Wo Auftrag und Recht des Staates ihre Grenzen finden

Paul Graf Yorck von Wartenburg

Wo Auftrag und Recht des Staates ihre Grenzen finden

Ansprache von Paul Graf Yorck von Wartenburg am 20. Juli 1961 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Wieder einmal ist diese Stadt in den Mittelpunkt eines geschichtlichen Geschehens gerückt, dessen Ausgang über Freiheit und Knechtschaft von Millionen entscheiden wird, und wiederum geht es um die gleiche Frage, um welche es heute vor 17 Jahren ging.

Die Sprache der Willkür, der Drohung, des Hasses als Mittel erpresserischer Politik, der Missbrauch der sittlich bestimmten Begriffe, die unverhüllte Lüge im Dienste einer schnöden Propaganda, Gewalt und Tücke, herausfordernder Hochmut im Gewande des volksbeglückenden Biedermannes – das war doch alles schon einmal da und erweckt in uns traurige, beängstigende Erinnerung.

In unserem Proteste, ja noch in dem Angstschrei eines gequälten Volkes meldet sich das bedrückende Bewusstsein, dass es vor kurzem noch unsere Stiefel waren, die friedliche Staaten niedertraten, dass in unserem Namen ganze Völker versklavt wurden, die Gaskammern Millionen qualvollen Tod brachten.

Gerade in dieser Stunde, da es um Deutschlands Zukunft, um die Freiheit unserer Hauptstadt geht, da es gilt, unseren mitteldeutschen Brüdern das letzte Tor offen zu halten in der Kerkermauer, die sie umschließt – gerade in dieser Stunde erinnert uns der Prozess in Jerusalem daran, welche Untaten von deutschen Händen verübt wurden, welch abgefeimte Schurkereien in den Hirnen dieser Herrenmenschen wuchsen.

Was heute als dumpfe Drohung über dieser Stadt lastet, was heute die freie Welt gebieterisch herausfordert – es ist Geist von jenem Geiste, dem wir uns vor wenigen Augenblicken noch trunken hingaben. Und wir sind im Angesichte dieses Denkmals dort gefragt, ob wir durch Leiden so gereinigt, durch Buße so geläutert wurden, dass wir im Namen des Rechts, im Namen der Freiheit, unsere Stimmen erheben dürfen; wir sind gefragt, ob wir wirklich so guten Gewissens die Welt an die Unveräußerlichkeit unseres Anspruchs auf unsere nationale Einheit, die Integrität unseres geschichtlichen Raumes gemahnen können, ob wir uns erhobenen Hauptes einreihen dürfen in die Scharen der Freiheitskämpfer.

Die Antwort auf diese Fragen gibt nicht unser Grundgesetz, geben nicht unsere politischen Institutionen, die Antwort können wir nur selbst geben vor dem Richterstuhle unseres Gewissens.

Mucken wir nur auf, weil jetzt von außen auf uns zukommt, was wir einst freventlich unseren Nachbarn zudachten, oder hat uns wirklich das Grauen gepackt vor dem geschändeten Bilde des Menschen, vor der eigenen Schuld, vor dem unsagbaren Leiden, das wir über unsere Brüder verhängten? Ist uns der teuflische Spuk verflogen, der uns die Wirklichkeit Gottes verhüllte, und haben wir wieder gelernt, unsere Knie vor ihm zu beugen? Sind wir bereit, auch für die bedrohte Freiheit anderer aufzustehen oder pochen wir nur auf die Verträge zu unserem Schutze?

Ach, im hohen Namen der Freiheit unsere unveräußerlichen Rechte einzufordern, wären wir nur befugt, so wir neu gelernt hätten, was es mit der Freiheit auf sich hat.

Sie ist des Menschen höchstes Gut, sein Adelsbrief vor aller Kreatur, der ihn dazu beruft, frei von den Gesetzen der Natur aus Verantwortung zu leben, von Entscheidung zu Entscheidung fortschreitend sich zu vollenden.

