Der Boden für eine bessere und friedlichere Zukunft

Dieter Haack

Der Boden für eine bessere und friedlichere Zukunft

Gedenkrede des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau

Dr. Dieter Haack am 20. Juli 1979 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir gedenken – wie in jedem Jahr – an dieser Stelle in Plötzensee der Männer und Frauen aus vielen Völkern, die ihr Leben im Kampf für Freiheit und Recht gegen Unterdrückung und Terror geopfert haben.

Heute Vormittag gedachten wir im Ehrenhof des Bendlerblocks Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Ludwig Beck, Friedrich Olbricht, Albrecht Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften. Vorher konnte ich die Pläne für die Neugestaltung dieses Ehrenhofs der Öffentlichkeit vorstellen.

Der 20. Juli 1944 als äußeres Zeichen und Höhepunkt des deutschen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ist auch nach 35 Jahren aktuell.

Verschiedene Ereignisse der letzten Monate haben uns die Nähe unserer jüngsten Vergangenheit aufgezeigt: Das Gedenken an die Reichskristallnacht vor 40 Jahren, der Majdanek-Prozess, die Fernsehsendung „Holocaust“ über das Einzelschicksal einer jüdischen Familie, die Diskussion um die generelle Aufhebung der Verjährung für Mord, vor allem für nationalsozialistische Verbrechen.

Es kann und darf für uns Deutsche – wie für jedes andere Volk – keine Flucht aus der Vergangenheit geben. Die Vergangenheit wirkt in unsere Gegenwart hinein. Die Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte ist eine dauernde Aufgabe. Wir finden unsere nationale Identität nur, wenn wir die eigene Geschichte nicht leugnen. Dazu brauchen wir das Verständnis zwischen den Generationen, das Gespräch zwischen jung und alt. Wir müssen durch die praktische Vernunft unseres Handelns beweisen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben.

Die Widerstandsbewegung gegen Hitler, der Vertreter aller Bevölkerungsschichten und geistesgeschichtlichen Traditionen unseres Volkes angehörten, musste konsequenterweise zum 20. Juli führen.

„Das Attentat auf Hitler muß erfolgen um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor aller Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat“, sagte zu Recht Henning von Tresckow. Und Graf Stauffenberg: „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft, es muß geschehen; denn dieser Mann ist das Böse an sich.“ Dietrich Bonhoeffer verstand das Handeln des Widerstandes als einen Akt der Buße.

Für die Frauen und Männer des Widerstandes waren Recht und Würde des Menschen unverzichtbar. Der nur äußerlich gescheiterte Aufstand des Gewissens legt gerade uns Deutschen eine hohe Verpflichtung auf, der wir alle – jeder Einzelne von uns – gegenüber jedermann gerecht werden müssen.

Die Aufforderung auf einem Flugblatt der Geschwister Scholl gilt auch heute: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt.“ Gustav Heinemann fragte vor 10 Jahren hier in Berlin-Plötzensee: „Werden wir die freiheitliche Demokratie jetzt bewahren, zur sozialen Demokratie weiterentwickeln und zu unserem Lebenselement machen? Dies ist eine Frage, die uns der 20. Juli 1944 stellt.“

Wir gedenken in diesem Jahr auch des 30jährigen Bestehens unseres Grundgesetzes, das den Prinzipien des demokratischen Rechts- und Sozialstaatsverpflichtet ist. Diese Verfassung entspricht den politischen Zielen, die auch die deutsche Widerstandsbewegung verfolgt hat. Um das moderne Wort der Zukunftsperspektive zu verwenden: Die durch das Grundgesetz vorgezeichnete staatliche Ordnung war die Zukunftsperspektive der Widerstandskämpfer und Attentäter. Eine Ordnung, die auf der Menschenwürde, der Toleranz, dem politischen Grundkonsens der Bürger und der Solidarität mit dem Mitmenschen besteht.

In Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Bundeskanzler Helmut Schmidt hat anlässlich der Gedenkfeier zum 9. November 1938 in der großen Synagoge in Köln im vergangenen Jahr gesagt: „Wenn es aber doch nie wieder vorkommen darf, dass deutsche Bereitschaft zur Pflichterfüllung, zum Gehorsam, zum Einsatz für Ideale zu Kadavergehorsam pervertiert und irregeleitet wird in gemeinsames verbrecherisches Handeln, dann genügt es noch nicht, ein Widerstandsrecht ins Grundgesetz geschrieben zu haben. Sondern dann müssen wir die jungen Menschen unseres Volkes durch Vermittlung historischer Kenntnisse und durch unser eigenes Beispiel dahin erziehen, dass sie nach dem moralischen und menschlichen Wert und dem Sinn ihrer Handlungen fragen.“

Ich meine, dass die mangelnde Vermittlung historischer Kenntnisse in Elternhaus, Schule und Öffentlichkeit und das oft fehlende Vorbild verantwortlicher Personen in Politik, Wirtschaft und Geistesleben eine Schwäche unserer Gesellschaft ist. So ist es zu erklären, dass die Bundesrepublik Deutschland noch zu keinem eigenen Selbstverständnis gefunden hat und die junge Generation weitgehend politisch orientierungslos ist.

Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hat materialistische und egoistische Kräfte hervorgebracht, denen gegenüber die Tugenden der Opferbereitschaft, des Verzichts, der Dankbarkeit und der Bescheidenheit unterlegen sind. Wirtschaftlicher Erfolg und hoher Lebensstandard prägten zu einseitig unsere Werteskala. Das häufige Versagen von Elternhaus und Schule in der politischen Bildung, das auch auf den Missbrauch von Idealen im Dritten Reich und die Verunsicherung nach 1945 zurückzuführen ist, verdrängte die für uns Deutsche nach 1945 so wichtige Beschäftigung mit der Vergangenheit.

So fielen wir – wie so oft – von einem Extrem ins andere: vom übersteigerten Nationalismus des Dritten Reiches in die Flucht vor der Nation. So verloren wir den für ein Volk unentbehrlichen Patriotismus, der sich zu den Höhen und Tiefen der eigenen Geschichte bekennt. Nur so ist es zu erklären, dass die Widerstandsbewegung gegen Hitler in der Nachkriegszeit nicht den Stellenwert erhielt, der ihr zukam.

Dabei können uns die Ideen und Ziele der Widerstandskämpfer – auch das Attentat als letzter Ausweg – mit Stolz erfüllen. „Wir aber“, sagte ein Widerstandskämpfer kurz vor seiner Hinrichtung, „bereiten den Boden für eine bessere und friedlichere Zukunft, für eine neue Menschlichkeit.“

Der Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur war und ist eine der moralischen Grundlagen unserer heutigen staatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus nur gerecht, wenn wir ihn als Mahnung für unsere heutige Zeit und als Handlungsanweisung für die Zukunft verstehen.

Der Einsatz für Recht und Menschenwürde ist in einer Diktatur Widerstand – in einer freiheitlichen Demokratie dagegen eine von der Verfassung gebotene Pflicht. Der Einsatz für Freiheit und Recht ist in einer Diktatur lebensgefährlich – in einer Demokratie erfordert er nur Überwindung der Trägheit und Bequemlichkeit.

Die Männer und Frauen des 20. Juli überwanden die Angst, mit der Tyrannen ihren Herrschaftsanspruch sichern. Bei den Prozessen vor dem Volksgerichtshof traten die Widerstandskämpfer mit Mut und Gottvertrauen der Gewalt entgegen.

Angst gibt es auch in einem freien Staat. Nicht Angst vor den Regierenden, der Justiz oder einer Geheimpolizei, aber Angst vor der Zukunft, der Technik, der wirtschaftlichen Entwicklung. Unsere Angst und unsere Mutlosigkeit heute, unser Egoismus und Opportunismus, die oft fehlende Zivilcourage, muss uns angesichts der Haltung des Widerstands beschämen.

Bei uns bestehen die Rahmenbedingungen für eine freiheitliche und eine gerechte Ordnung. Wenn diese Ordnung noch nicht überall sichtbar und verwirklicht ist, liegt es an uns.

In der heutigen und zukünftigen Welt ist der Einsatz für Freiheit und Menschenwürde nicht national beschränkt. Es geht um Hilfe für und Solidarität mit den Unterdrückten, Flüchtigen und Verfolgten in aller Welt. Ein vielfältiges Aufgabenfeld liegt vor uns; denn zu Freiheit und Menschenwürde gehört auch soziale Gerechtigkeit. Unsere nationalen und internationalen Verpflichtungen im Interesse hilfsbedürftiger Menschen sind so groß, dass sie nicht der innenpolitischen parteipolitischen Konfrontation, aber auch nicht der Selbstsucht gesellschaftlicher Gruppen zum Opfer fallen dürfen.

Unserer Jugend müssen wir die Chancen, aber auch die Verpflichtungen einer freiheitlichen Existenz verdeutlichen. Flucht aus der Verantwortung oder Resignation ist keine Antwort auf die Probleme der Gegenwart und Zukunft. Es lohnt sich, in unserem Staat zu leben und für eine menschliche Gesellschaft zu arbeiten.

Wir danken den Männern und Frauen des 20. Juli für ihr Vorbild, für ihr Vorbild des Mutes und der Tapferkeit, der Pflichterfüllung, des Dienstes für die Gemeinschaft, der sittlichen und rechtlichen Bindung politischen Handelns. Wir erfüllen ihr Vermächtnis, wenn wir uns täglich an diesem Vorbild orientieren.







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