"Der Herr ist mein Hirte."

Hans-Georg Lachmund

„Der Herr ist mein Hirte.“

Predigt von Pater Hans-Georg Lachmund am 20. Juli 1997 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: Jer. 23,1-6 Psalm 23 Mk 6,30-34

Verehrte, liebe Mitchristen, die wir an diesem grauenvollen Ort zu Gebet und Heiligem Mahl versammelt sind!

Biblische Texte des Alten und des Neuen Bundes haben wir eben gehört; in bildhafter Rede wird da von Hirten gesprochen: „Der Herr ist mein Hirte“ – „Wehe den Hirten, die ihre Herde zugrunde richten“ – „Jesus hatte Mitleid mit den Menschen; sie waren wie Schafe ohne Hirt.“

Wenn wir heute bei unserem Gottesdienst an diesem schrecklichen Ort unter dem Galgen gerade diese Texte lesen, so ist das nicht krampfhafter Versuch, originell zu sein. Diese Lesungen sind uns heute vielmehr durch die Leseordnung der katholischen Liturgie vorgegeben. Ich meine aber, sie können dabei helfen, tiefer zu bedenken, was wir an diesem 53. Jahrestag des missglückten Befreiungsversuchs von der Hitlerdiktatur hier miteinander tun: Wir bringen zum Ausdruck, dass wir das Andenken jener Männer und Frauen ehren, die ihr Leben riskierten, weil sie nicht länger bereit waren, das verbrecherische Unrecht hinzunehmen, das im Namen der Deutschen in Europa verübt wurde. Henning von Tresckow hatte das in den Satz gefasst, es komme jetzt darauf an, „dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.“

Das biblische Bild vom Hirten assoziiert die Bereitschaft, gerade in extrem gefährlicher Situation Einsatz zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen; bereit zu sein, sich zu exponieren selbst auf die Gefahr hin, plötzlich sehr allein dazustehen. Das will doch die Bildrede vom Hirten sagen; sie will das aufzeigen, was am Rand der Wüste von einem guten Hirten erwartet wurde: dass er unter Einsatz des eigenen Lebens Wölfe abwehrt, die nur das eine Ziel kennen: reißen, zerstören, vernichten – das heißt: Menschlichkeit verderben, fremdes Leben verwüsten, Menschenrecht unter dem Stiefel zermalmen.

An diesem Ort scheint es unmöglich, aus der sicheren Warte des Besuchers heraus vom Mut derer zu sprechen, die ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt haben. Sie wurden ermordet unter äußeren Umständen, die sich nur eine pervertierte Phantasie von Fanatikern ausdenken konnte, denen der letzte Funken an Humanität in ideologischem Fanatismus ertränkt worden war. Dennoch meine ich, an diesem Tag muss an einem solchen Ort auch von einem Prediger davon gesprochen werden, selbst auf die Gefahr hin, dass Worte hohl klingen.

Ihr Andenken wach halten, das heißt auch, daran erinnern, dass jede und jeder von ihnen einen ganz einmaligen Weg persönlicher Entscheidung vor dem Gewissen gehen musste; und keinem von ihnen blieb die Erfahrung erspart: in solcher Entscheidung vor Gott stehen, das macht furchtbar einsam, trotz des Rückhalts, den verständnisvolle Angehörige vielleicht geben konnten. Die letzte Entscheidung konnte niemand abnehmen.

Damit ein „Hirte“ zu seiner Verantwortung stehen kann, benötigt er außer persönlichem Mut auch Wachsamkeit; die schließt auch die Fähigkeit ein, jene Geister zu unterscheiden, die das Gesicht der jeweiligen Zeit prägen. Auf sehr unterschiedlich langen Wegen mussten sich die Frauen und Männer des Widerstandes jene Fähigkeit der Geister-Unterscheidung aneignen.

Es ist wohl die wichtigste Botschaft, die sie uns bis auf den heutigen Tag als lastenden Auftrag hinterlassen haben: Seid wachsam – erkennt die Wölfe im Schafspelz! – Lauft ihnen nicht nach! Sorgt vielmehr dafür, dass sie nicht erneut Schaden anrichten, indem sie Mitläufer sammeln und das Volk ins Verderben führen! Eine Mahnung, die zwar oft beschworen, aber viel zu selten beachtet wird; auch in den Kirchen. Da ist es schon ein Glücksfall, wenn einmal davon berichtet werden kann, dass Menschen auch wachsam sind, damit die Rechte von Schwachen nicht ganz zertreten werden. Vorgestern konnten Nachrichtenagenturen ein derart positives Beispiel melden: In Dinslaken / Westfahlen hatten Ordensfrauen es verhindert, dass eine Flüchtlingsfamilie, der man Kirchenasyl gewährt hatte, in einer Nacht- und Nebelaktion morgens um 5 Uhr abgeschleppt wurde.

Verehrte Anwesende,

unvergessen bleibt, wie uns Prof. Bethge hier vor 3 Jahren in seiner Predigt das Lebens- und Blutzeugnis der Menschen aus dem Widerstand gedeutet hat. Ich denke an die ehrfürchtige Scheu, mit der er von dem stärksten Merkmal des Blutzeugnisses sprach: vom Maß des Zeugnisses, das „um Christi willen“ gesetzt ist. So schnell verliere es seine Kraft, wenn versucht werde, es eilfertig aus sich selbst heraus zu deuten. Es sei wichtiger gewesen, so zitierte Eberhard Bethge damals Dietrich Bonhoeffer, wenn da immer wieder gesprochen wurde von der Solidarisierung „mit den wehrlosesten und schwächsten Brüdern Christi“.

Heute geht kaum einer ein besonderes Risiko ein, wenn er seine Stimme den Ausgegrenzten gibt, den Schwachen und Wehrlosen, wenn er sich so an die Seite des Jesus von Nazareth stellt, der selber ausgegrenzt wurde. Dem Vermächtnis jener, deren Andenken wir heute hier ehren, entsprechen wir dadurch am besten, dass wir es wenigstens versuchen, den Ausgegrenzten unserer Tage Solidarität zu erweisen.

Amen.







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Prof. Dr. Rupert Scholz