Vermächtnis und Auftrag für ein freiheitliches, friedliches Zusammenleben

Lore Maria Peschel-Gutzeit

Vermächtnis und Auftrag für ein freiheitliches, friedliches Zusammenleben

Ansprache der Senatorin für Justiz des Landes Berlin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit am 20. Juli 1997 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrter Herr Professor Scholz, sehr geehrte Damen und Herren,

wir ehren heute jene Männer und Frauen, die vor 53 Jahren wagten, sich gegen Unrecht und Diktatur, Massenmord und Tyrannei zu erheben und dafür zumeist starben, ja in Kerkern, Konzentrationslagern oder anonymen Hinrichtungsstellen erschossen oder erhängt wurden.

Der Einsatz dieser Menschen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Auch wenn ihre Tat den Lauf der Dinge scheinbar nicht zu beeinflussen vermochte, hat sie das Urteil über das Dritte Reich verändert, weil sie bewies, dass es in jenen dunklen Jahren die Menschen gab, die die Würde des Menschen über den Staat stellten und die dem Recht zum Sieg über die Willkür verhelfen wollten.

Auch wenn die Opposition keineswegs einheitlich war – es handelte sich ja eben nicht um eine feste, geschlossene Führungsschicht, die sich zu behaupten versuchte, sondern um eine Ansammlung höchst ungleichartiger, nach Herkunft, Denkweise, politischer Richtung und Methode vielfach voneinander geschiedener Gruppen und Persönlichkeiten – so verband sie doch eines: Sie alle – ob Offiziere oder Gewerkschafter, Studenten oder Geistliche, Adelige oder Bürgerliche – sie alle sahen in Hitler „einen großen Vollstrecker des Bösen“, wie es Hans-Bernhard von Haeften formulierte. Dieser Vollstrecker musste um der Würde des Menschen wie des Landes willen gestoppt werden, weil man das, was in Deutschland geschah, nicht mehr mit dem Gewissen vereinbaren konnte.

Helmuth von Moltke schrieb im Oktober 1944 aus seiner Zelle: „ich habe mein ganzes Leben, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und des Absoluten, des erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werde.“ Genau das, was Moltke hier ausdrückt, teilten viele Gegner des Regimes.

Freilich waren es nur wenige, die wagten, gegen Hitlers Regiment aufzustehen. Doch die, die sich hervortaten, gehörten zweifelsohne zu den Besten. Wir verneigen uns vor Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, General Friedrich Olbricht, Generaloberst Ludwig Beck, Helmuth James Graf von Moltke, Fritz Dietlof Graf von der SchuIenburg, Adam von Trott zu Solz, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, CarI Friedrich Goerdeler, Julius Leber, WiIhelm Leuschner, Josef Wirmer, um nur einige Namen zu nennen.

Wir vergessen auch nicht diejenigen, die vorher ihr Leben ließen, wie die Geschwister Scholl oder Johann Georg Elser. Und natürlich bewahren wir auch Bernhard Lichtenberg und die Mitglieder der Roten Kapelle im Gedächtnis. Es war eine sittliche Handlung an sich, den größten Verbrecher der deutschen Geschichte beseitigen zu wollen.

Wir vergessen auch die stillen Helden dieses Tages nicht, die durch mutiges Handeln den Opfern des unmenschlichen Systems zur Seite traten und zu den Familien derjenigen hielten, die nach dem 20. Juli verfemt und verfolgt wurden. All denen, die ihrem Gewissen gehorchten, gilt unsere Hochachtung.

In erster Linie erinnern wir uns heute jedoch derer, die direkt mit dem 20. Juli verbunden sind. Ihr Mut, ihre Tat soll uns Vermächtnis sein; Vermächtnis und Auftrag, das zu erhalten, was für ein freiheitliches, friedliches Zusammenleben unabdingbar ist: nämlich die Demokratie; das einzige System, das auf Dauer die Würde des Menschen zu schützen vermag. Das bedeutet auch, höchst wachsam zu sein gegen wiedererstehende politische Extreme, die erneut den von Moltke beschworenen Geist der Enge und Gewalt, der Überheblichkeit, des Nationalismus im Exzess und der Menschenverfolgung ausrufen und befolgen. Hier gilt ebenso wie vor mehr als 50 Jahren: Die Augen verschließen heißt, sich mitschuldig zu machen. Und noch eine andere Aufgabe harrt ihrer Erfüllung: Viele der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 und der sie umgebenden Persönlichkeiten wurden durch eine unmenschliche, nur scheinbar rechtsstaatliche nationalsozialistische Justiz verfolgt und verurteilt. Eine große Zahl dieser Urteile ist bis heute formell gültig und wirksam. Berlin hat es daher vor einem Jahr unternommen, diesen Zustand, der historisch und politisch unerträglich ist, endlich zu beseitigen. Initiativen Berlins für ein Schlussgesetz, gerichtet an den Bundestag und die Bundesregierung, haben Zustimmung gefunden. Derzeit wird ein entsprechendes Bundesgesetz entworfen. Der Senat von Berlin erwartet, dass diese Arbeiten zügig und erfolgreich zu Ende geführt werden, damit alle diejenigen, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 verurteilt wurden, endlich auch formell von Gesetzes wegen rehabilitiert werden.

Wir danken den Frauen und Männern des 20. Juli 1944 und werden sie nie vergessen.







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