Wir alle bleiben verantwortlich für das, was in unserem Staat geschah und geschieht.

Wolfgang Lüder

Wir alle bleiben verantwortlich für das, was in unserem Staat geschah und geschieht.

Ansprache des Bürgermeisters von Berlin Wolfgang Lüder am 20. Juli 1979 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir gedenken an diesem Tag des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland. Hierbei gilt das erste Wort den Männern des 20. Juli 1944, die mit ihrem Entschluss den Versuch gewagt hatten, das Haupt der Diktatur in Deutschland zu beseitigen. Die Tat dieser Männer war das erste für alle Welt sichtbare Fanal, dass im damaligen Deutschland der Wille zur Freiheit und der Wille zum Überleben frei von Tyrannei nicht untergegangen war. Ihnen ging es nicht um die Herbeiführung nur eines Gewaltstreichs; sie waren von dem Bewusstsein durchdrungen, den ersten Schritt zu tun, ein neues Deutschland auf ein neues Fundament stellen zu müssen.

Ein zweites Wort gilt den hinterbliebenen Familien, die sich hier versammelt haben, und jenen Angehörigen, die an dieser Feierstunde nicht teilnehmen können. Wir alle haben – auch heute noch – das einfache, menschliche, unpathetische Bedürfnis, Ihnen im Gedenken an diese tapferen Männer, die sie verloren haben, unsere Hochachtung zu bekunden für all das Schwere, das Sie insbesondere bis zum Ende der Nazidiktatur und in der Zeit des Neubeginns haben erleiden und durchstehen müssen. Der 20. Juli ist für uns zugleich ein Tag des Gedenkens an alle, die Widerstand geleistet haben gegen Willkür und Terror, ebenso für alle Unbekannten und ungenannt Gebliebenen.

Was sagt uns der 20. Juli heute noch nach 35 Jahren? Mir wird die Erinnerung an diesen Aufstand aus Gewissensnot zu oft und leicht als Alibi verwandt für die vielen, deren Gewissen im Dritten Reich während der Naziherrschaft Ruhepause hatte; für die vielen, die mitmachten und mitschuldig, zumindest mitverantwortlich waren und bleiben für das, was geschah.

Sicherlich: Über die mutige Tat der Einzelnen, über das verantwortliche Handeln der Gruppe hinaus haben die Männer des 20.Juli ein allgemeines Zeichen des Widerstandes gesetzt. Dieses Zeichen ehrt die, die es setzten. Es entlastet aber nicht die, die auf der anderen Seite standen. Der 20. Juli mahnt auch heute noch, nicht zu vergessen, was damals geschah. Der 20. Juli verpflichtet auch heute, Maßstäbe zu halten und zu setzen für Recht und Gerechtigkeit. Er verpflichtet jeden, wo auch immer er steht, für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie aktiv einzutreten.

Diese Verpflichtung endet nicht an Landes- oder Staatsgrenzen. Sie gilt umfassend und ist permanent aktuell. Nicht erst der mordende Tyrann fordert Widerstand heraus. Nein, der aktive Einsatz für unsere Grundwerte soll solche Situation erst gar nicht entstehen lassen. Darum stehen wir vor der zweifachen Aufgabe: Für Gegenwart und Zukunft müssen wir vorsorgen; die Vergangenheit müssen wir aufarbeiten.

Dazu gehört auch – und dies muss gerade hier in dieser Gedenkstätte gesagt werden, dass wir uns die Frage stellen müssen, wie es möglich war, was hier geschah: Nach Terrorurteilen die bestialische Ermordung der Widerstandskämpfer. Wir dürfen diese Zeit und das Unrecht nicht vergessen. Und niemand von denen, die damals erwachsen waren, darf vergessen, was er tat und wo er stand.

Das Gedenken an den 20. Juli ist auch eine Herausforderung an die jüngeren Politiker unseres Landes, die mit ihrer Generation aus unmittelbarem Erleben nicht mehr in jener Zeit stehen. Und ich richte das Wort allgemein an die Jugend unseres Landes: Lasst uns nicht an der Geschichte unseres Volkes ihrer Schattenseiten wegen vorbeigehen. Nur der, der sich mit dem Schatten auseinandersetzt, hat das Recht, sich am Licht zu freuen.

