besinnung auf das, was damals geschah und was es uns und der Geschichte bedeutet.

Wer da weiß, was Erinnerungen im Leben der Völker bedeuten, wird diesen Blick in die Vergangenheit nicht gering schätzen. Wir dürfen deshalb den Spott derer nicht fürchten, die nur das Auge für die Zukunft offen haben. Gerade die Zukunft erschließt sich leichter demjenigen, der es versteht, im Spiegel der Vergangenheit zu lesen.

Auch heute noch ist der Kreis begrenzt, dem begreiflich ist, wie es zum 20. Juli 1944 kommen konnte. Aus der persönlichen Bekanntschaft und Freundschaft ergibt sich für uns die Pflicht, denen, die lediglich Verrat wittern, die Notwendigkeit, Sauberkeit und Redlichkeit der Motive des Widerstandes sowie die Größe und Gewalt ihres Handelns nahe zu bringen. Darüber hinaus haben wir auch gegenüber denen, die nachgeboren sind und keinen unmittelbaren Zugang zu dem Geschehen jener Tage haben, eine Verpflichtung.

Wir fordern für die Toten des Widerstandes den Respekt, der ihnen gebührt. Dabei dürfen wir nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass es eine Elite des deutschen Volkes war, die zum Widerstand gehört hat. Reich war darum auch der Gedankenstrom und die Fülle von Projekten und Denkschriften, die Richtlinien, die geplant waren zur politischen und wirtschaftlichen Neuordnung unseres Vaterlandes.

Es war eine weithin verbreitete Überzeugung: Eine allgemeine Erkenntnis der frevelhaften verlogenen Vergangenheit, ein Bekanntwerden der Sünden der maßgebenden Männer müsse rasch zum Überwinden der Lüge führen. Das Bekanntwerden der Wahrheit werde auch die Mächtigsten ohnmächtig machen. In allem die Wahrheit ans Licht zu bringen, war wichtigstes Anliegen dieses Kreises.

In einer Rundfunkansprache, die Goerdeler vorbereitete, heißt es: „Das deutsche Volk muss durch allen Propagandanebel hindurch heute die Wahrheit, nichts als die Wahrheit erfahren.“ Ein der christlichen Überlieferung des Abendlandes entsprechender Staat sollte wieder errichtet werden, der auf der Pflicht seiner Bürger und Glieder zur Treue, zum Opfer, Dienst und zur Leistung für das Gesamtwohl ebenso ruhte, wie auf der Achtung der Person und ihrer ursprünglichen Persönlichkeitsrechte.

Im Kreisauer Kreis wie bei Goerdeler und in der Umgebung eines Tresckow und nicht weniger bei Julius Leber war man der optimistischen Ansicht, dass der Glaube an Gott nicht unbedingt wesentlich sei für den, der kritisch wird gegenüber dem Staat. Moltke sprach es aber später aus, dass dies falsch, ganz falsch gewesen, und Grundsätze reiner Sittlichkeit allein nicht genügten, um Menschen bereitzumachen, alles daranzusetzen und zu wagen im Einsatz dieses Widerstandes. Die gewissensmäßige persönliche Bindung an Gott wurde das Fundament des Planens und Handelns.

„Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,

ein Flammenmeer umgibt uns.

Welch ein Feuer!“

So deutete es einer von ihnen im Abschiedsbrief an seine Frau. Bis zum körperlichen Schmerz empfanden sie die Not, in der Tyrannei und unter der Lüge zu leben. Sie waren aber schon alle gezeichnet. Darum drohte ihnen wie uns das Verderben. In dieser Situation kam die selbstquälerische Frage auf, die Dietrich Bonhoeffer in die Worte fasste: „Sind wir überhaupt noch brauchbar? Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch die Erfahrung misstrauisch gegen Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben. Wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden.“