Diese Freiheit, sie ist ganz auf unser personales Gewissen bezogen, sie macht einen jeden von uns aus, bestätigt ihn in der Einmaligkeit seines Seins. Sie ist Verantwortung und Bindung, ehe sie Anspruch und Recht ist. Sie ist unteilbar, für einen jeden Menschen die ganze – und deshalb kann Freiheit nicht fordern, wem es nicht ein Anliegen ist, dass jeder sie erfahre, der Menschenantlitz trägt. Der große Emile Zola, er wusste um diesen wesentlichen Zusammenhang, als er aussprach: „Solange einer in Ketten schmachtet, bin ich nicht frei.“

Ich fürchte, es gibt noch viele in unserem Volke, die das Wort „Freiheit“ im Munde führen und nie erfahren haben, was eigentlich sie damit für sich erheischen. Vielleicht meinen sie, sie würden gefragt, was ihre Unbekümmertheit, ihr Wohlleben, ihre eigenen Meinungen ihnen wert seien, während doch die Freiheit unsere Bereitschaft einfordert, unsere Habe, unsere Sicherheit, unser Leben, ja unsere äußere Ehre an dieses eine höchste Gut zu setzen, unserem Gewissen zu leben, verantwortlich zu existieren. Nicht umsonst sagt der Apostel: „Wo aber der Geist Gottes ist – da ist Freiheit!“

Wer den Gegensatz totalitärer und freiheitlicher Staatsformen in der Verschiedenheit wirtschaftlicher Systeme sucht und etwa meinte, es ginge heute um das Widereinander von Sozialismus und Kapitalismus – der hat von dem Weltgeschehen noch nichts begriffen. Für diese Alternative zwischen zwei Abarten des Materialismus lohnte es sich nicht, den Kopf hinzuhalten. Nein! Wie in der Zeit des Nationalsozialismus, der Epoche der Staatsvergottung, geht es ausschließlich darum, ob die Offenbarung unter uns in Geltung bleibt, die vom Wesen des Menschen den Schleier hob und uns unserer ewigen Berufung gewiss machte, geht es darum, ob wir staatsspezifische Materie sind, Materie in jedem Belange oder Geistwesen, die im Anrufe Gottes stehen.

Die Entscheidung über den Ausgang der Auseinandersetzung liegt bei uns, bei uns allein, denn jede Macht findet ihr Ende dort, wo der Mensch ihrer nicht achtet. Aber täuschen wir uns nicht, wir werden zu dem, wofür wir uns selbst halten. Optieren wir für den Materialismus in unserem Leben, in unserer Sehnsucht, in unserer Selbsteinschätzung – so werden wir mit Notwendigkeit die Sklaven von Staat oder Gesellschaft – so werden wir Kanonenfutter und bekommen damit das, was wir wollten. Optieren wir für den Geist, für die Verantwortung, für die Liebe – drei Ausdrucksformen der einen und selben Grundhaltung – so mögen wir als Einzelne vielleicht Entbehrung, Kerker und gewaltsamen Tod erfahren, aber wir werden eine Freiheit dafür eintauschen, die uns auf die Höhen der Menschheit führt, und wir werden uns dort den Männern zugesellen, deren Andenken wir heute feiern.

In dem Kampfe von Ost und West, der um Sein und Wesen des Menschen geht, haben wir vor den uns verbündeten Nationen die grausige Erfahrung der letztlichen Bedrohung der Person durch den totalen Staat voraus. Am Beispiel der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes haben wir aber auch noch ein anderes erfahren: die Legalität des Aufstandes gegen die Willkür einer durch keine sittlichen Normen gebundenen Staatsmacht. Ein für alle Mal haben uns diese Männer den Weg in qualvoller Gewissensentscheidung freigekämpft. Sie sind uns sichere Führer, sie handelten nicht als politische Doktrinäre, die sich im Hinblick auf eine künftige Gesellschaftsordnung zu jeder Schurkerei, zu jedem Morde berechtigt halten – sie handelten in der Wahrnehmung einer Verantwortung, der zu entfliehen ihr Gewissen ihnen nicht erlaubte; sie handelten in der Stellvertretung ihres Volkes, im Bewusstsein dessen, was Deutschland seinen erlauchten Geistern, seiner Geschichte, seiner Kultur, was es Europa und was es der Christenheit schuldig ist. Sie traten gegen die Volksverderber auf den Plan, die Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, und doch hatten sie mit überkommenen Auffassungen zu brechen, tausend Skrupel zu überwinden, sich selbst und ihr Recht zum Aufstand an dem Menschenbild zu prüfen, um das es ihnen ging, sie hatten ihre Ehre außerhalb der Gesetze ihres Standes zu suchen, ehe sie die Gewissheit des Auftrages errungen, ehe sie wagen, ja ehe sie ihr eigenes Leben darbieten durften.