Wir alle bleiben verantwortlich für das, was in unserem Staat geschah und geschieht.

Vor 35 Jahren mussten jene wenigen, die für das Ganze verantwortlich handelten, bitter für ihre Verantwortung büßen. Sie haben aber mit die moralische Grundlage für die Existenz des neuen Deutschland gelegt. Kein Land, kein Volk kann auf die Dauer ohne ein gegründetes Selbstbewusstsein leben. Wir wissen, dass Schreckliches im deutschen Namen in der Welt geschah. Und es gibt keine Entschuldigung. Wir wissen aber auch, dass viele für eine freiheitliche Ordnung in unseren Land und für den Frieden in der Welt gearbeitet haben. Dies hat uns wieder das Recht gegeben, unserer eigenen Geschichte ins Angesicht zu sehen.

Ich stelle dies nur fest und kann für mich sagen – und ich hoffe, für uns alle –: Diese Zeit darf allein schon um der Opfer des Widerstandes willen nicht in Vergessenheit geraten. Wir haben gelernt, Dinge neu zu gestalten, und es ist keiner unter uns, der sich dieser Verpflichtung, neu zu lernen und mitzuwirken, auch nur für einen Augenblick entziehen könnte.

Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, eine satte Wohlstandsgesellschaft zu sein. Freiheit und Recht sind aber nicht nur angenehme Zugaben zum materiellen Wohlstand. Freiheit und Recht sind die Garantien unseres Staates. Deshalb lohnt es sich, in diesem Staat Solidarität zu üben, auch dann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung materielle Opfer vom Einzelnen fordert.

Wir in Berlin wissen, dass diese Grundwerte keineswegs selbstverständlich sind. Deshalb wäre es verhängnisvoll, wenn sich das kritische Engagement für die politische Entwicklung unseres Staates nach der jeweiligen Erfüllung der Wohlstandserwartungen seiner Bürger richten würde. Der Staat ist mehr als nur eine Versorgungsanstalt. Das Verhältnis zum Staat kann nicht vom Höchstmaß der eigenen materiellen Wohlfahrt abhängig gemacht werden. Das sollte jeden davon abhalten, um materieller Vorteile willen die Grundprinzipien unseres Gemeinwesens in Frage zu stellen.

Seit vielen Jahren wird der Opfer des 20. Juli und des Widerstandes gedacht, und wenn man sich einmal richtig umhört, dann ist doch vielen die Lohntüte näher als die Geschichte. Aber wofür haben denn die Widerstandskämpfer ihr Leben aufs Spiel gesetzt: Es waren die heute vom Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte, ohne die sich auch im materiellen Wohlstand nicht leben lässt.

Wir gedenken der Opfer des 20. Juli 1944 und der Opfer auch ihrer Familien und Freunde, wenn wir daraus die Lehre ziehen: Der sicherste Weg, den Feinden der Demokratie zu begegnen, ist der solidarische Widerstand aller Demokraten, das unbeirrbare Festhalten an den Grundsätzen der Freiheit und des Rechts. In unserer liberalen Verfassung, die auf eine verpflichtende weltanschauliche Richtung bewusst verzichtet, ist der Austausch von Argumenten, und seien sie noch so unbequem, zum Prüfstand unseres freiheitlichen Staates geworden. Deshalb werden wir uns davor hüten müssen, unbequeme Staatsbürger in einen Topf mit jenen zu werfen, die die freiheitlich rechtliche Grundordnung ablehnen. Toleranz ist nicht bequem, aber lebensnotwendig. Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden ist nötig, wollen wir auch seine Freiheit und sein Recht wahren.

An der Hinrichtungsstätte der Widerstandskämpfer gegen Unfreiheit, Unrecht und Intoleranz sage ich: Wir müssen uns der Werte Freiheit, Recht, Demokratie und Toleranz verpflichtend bewusst bleiben. Das sind wir allen denen schuldig, die am 20. Juli 1944 und während der Zeit von 1933 bis 1945 für ihr konsequentes Eintreten für diese Grundwerte ermordet worden sind.







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20.07.1979
P. Odilo Braun OP
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