Wenn wir die Zeugnisse der hervortretenden Persönlichkeiten der verschiedenen Kreise in der Widerstandsbewegung überschauen, fällt uns auf, dass sie in ganz verschiedener Weise immer wieder sich Rechenschaft zu geben versuchten. „Mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, habe ich gegen einen Geist der Enge und Gewalt, der Überheblichkeit und der Intoleranz gekämpft, wie er seinen besonderen Ausdruck heute im nationalsozialistischen Staat gefunden hat“, bekannte Moltke. Um Überwindung der Rassenverfolgung, der Glaubenslosigkeit und des Materialismus ging es denen, die so dachten und schrieben. Dass man es für die Nachwelt auch erkennen und begreifen möchte, dass wir unser Vaterland in einer verzweifelten Lage vor dem Untergang zu bewahren suchten, war Olbrichts Hauptanliegen. Wenn wir an die Gespräche mit Goerdeler und Tresckow zurückdenken, spüren wir in allem ihre starke religiöse Bindung und Verantwortlichkeit. Stellvertretend auch zu leiden waren sie bereit. Auf eines freilich warten die Toten heute noch, dass eine Zeit heranbricht, die sie allgemein als Mahner und Patrioten bewertet und ehrt.

Gewiss haben sich in der letzten Zeit Historiker gefunden, die sich mit der Geschichte des Widerstandes als Forscher und Lehrer befasst haben. Unter ihnen gibt es eine große Anzahl von Persönlichkeiten, denen der historische Blick in die Wiege gelegt worden ist. Leider gibt es aber auch andere Historiker, denen es nur darauf ankommt, Daten zusammenzutragen, aus denen sich ergibt, dass auch die Männer und Frauen des Widerstandes nur Menschen und deshalb nicht fehlerlos waren. Diese zweite Gruppe der Historiker gleicht einem Menschen, der von Grund auf unmusikalisch ist, es aber dennoch unternimmt, die Biographie eines Beethoven zu schreiben. Seine von ihm zusammengetragenen Daten mögen richtig sein. Seine Ausdeutung aber bleibt falsch, weil er als Unmusikalischer zum Wesen eines Beethoven niemals vorgedrungen ist. Es fehlt ihm nicht weniger als der Zugang zur Sache selbst. Wir wollen diesen Weg nicht gehen. Wir wollen uns vielmehr den Grundzug unserer deutschen Geschichte vergegenwärtigen. Im Blick auf das geschichtliche Schicksal des deutschen Volkes kann man einen merkwürdig bestürzenden Zug feststellen. Die Geschichte, genauer unsere Geschichte, reißt ständig ab und beginnt immer wieder von neuem. Denken wir an das Auf und Ab der Kaiser des Mittelalters, an das Ende der Hohenstaufen, an den Dreißigjährigen Krieg. Zwanzig Jahre nach Friedrich dem Großen bricht Preußen zusammen. Zwanzig Jahre nach Bismarcks Tod zerbricht das von ihm gegründete Kaiserreich. Vierzehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zerfällt die Weimarer Republik. Was bedeutet in diesem schicksalhaften Hang zum Abbrechen und Neubeginnen die Erinnerung an den 20. Juli 1944?

Ernst Niekisch, der den Staat Adolf Hitlers das Reich der niederen Dämonen genannt hat, hat einst das Wort von der deutschen Daseinsverfehlung geprägt. Noch trennen uns zu wenige Jahre von dem Erlöschen des Dritten Reiches, als dass wir heute schon sagen könnten, ob das harte Urteil eines Ernst Niekisch berechtigt war oder nicht.

Es gibt keinen beständigen Wert und keinen echten Glanz in der Geschichte, wenn Geschichte nicht gesehen wird in Bindung an Gottes Führung, als Weg des Menschen im Gehorsam oder Ungehorsam. Unser Urteil baut auf die Einsicht Goethes, dass das Ringen des Glaubens mit dem Unglauben tatsächlich das letzte und tiefste Motiv der Geschichte bleibt.

Sind die Handlungen der Männer des 20. Juli 1944 in dieser Richtung zu deuten, dann bleibt auf ihrem Tun, auch wo es äußerlich missglückt ist, der Glanz des Wertvollen und Bedeutenden. Dann war ihr Opfer nicht vergebens, nicht nur der Schatten einer Gewitterwolke. Dann ist der Sinn ihres Todes ein Sühneopfer für die aufgebrochene Gottesferne und den hinter ihr lauernden ewigen Tod.