Seit den vergessenen Tagen der Religionskriege war keinem Abendländer eine ähnliche Entscheidung abverlangt worden. Sie haben sie getroffen und mit ihrem Opfer gültig besiegelt. Sie haben das Feld neu abgesteckt und deutlich gemacht, wo Auftrag und Recht des Staates ihre Grenze finden und wo Auftrag und Verantwortung des Bürgers die Pflicht beinhalten, gegen die Obrigkeit aufzustehen. Dank ihnen sind wir heute nicht mehr die Untertanen, die ihre Pflicht im bloßen Gehorsam suchen, dank ihnen gibt es in Deutschland wieder ein politisches Gewissen.

In den Männern des 20. Juli 1944 ist noch einmal die unerhörte Verheißung zu politischem Abbilde geworden, der das Abendland seine Entstehung verdankt. In ihnen tritt gegenüber einem blinden Gehorsam fordernden Staatsmoloch der Mensch auf den Plan, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, auch als Bürger seinem Gewissen zu leben. In ihnen erhebt der Mensch im Bewusstsein seiner Gotteskindschaft laut seine Stimme und verweist den Staat in die Grenzen des Sittengesetzes, in ihnen entdeckt er seine Verantwortung für den Mitbruder über der Grenze.

Das alles ist Vermächtnis und Auftrag: Wir sind gefragt, dringender gefragt als je zuvor, ob wir dieses Vermächtnis annehmen, diesen Auftrag ausführen wollen. Wir sind gefragt, ob unsere Gemeinschaft in solchem Erlebnis ihr Selbstverständnis suchen will.

Allzu lange hat unsere Staatsführung gezögert, dem Volke die Verpflichtung solcher Aussage und solchen Beispieles vorzuhalten. So ist unser Volk aus Furcht vor der Verantwortlichkeit für das Geschehene in die Anonymität, in die Geschichtslosigkeit geflüchtet. Wenn heute nach 17 Jahren die Beflaggung der Amtsgebäude verfügt wird, so müssen wir fast bangen, dass der 20. Juli 1944 politisch schon so indifferent geworden ist, dass man es auch in einem Wahljahre wagen darf, ihn unter die historischen Gedächtnistage der Nation einzureihen. Dieses späte Bekenntnis, es hätte nur Wert, wenn wirklich unsere Staatsführung diese Zeugen für Ehre, Recht und Gewissen zu den Vorbildern des neuen Deutschlands erwählte, ihnen zu folgen entschlossen wäre, wenn sie dem Volke die Entscheidung abverlangte. Um diese Entscheidung können wir nicht herum! Mit dem Lebensideale, das eine absatzhungrige Industrie uns vorzeichnet, dem Ideale illustrierter Zeitungen und Filme, aber auch mit den Kameradschaftstreffen der SS-Verbände, mit der Verschwörung des Schweigens oder den Beteuerungen unserer Unschuld werden wir keines der Probleme lösen, vor die wir mit dem Fiasko unserer Mordpolitik gestellt wurden.

Auf solchem Wege entfernen wir uns immer weiter von unseren darbenden Brüdern in Mitteldeutschland, verlieren wir immer mehr das Bewusstsein, für die Geknechteten Verantwortung zu tragen. Auf diesem Wege gibt es keine Versöhnung mit den Völkern, welchen der deutsche Name gleichbedeutend mit Grauen ist. Nein! Kein Staatsvertrag kann hier Abhilfe schaffen und gäben wir gleich alles preis, was sie fordern.

Solange wir den Ruf nicht vernehmen, der da aufsteigt aus all den ungezählten Stätten der Tortur und des Mordes, der uns gilt und uns fordert, solange unsere Tränen ungeweint bleiben, unsere Herzen sich nicht der Not des anderen öffnen, werden wir den furchtbaren Ring nicht sprengen, den Abscheu und Furcht um uns ziehen.

In Israel warten sie wie auf ein Wunder darauf, dass ein Zeichen geschähe unserer Wandlung. Dieses alte, leidgeprüfte, dieses auserwählte Volk, es weiß, dass der Mensch im Hasse seines Lebens nicht froh werden kann. Es kommt wie ein Flehen zu uns aus allen diesen Völkern, dass wir sie vom Hass, von der Verachtung, vom Misstrauen erlösen, dass Deutschland für sie wieder zum menschlichen Nachbarlande, zu bewohntem Bezirk werde.

