Die Bundeswehr hat die Männer des 20. Juli in ihre Tradition aufgenommen.

Karl-Günther von Hase

Die Bundeswehr hat die Männer des 20. Juli in ihre Tradition aufgenommen.

Ansprache des Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung Karl-Günther von Hase am 20. Juli 1969 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin

An diesem Tage der Erinnerung an dieser Stätte zu reden, fällt mir nicht leicht. Mit großer, innerer Bewegung gedenkt die Bundeswehr, für die ich spreche, der 25. Wiederkehr des 20. Juli. Aber nicht Klage über den tapferen Tod aufrechter Männer vereinigt uns heute hier. Wir wollen bewahren und nutzbar machen, was sie uns in Tat und Wort gegeben haben. Wir wollen zu ihren Angehörigen stehen.

25 Jahre sind eine kurze Zeit im geschichtlichen Maßstab; sie sind eine lange Zeit, wenn man sie am Wirken einer Generation misst. In Staat und Gesellschaft rücken junge Kräfte in die Verantwortung ein, denen der 20. Juli 1944 allein ein historisches Datum und nicht mehr ein Datum der Erinnerung an Freunde und Kameraden ist.

Der 20. Juli ist ohne Beispiel in unserer Geschichte. Die Reihe derer, die unter Einsatz ihrer soldatischen Existenz, ja ihres Lebens, gegen die Obrigkeit aufbegehrten, ist lang auch in unserer eigenen nationalen Überlieferung. Aber die Konflikte der Schulenburg, Ziethen, Marwitz oder Yorck – so tief gefühlt und ehrenvoll sie waren – sind vom 20. Juli durch eine Hölle von Not, Hader und Verzweiflung getrennt, die die Verschwörer durchschreiten mussten. Keiner von ihnen hatte ja sagen müssen zur Niederlage des eigenen Volkes, damit das Recht seine Majestät, das Leben seinen Sinn behalten sollte. Der deutsche Widerstand gibt ein Beispiel dafür, wie Unruhe aus dem Willen wächst, staatliche und gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem Sittengesetz in Einklang zu bringen. Darum ging es den Männern, an die wir heute denken. Erste Aufgabe, heißt es beim Entwurf ihrer Regierungserklärung, ist die Wiederherstellung der vollkommenen Macht des Rechts und der Grundlagen der Sittlichkeit. Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung sollte wieder errichtet werden.

Jungen Menschen von heute fällt es schwer, sich die Ausnahmesituation von damals vorzustellen. Was hat ihnen, den Bürgern eines Rechtsstaates, eine Tat zu sagen, die unter völlig anderen Voraussetzungen stand? Wir Älteren kennen noch die Umstände, aus denen heraus die Verschwörer handelten. Die Verhältnisse waren nicht so, dass es nur eines Anstoßes bedurft hätte, um das ganze Volk in Bewegung zu bringen. Im Nachhinein stellt sich leicht die Frage, warum es so wenige waren und was die anderen denn gedacht und getan hätten. Im Entwurf der Regierungserklärung findet sich kein Vorwurf gegen diejenigen, die nach ihrem besten Wissen glaubten, ihrem Vaterland an ihrem Platz treu, opferbereit und rechtschaffen zu dienen. Über die Scheidung der Geister steht dort der noble Satz: „Die einzige Scheidung, die zu vollziehen ist, liegt zwischen Verbrechen und Gewissenlosigkeit auf der einen und Anstand und Sauberkeit auf der anderen Seite.“ In diesem Satz fehlt jeder Anspruch der Verschwörer auf den Alleinbesitz der Tugend und der Wahrheit. Den gibt es auch nicht. Wenn die Bundeswehr ehrenvoll der Männer des 20. Juli gedenkt und sie in die Reihe der besten Soldaten unseres Volkes stellt, so bekennt sie sich in gleicher ehrender Weise zu der opfervollen Pflichterfüllung aller Soldaten der Wehrmacht, die gehorsam, treu und tapfer ihr Bestes, so wie sie es nur verstehen konnten, gegeben haben. Nicht im Gegensatz zur Feldarmee, deren Kraft und Denken der Kampf band, sondern an ihrer Stelle und zu ihrer Ehre ist die Tat des 20. Juli unternommen worden.

Die Bundeswehr hat die Männer des 20. Juli in ihre Tradition aufgenommen. Manchem erscheint das noch heute außergewöhnlich. Aber man kann dem Ereignis nicht gerecht werden, indem man Maßstäbe anlegt, die für Streitkräfte in einer staatlichen Ordnung wie der unseren gelten, welche auf unveräußerlichen Grundrechten des Menschen aufgebaut ist. Treue und Gehorsam sind Begriffe, die nicht in sich selbst ihren Wert haben. Sie werden schon missbraucht, wenn sie einer bestimmten Ideologie zugeordnet werden.