In einer nahezu geistlichen Gehaltenheit hat der Generaloberst Ludwig Beck auf seine Umwelt gewirkt. Er war ein väterlicher Vorgesetzter, der schon allein durch seinen Blick, ohne etwas zu sagen, gute Vorsätze und Kräfte zu wecken vermochte. An dieser Stelle ist auch der Generaloberst Freiherr von Fritsch zu nennen, der wie kaum ein Zweiter das damalige Offizierskorps geprägt hat. Solange Fritsch und Beck das entscheidende Wort im Heer zu sagen hatten, war das deutsche Heer mit seinen jungen Offizieren magnetisch von der ordnenden Kraft dieser Männer bestimmt. Das hat niemand Geringeres bezeugt als der Sozialist August Winnig, der in den Jahren des Dritten Reiches oft mit beiden Generalen zusammen war.

Auch heute noch gibt es unter uns Deutschen Menschen, die glauben, den Widerstand deswegen verwerfen zu können, weil er den Gehorsam gegen Hitler aufgekündigt hat. Wer so spricht, der sollte einmal Theodor Fontane lesen, dessen unübertroffene Leistung in der Schilderung von Land und Leben Berlins und der Mark Brandenburg ihn für immer dem Vergessenwerden entrückt hat. Dieser Theodor Fontane legt in einem seiner großen Romane einer Persönlichkeit folgende Worte in den Mund: „Es gibt Zeiten des Gehorchens und Abwartens und es gibt andere, wo zu tun und zu handeln erste Pflicht ist. Ich liebe den König; er war mir ein gnädiger Herr, und ich habe ihm Treue geschworen, aber ich will um der beschworenen Treue willen die natürliche Treue nicht brechen. Und diese gehört der Scholle, auf der ich geboren bin. Der König ist um des Landes willen da. Trennt er sich von ihm, oder lässt er sich von ihm trennen durch Schwachheit oder falschen Rat, so löst er sich von seinem Schwur und entbindet mich des meinen. Es ist ein schnödes Unterfangen, das Wohl und Wehe von Millionen an die Laune, vielleicht an den Wahnsinn eines einzelnen knüpfen zu wollen. Mit dem König, solange es geht, ohne ihn, wenn es sein muss. Es ist fluchwürdig, den toten Gehorsam zu eines Volkes höchster Tugend stempeln zu wollen. Unser Höchstes ist die Freiheit und Liebe. Es gibt keine Treue, die, während sie nicht gehorcht, erst ganz sie selber ist. Sich entscheiden, ist schwerer als gehorchen. Schwerer und oft auch treuer.“

Wer das nicht gelten lassen will, weil die meisten unter uns Älteren noch einen Eid auf Adolf Hitler geleistet hatten, der möge es bei Martin Luther nachlesen. Mit der ihm eigenen Kraft der Sprache fragt Martin Luther, die Antwort vorwegnehmend: „Wer hat Dich etwas geloben und schwören heißen, was wider Gott und seine Ordnung ist?”

Wir leben heute im Zeitalter der Hegelrenaissance. Im Westen, im Protestantismus, im Katholizismus bis weit hinein in den Marxismus und Kommunismus bis nach Russland hinein, alles feiert die Renaissance des großen deutschen Friedrich-Wilhelm Hegel. Er war der große Lehrer der Staatsräson. Das wollen wir nicht vergessen und auch daran festhalten. Gewiss ist der Staat da um seiner Menschen willen, aber auch wir Menschen sind um unseres Staates willen da. Aber jener Friedrich-Wilhelm Hegel hat auch etwas anderes gesagt als nur die Betonung der Staatsräson. Er hat hervorgekehrt: Es kann Zeiten geben, in denen es die Aufgabe des Volkes ist, den Staat zu zertrampeln. Wer das Reich der niederen Dämonen erlebt hat mit eigenen Augen, dem kann kein Zweifel sein: Am 20. Juli 1944 war es Zeit und Pflicht, den Staat Adolf Hitlers zu zertrampeln.

