Die aktuelle Bedeutung des Widerstandes für unsere freie Gesellschaft

Edzard Schmidt-Jortzig

Die aktuelle Bedeutung des Widerstandes für unsere freie Gesellschaft

Ansprache des Bundesministers der Justiz Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig am 20. Juli 1997 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Sehr geehrte Familienangehörige der Opfer vom 20. Juli 1944,

verehrter Herr Professor Eberhard Bethge,

Frau Kollegin Peschel-Gutzeit,

sehr geehrter Herr Kollege Scholz,

meine Damen und Herren!

Im Namen der Bundesregierung darf ich Sie zu dieser Feierstunde aus Anlass des Gedenkens an den 20. Juli 1944 sehr herzlich begrüßen.

Hier in Plötzensee wurden vor 53 Jahren auf brutale Weise jene Männer ermordet, die Deutschland in letzter Stunde aus der leidvollen Umklammerung eines Unrechtsregimes befreien wollten.

Seitdem steht dieser Ort sinnbildlich für die gesamte Menschenverachtung, Unbarmherzigkeit und perfide Grausamkeit der nationalsozialistischen Herrschaft.

Plötzensee steht aber zugleich auch für den großen Mut, die Entschlossenheit und die Opferbereitschaft der Widerstandskämpfer.

Es ist eine unserer vornehmsten Pflichten, die Erinnerung an diese Männer wach zu halten.

Und das nicht nur, weil die Erinnerung eine wesentliche Voraussetzung für die Reflexion der nationalsozialistischen Herrschaft ist und zugleich die Mahnung enthält, aus der Geschichte zu lernen und ihre Wiederholung zu verhindern.

Diese Verpflichtung haben wir Deutsche ohnehin. Nein, wir müssen die Erinnerung an die Männer des 20. Juli 1944 aufrechterhalten, weil wir gerade ihnen viel verdanken:

So bedeutet der 20. Juli 1944 als Höhepunkt des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ein Stück Ehrenrettung für Deutschland.

Nicht alle Deutsche waren in gschaftlhuberischer Blindheit, persönlicher Schwäche, Mitläufertum oder gar in Verstrickung befangen. Es gab – im Übrigen auch jenseits des 20. Juli – Menschen, die sich erfolgreich gegen das Versinken im braunen Einerlei sowie amoralischen Sumpf gewehrt haben.

Ihnen allen ist zu verdanken, dass Deutschland nie gänzlich und unterschiedslos mit dem NS-Regime gleichgesetzt werden kann.

Das eigentliche Vermächtnis des 20. Juli 1944, für das wir den Beteiligten jener Tage zu großem Dank verpflichtet sind, liegt für mich allerdings in der Aufforderung zu einem verantwortlicheren Leben, das von Wachheit, Gewissen und geistiger Kraft getragen ist.

Denn besonders die erwiesen sich gegen die Verführung durch den Nationalsozialismus immun, die aus einer gefestigten Persönlichkeit heraus handelten.

Diese feste Mitte, dieser unveränderliche Kern an Humanität und christlicher Gläubigkeit war für sie ein unbeirrbarer Kompass.

Insoweit war auch der Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944 ein Aufstand des Gewissens, und genau darauf beruht seine Legitimität.

Die Beteiligten hatten die Vorstellung abgeschüttelt, dass sie auf Gedeih und Verderb den staatlich verschriebenen Normen unterworfen seien.

Sie erkannten, dass es jenseits des gesetzten Rechts ein überpositives vorstaatliches Recht gibt, und dass ein Gesetzgeber, der dieses vorstaatliche Recht verletzt, den Anspruch auf Gehorsam verloren hat.

Die Autoren unseres Grundgesetzes haben aus dieser Überzeugung heraus die staatliche Macht auf Gesetz und Recht verpflichtet.

Und eine Ausfüllung dieses Rechts-Begriffes kann heute etwa in der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen gefunden werden.

Jeder einzelne Bürger kann und muss letztlich in solchem Rechtsanspruch den Bezugspunkt für sein eigenes Handeln finden.

Das ist die zentrale verfassungsrechtliche Lehre, die Deutschland aus seiner Zeit unter dem Nationalsozialismus gezogen hat.

Und diese Lehre verdankt es den Männer und Frauen des Widerstandes.

Natürlich wird uns in der freiheitlichen Demokratie, in der wir heute leben, kaum noch die Zivilcourage und jene Konsequenz bis zum Letzten abverlangt, welche die Männer des 20. Juli auszeichnete.

Und gerade die Nachkriegsgenerationen können sicher nicht immer ermessen, wie schwer es gewesen sein muss, sich der nationalsozialistischen Gemeinschaftsstimmung, dem Konformitätsdruck und der allgegenwärtigen Kontrolle zu entziehen.

Aber die Anforderungen an ein verantwortliches, werteorientiertes Leben gelten heute wie damals: Die zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, die Ausschreitungen gegen ausländische Mitbürger und seit neuestem auch gegen christliche Kirchen lassen daran keinen Zweifel.

Ich meine deshalb, dass es für uns heute ein vorrangiges Anliegen sein muss, insbesondere bei der Erziehung der Nachwachsenden auf die Bildung eines eigenen Charakters und auf die Vermittlung fester Wertvorstellungen sowie einer konstruktiven Kritikfähigkeit hinzuwirken.

Eltern, Lehrer, Politik und Kirche haben diesen dauernden Auftrag und sollten ihn gemeinschaftlich und mit hohem Verantwortungsbewusstsein erfüllen – auch übrigens durch ein unverzagtes Eintreten für Gerechtigkeit selbst da, wo es den politischen Mehrheiten entgegensteht.

Darin, meine Damen und Herren, sehe ich die aktuelle Bedeutung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus für unsere freie Gesellschaft, darin liegt für mich das Vermächtnis des 20. Juli 1944, und ich meine, wir dürfen keine Anstrengung scheuen, uns seiner würdig zu erweisen.

Ich danke Ihnen.







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