Der Soldat der Bundeswehr kann seinen Vorgesetzten Gehorsam leisten und seinem Staat die Treue halten, weil unsere staatliche Ordnung auf das Sittengesetz gegründet ist, weil in seiner Ordnung Rechte der Obrigkeit und des Bürgers an den unveräußerlichen Menschenrechten gemessen werden.

Wer die Jahre der Verirrung nicht erlebt hat, wie unsere Jugend, mag über dieses Fundament unseres Grundgesetzes als eine Selbstverständlichkeit hinweggehen. Er mag sogar zu dem Trugschluss kommen, mit der Verankerung der unveräußerlichen Menschenrechte in der Verfassung als unmittelbar geltendes Recht sei alles getan, und die Verpflichtung des Soldaten zur Treue verlange nur ein Lippenbekenntnis. Der 20. Juli 1944 widerlegt das. Die Männer, die hier handelten, haben es sich sehr schwer mit ihrem Eid gemacht. Sie sahen sich von ihrem Eidnehmer in der Verpflichtung vor dem Sittengesetz allein gelassen. Sie sahen nur das Attentat als Möglichkeit, um wieder die Voraussetzung für – wie Stauffenberg rief – das heilige Deutschland zu schaffen. Sie empfanden das Außerordentliche ihres Tuns. Sie sahen, dass in ihrer Situation ihr Leben der Preis sein konnte.

In der Treue zu unserem Staat ist die Verpflichtung eingeschlossen, immer wieder aufs Neue in einem ständigen Prozess unter sich wandelnden Voraussetzungen die sittlichen Werte wirken zu lassen, die Grundlage jeder freiheitlichen menschlichen Gemeinschaft – und damit auch des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt – sind. Welch eine große Aufgabe ist das für eine Jugend, die in die Verantwortung für unseren Staat hineinwächst. Mit rhetorischen Loyalitätsbekundungen ist das allerdings nicht getan. Beck-, Stauffenberg-, Rommel- und Julius-Leber-Kasernen genügen nicht, wenn die Soldaten nicht bereit sind, ihren Standort in Staat und Gesellschaft im Geiste dieser Männer sichtbar zu machen.

Unterbliebe dieser innere Einsatz, liefen wir Gefahr, den falschen Gebrauch von diesem Tage zu machen. Es steht dahin, ob die Männer des Widerstandes über gewisse Erscheinungen unseres gegenwärtigen politischen Alltags sehr glücklich gewesen wären. Das ändert nichts daran, dass sich ihre Empörung allein gegen den beispiellosen Abfall von allem richtete, was uns an christlichen, moralischen und soldatischen Wertmaßstäben überliefert war. Der Aufstand war ihnen nur in einer Ausnahmesituation möglich. Einem Staat, der Rechtssicherheit und Menschenwürde garantierte, würden sie die Gefolgschaft nicht aufgesagt haben. Ungehorsam allein war ihnen noch keine Tugend, Gehorsam auch in der Anfechtung noch kein Makel. Eine aus Missbehagen und bindungsloser Unlust geborene Verneinung von Pflicht und Gehorsam schlechthin, wie wir sie heute hier und da antreffen, kann sich auf ihr Beispiel nicht berufen. Nicht der politische Dissens, sondern die Unvereinbarkeit des Dienstes mit der Verpflichtung des Menschen gegenüber Gott trieb sie zum Aufstand. Daran muss man denken, wenn von der „Unruhe des Gewissens“ gesprochen wird. Das Gewissen war für die deutsche Opposition noch mit dem verbunden, was die Bibel „Heimsuchung“ nennt. Seine in unseren Tagen gelegentlich zu beobachtende Entwertung und die Verpflichtung des Soldaten zum Alibi im politischen Meinungskampf bedeutet einen tiefen Sturz gegenüber dem Geist der Männer, die das Gewissen als Folter erfuhren. Dass wir dem Gewissen wieder einen Platz in der Rangordnung menschlicher Werte schaffen, auf dem es vor Missbrauch bewahrt ist, das ist der Auftrag des 20. Juli 1944.

In diesem Sinne verneigt sich die Bundeswehr, heute hier vertreten durch vier junge Offiziere, in Dankbarkeit vor den Männern, die aufrecht und tapfer, unter Einsatz und Hingabe ihres Lebens, den Weg der Rückkehr zu einem unabänderlichen Sittengesetz beschritten und damit dazu beigetragen haben, Deutschland wieder eine Zukunft zu sichern.






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