Wären jene Männer und Frauen des Widerstandes noch heute mit uns zusammen, ginge das Ringen unter uns wohl weiter, ob die Diktatur mit oder ohne Attentat zu überwinden ist. Leidenschaftlich ständen den einen, die fanatisch an die enthüllende Kraft der Wahrheit glaubten und dem Wort allein vertrauten, die anderen, die sich zur Tat gedrängt fühlten, gegenüber. Aber darin waren sie alle gleich, dass sie nicht länger im Unrecht zu leben vermochten, und dass Unfreiheit und Ehrfurchtslosigkeit vor Gott keine Grundlage ihres Lebens sein konnte. Alle sahen für sich den Tod der Gewaltsamkeit voraus und erfassten auf diesem Wege in der Todesnähe die Tiefe des Lebens.

Trotz aller Gefahr blieben sie unbeugsam, wie ihr Verhalten vor Gericht und wie ihre letzten Zeilen weithin zeigen. „Des Lebens Fackel wollten wir entzünden.“ Es ist nicht nur eine Erinnerung an Hölderlins „O heilig Herz der Völker“ oder an des geliebten Stefan Georges gewählter Sprachform gewesen, wenn Stauffenberg während der Exekution im Aufblitzen der Scheinwerfer rief: „Es lebe unser heiliges Deutschland!“

Wir, die wir mit ihnen teilhaben durften an ihren Sorgen und Hoffnungen, müssen heute Zeugnis geben von dem, was sie gewollt. Im Umgang mit unserer heutigen Umwelt muss man leider feststellen, dass sich die Persönlichkeiten des Widerstandes keiner allgemeinen Verehrung erfreuen. Wer das nicht glauben will, musste sich vor wenigen Tagen durch eine beschämende Sendung des Westdeutschen Fernsehens belehren lassen, in gleicher Weise gekennzeichnet durch Ignoranz und Mangel an Ehrfurcht: Wir, die wir die Treue, Geborgenheit, die unbedingte Verlässlichkeit der Freunde erfahren haben, die etwas davon wissen, dass wir unser Leben denen verdanken, die im rechten Augenblick schweigen konnten, müssen Mahner sein, dass das, was wir erlebten auch von den Nachkommenden erkannt und weitergetragen wird.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Drei Gedankenkreise bewegen uns vor allem im Rückblick. Sie sind von allgemeiner Gültigkeit, wert, festgehalten zu werden. Der erste: Im Sterben soll das ganze Leben noch einmal aufleuchten. So verschieden das Leben und der Lebenskreis, das Alter und der Glaube waren, darin sind sie uns ein bleibendes Vorbild. Es leuchtet wie ein Abendrot das Streben ihres Lebens in ihrem Sterben auf. Das sollte die Jugend festhalten, ganz gleich, woher sie kommt und wie sie denkt und wohin sie geht. Der zweite: Das Vaterland ist es gewesen, für das die Männer des Widerstandes ihr Leben zu opfern bereit waren. Fürs Vaterland zu wirken, sind auch wir gerufen. Es ist das gleiche, für das jene gestorben sind. Der dritte: Außer uns gibt es noch viele andere Völker. Mit ihnen gemeinsam eine Welt der Vaterländer zu schaffen, ist unsere Aufgabe.

Einer unserer jüdischen Mitbürger, der große preußische Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl, hat einmal ein bestimmtes Moment aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts charakterisiert. Diese Worte treffen auch auf den Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus zu. Sie lauten: „So hat er seine weltgeschichtliche Mission erfüllt, nicht in ihrer Vollkommenheit aber in ihrer Wahrheit, nicht im Siegeslauf aber in Geduld und Beharrung, nicht in Schlachten wider Heeresmacht aber in unerschütterlichen Mut gegen die ganze geistige Macht seines Zeitalters. Er hat sich erfüllt von Gott, gehalten in Schwächen als ein Starker, unter Niederlagen als ein Überwinder.“






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