Fühlen wir denn nicht, dass es um ganz etwas anderes geht als um Anerkenntnis einer Kollektivschuld, einer Anerkenntnis, die wir im Schauer und Entsetzen verweigern ohne zu gewahren, dass wir uns in der puren Verweigerung verschließen und verhärten?

Fühlen wir denn nicht, dass wir – wo immer wir standen – dass wir uns nur auf den Knien unserer Herzen um die bemühen müssen, die unserer Mordlust entgangen sind, dass wir ihnen das Bild eines verwandelten, um Vergebung bittenden, eines liebenden Volkes schuldig sind, dass wir ihnen den Weg zu uns ebnen müssen?

Nun, der erste Schritt zu solcher Wandlung, er führt über die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, die zwischen uns und den anderen steht. Und das ist des Menschen einmalige großartige Möglichkeit, dass er, wo er Dinge nicht ungeschehen machen, Tote nicht auferwecken kann, so doch sich selbst zu reinigen vermag durch Sinnesänderung.

Wir können als Volk wie als Einzelne zwar nicht den Folgen unserer Taten, aber der Schuld entrinnen, so wir wieder und wieder durchleben, was uns fallen ließ, so wir neu Position beziehen, so wir uns selbst die Frage stellen, uns verabscheuen und mit neuem Entschlusse wieder erheben, so wir sterben und werden. Und weil dies unsere einzige Chance ist, geht es ohne eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zwischenspiel nicht ab. So sind wir heute und immer aufgerufen, uns neben die Galgen unserer Märtyrer zu stellen, die sühnen wollten, wo sie nicht zu retten vermochten. Machen wir uns ihren Gewissenskampf, ihre Not, ihre Tat und ihr Sterben zu eigen, und wir werden damit den ersten befreienden Schritt getan haben, der uns aus dem Zirkel herausführt, in den ungesühnte Schuld und Selbstrechtfertigung uns bannen. Dann erst wird ihr furchtbares Sterben die große Ernte bringen, dann erst werden wir mündig werden, im Namen der Freiheit auch Deutschlands Rechte in dieser Welt anzumelden; dann erst kann die Welt dazu Ja sagen.

Aber trauen wir doch nicht allzu sehr darauf, dass die drüben hinter dem Eisernen Vorhang nur die Sprache der Atombomben verstehen. Tyrannen lässt der Untergang von Millionen kalt, aber sie fürchten die Lächerlichkeit, sie fürchten, dass der Mensch ihre Macht als Schein entlarvt, dass er ihre Voraussetzungen nicht mehr gelten lässt und einfachhin heraustritt aus dem umstellten Raume; sie fürchten, dass er ernst machen könnte mit seiner Berufung zum Geiste.

Die armseligen Marionetten da jenseits des Brandenburger Tores, die einst russische Panzer gegen freiheitshungrige deutsche Arbeiter zu Hilfe riefen, um fürderhin die Gewissen zu vergewaltigen, den Bauern seines Landes zu berauben, den Bürger um den Lohn seiner Arbeit zu prellen, den Arbeiter auszubeuten und über ihnen allen eine gottlose Afterordnung aufzurichten, diese Marionetten einer fremden Macht; durch ein gewandeltes Volk sollten sie daran erinnert werden, dass alle Gewalt dort ihr Ende findet, wo der Mensch sich noch im Angesichte des Henkers freimütig zu seinem Gewissen bekennt. Ihre Gewalt ist schon gebrochen. Ist schon gebrochen durch ein Volk, das sich Gut und Selbsterlebnis der Männer des 20. Juli 1944 zu eigen macht.

Hier, wenige Schritte von uns entfernt, fiel unter den Kugeln des Exekutionskommandos der Graf Schenk von Stauffenberg, der Bannerträger eines neuen, eines gewandelten Deutschlands und sein letztes Wort war ein beschwörender Appell an uns, diesem Deutschland Gestalt zu geben.

Dass die drüben es hören und mit ihnen alle, die in unseren Landen auf die Materie setzen und damit den Menschen erniedrigen, wir, die wir hier versammelt sind und Hunderttausende mit uns, wir haben sein Vermächtnis angenommen:

„Es lebe das ewige Deutschland!“






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